Weltenzerstörer
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06.11.2020, 05:10 PM
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 19.01.2021, 03:23 AM von Feuerfrosch.)
XVII - Am Strome
15.03.1352
Am Strome – eine Stadt der Industrie, die von und wegen der Prage lebt. Besonders der Ritt in die Stadt hinab bot einen tiefen Einblick in dieses Zentrum der Schornsteine, Werkhöfe und Handwerksstätten. Die geziegelten Schlote spuckten unablässig einen dunklen Nebel in den Himmel, der sich über der Stadt zu sammeln schien. Selbst der Schnee am Wegesrand war trübselig grau verfärbt, als wäre der Ruß wieder auf die Stadt niedergerieselt. Die beiden großen Stadtteile lagen entlanggestreckt an den Ufern des Großen Stromes, verbunden durch mehrere hochgebaute Brücken.
Bekannt wurde die Stadt jedoch vor allem durch eine dieser Brücken. Manch ein Geschichtskundler bezeichnet sie schließlich auch als die Brücke schlechthin. Ein Koloss von Steinbau, der in einem seichten Bogen quer über den darunterliegenden Fluss führt. An beiden Brückenkopfen wurden schwer bewachte Festungen errichtet. Betreten darf sie nur, wer in die beiden palastartigen Hofanlagen eingeladen wurde. Aber wer erhält schon einmal die Gelegenheit den Herzog von Velhard höchstpersönlich zu begegnen? Wohl kaum jemand; denn wie ich erfuhr zog er es vor hier, zurückgezogen unter dem Schleier der Hochöfen zu leben. Seine eigentliche Hauptstadt Feywell sei schließlich ein zurückgebliebenes Loch. Am Strome hingegen würde ein Pferdezug der Wirtschaft sein und die wahre Einnahmequelle Velhards. Ich wusste nicht recht, was ich mit diesen Informationen anfangen sollte. Aber die Bewohner der Stadt waren sich allesamt sicher, dass sie im Vergleich mit Feywell stets gewinnen würden. Ich blieb froh, dass ich mich für keine dieser seelenlosen Orte der Arbeitsknechtschaft entscheiden musste.
Auf Yukis Rücken näherte ich mich den Wachhäuschen am Stadtrand. Torhäuser, geschweige denn eine Mauer, gab es schließlich nicht. Hier konnte jeder kommen und gehen, wie er wollte. Besonders in der Nacht verkam die Stadt so zu einem Zentrum für Schmuggler, Schwarzbrenner und Kleinkriminelle. Aber alles seiner Reihe nach.
Entlang der grauen Gassen, vorbei an ratternden Metallgetrieben und schuftenden Arbeitern, führte mich mein Weg ins Herz der Stadt. Die Einwohner der Stadt vermittelten allerlei Eindrücke auf mich, nur niemals einen Fröhlichen oder Zufriedenen. "Wer sein Leben nur der Arbeit gibt, wird des Glückes niemals fündig". So oder so ähnlich sagte man zumindest immer in meiner Heimat. Oftmals um der Arbeit zu entgehen, aber sicher auch, um solche Zustände zu verhindern.
Auf dem zentralen Marktplatz fand ich neben gewohntem bunten Leben auch einige Zeitungsverkäufer. Mit einer kleinen Spende von wenigen Silberlingen konnten sie mir genaustens den Weg zur Baustelle der neuen Druckerei weisen. Litwers neuestes Projekt war schließlich kein Geheimnis; genau genommen war es in aller Munde. Was hatte er hier nur vor? Warum hier eine eigene neue Druckerei eröffnen? Ich würde es bald erfahren.
Doch zuvor sattelte ich von Yuki ab, griff mir seine Zügel und führte ihn zu Fuß durch den Strome. Auf den vollen Straßen bot es sich zwar an, einen guten Ausblick vom Rücken meines Pferdes zu haben, andererseits wollte ich ihn jedoch im Fall der Fälle beruhigen können. Ohne abgeschmissen zu werden. Ratternde Karren preschten links und rechts an uns vorbei. Botenjungen hingen sich an die rückseitig angebrachten Stangen, nur um einige Meter weiter wieder galant abzuspringen. Das Hämmern und Rattern von Maschinen tönte über die lauten Straßen. Die Kulisse war sogar so laut, dass das Schreien der Arbeiter im Rausch dröhnender Öfen und Schlaghämmer vollends unterging. Ich musste tief schlucken. So sehr ich belebte Plätze auch versuche zu meiden, hier hatte ich schlichtweg keine andere Wahl. Ich fühlte tief mit Yuki, und jedem seiner Artgenossen. Diese Lautstärke, diese Eindrücke und dieses Gewimmel müssen purer Horror für ihn gewesen sein.
Ich zog seinen Kopf enger zu mir. Meine rechte Hand hielt ich ständig an seiner mir abgewandten Kopfseite. Ich hatte das Bedürfnis ihm meine Nähe zu signalisieren, wenigstens etwas Geborgenheit zu bieten. Dennoch, inmitten des unverständlichen Treibens mit all seinem Krachen und Knirschen, kam ich mir selbst wie ein kleiner Folterknecht vor. Nur wegen meines Streitrosses legte ich einen Gang zu. Geschwinden Schrittes versuchte ich mir meinen eigenen Weg durch die gefüllten Wege zu bahnen. Einigen schnitt ich den Weg ab, einmal unterschätzte ein Lieferjunge die Standfestigkeit meiner Schulterplatte. Mit ziemlicher Wucht knallte sein Kopf gegen meine metallene Rüstung. Ein lautes, hohles Geräusch verklang beim Aufprall. Bevor ich überhaupt realisierte, was gerade passiert war, lief er jedoch kommentarlos weiter. Ich hoffe, dass es nicht allzu sehr schmerzte.
Wirklich bedrückend blieben nur die Zelte und Lager der Obdachlosen an der Rückseite der Hochöfen. Ein ständiger Luftschlag der Blasebälge feuerte immer wieder heiße Luft durch die abgeranzten Lager im Dreck. Niemand beachtete sie, niemand kümmerte sich um sie. Und im unbarmherzigen Winter konnten sie die Nacht nur an den Resten der glimmenden Kohlenhaufen verbringen. Wenn sie denn nicht erfrieren wollten. Es gab hier keine Orden, keine größere Niederlassung der Silvanischen Kirche. Es wirkte fast, als hätte man diese Stadt vergessen. Oder ganz bewusst ausgelassen. Warum mindern wir dieses Leid nicht? Geben ihnen Obdach und Essen? Ich vermochte es nicht zu sagen.
Möge Katharina ihnen ein Heim und einen gedeckten Tisch bieten.
Ich wäre jedenfalls auch hier nicht die Person, die diese armen Seelen aus ihrer Misére rettet. Wie auch?
Erst nach einer guten halben Stunde war ich in den äußeren Bezirken angelangt. Das dichte Gedränge hatte ein schnelleres Vorankommen verhindert. Vielleicht war es auch besser so, denn in den neben mir liegenden Lagerhäusern und Schuppen wurden sicher keine redlichen Geschäftsmodelle praktiziert. Ich spürte die angespannte Stimmung sogleich, als hätte ich eine imaginäre Linie überschritten. Es war ein Ort, an dem ich nicht sein sollte. An dem Leute, wie ich nicht sein sollten. Ein Viertel, dass seinen eigenen Herren überlassen wurde. Keine Wachen weit und breit, dafür allerlei mürrisch dreinblickende Kerle. Es sollte nicht lange dauern bis sich zwei von ihnen stets mit einigem Abstand hinter mir befanden.
Ich machte mich auf eine Konfrontation bereit. Sie würden mich sicher aus ihrer illustren Gesellschaft verbannen wollen, aber ich musste hierher kommen. Meinen Blick ließ ich starr nach vorn gerichtet. In meinen Augenwinkeln versuchte ich dennoch die Straßenseiten im Blick zu behalten. Das eben noch so laute Schlagen und Trommeln der Handwerker wurde leiser und weniger intensiv. Fast, als ob es die Spannung steigen ließe. Bei mir funktionierte es leider. Meine Zähne bohrten sich langsam in meine Unterlippe, meine rechte Faust war geballt.
Die Schritte hinter mir wurden dafür lauter, kamen immer näher. Ein wenig Gemurmel, dann ein dumpfer Schlag in einiger Entfernung. Mein Herz begann immer schneller zu schlagen, als ich sie erblickte und nicht mehr an mir halten konnte. "Da ist sie ja!" rutschte mir im Eifer des Gefechts heraus. Meine Verfolger blieben offensichtlich verwirrt stehen. Und ich? Ich schaute begeistert auf das schief im Boden steckende Schild mit der Aufschrift: " Maschinendruckerei Litwer".
Das alte Speichergebäude hinter der Markierung war zerfallen. Holzbalken hingen hier und dort herunter, ein Haufen morschen Holzes und gebrochener Dachschindeln lag auf der Seite. Baugerüste versperrten wesentliche Teile der Sicht auf Litwers neues Druckereigebäude, das bestimmt drei Etagen gehabt haben muss. Im Inneren vernahm ich lautes Gerede und die Geräusche mehrerer Sägen und Hämmer. Es war Leben im Hause.
Entschlossen trat ich auf die Maueröffnung zu, die einst die Tür gewesen sein muss. Dem erstbesten Hilfsarbeiter, ein Jugendlicher mit Augenringen bis zum Kinn, drückte ich ein paar Münzen in die Hand. Er passte für mich auf Yuki auf. Der Bursche sollte zumindest rufen, wenn ihm jemand zunahe kommen würde. Meinen freundlichen Verfolgern, die sich mittlerweile auf der anderen Straßenseite niedergelassen hatten, warf ich einen letzten vielsagenden Blick zu. Dann betrat ich das Gebäude.
Im Inneren erwarteten mich neben zwei irritiert dreinblickenden Arbeitern nur Werkzeuge und Spinnen verschiedener Art und Größe. Es kann nicht allzu lang hergewesen sein, dass man ihre Heimat wieder für den Menschen beanspruchte. Ihre übergroßen Netze hingen noch in fast allen Ecken der überdimensionierten Eingangshalle. Hinter einem kleinen Tresen war bereits " Litwer" schief in roter Farbe an die Wand geschrieben worden.
Ich schmunzelte auf. Mit erhobener Stimme donnerte ich: "Martynas Litwer, ihr habt Besuch" durch das Haus. Stille. Dann mehr Stille. Die beiden Handwerker hinter mir starrten mich nur weiter verwirrt an. Keiner von ihnen sagte etwas. Bis "Jaahaaa, hier bin ich" von oben zurückgerufen wurde.
Mit verschränkten Armen wartete ich auf den Hausherren. Ein sichtlich gealterter Litwer schritt, etwas klapprig auf den Beinen, die steilen Treppenstufen hinab. Sein Gesicht war merklich eingefallen und sein letzter langer Schlaf muss Wochen hergewesen sein. Dennoch zog er seine Mundwinkel angestrengt in die Höhe, als er mich erblickte.
"Aah, Schwester Amélie! Was für ein unerwarteter Besuch. Willkommen in der Maschinendruckerei Litwer, bald das beste Druckhaus ganz Velhards!" Er fing an leise in sich hinzulachen. Nachdem er die letzte Treppenstufe hinter sich gebracht hatte, stützte er sich an der Wand ab und blickte zu mir hinauf.
"Nun wirklich ein unerwarteter Besuch. Es ist etwas ungemütlich hier unten, vielleicht kommt ihr mit hoch? Und ihr strammen Arbeiter dort drüben, ich bezahle euch nicht fürs Schnacken, sondern fürs Herrichten dieses Hauses."
Mit ein paar grummeligen Widerworten machten sich seine Untergebenen wieder an die Arbeit. Litwer drehte auf der Treppenschwelle um und begab sich wieder auf den Weg nach oben. Es brauchte keine überragenden Kenntnisse, um festzustellen, dass er dabei seine Schwierigkeiten hatte. Ich griff ihm daher unter den linken Arm und führte ihn die hohen Treppen hinauf in den ersten Stock. Mit zittriger Hand deutete er auf eine Tür. Hinter ihr verbarg sich ein hergerrichteter Bibliotheks- und Werkraum mit allerlei Instrumentarien. Allen voran stapelten sich aber Bücher rings um seinen Schreibtisch und sein Bett.
"Vielen Dank für eure Hilfe. Verzeiht mir bitte, aber mittlerweile bin ich ein wenig wacklig auf den Beinen."
Er machte eine Pause zwischen seinen Worten, setzte sich in dem großen und ebenso zerfallenen Ledersessel nieder. Litwer schnaufte hörbar. Er war in schlechter, nein, miserabler Verfassung. Dennoch schaute er mich mit denselben hoffnungsvollen Augen an, die er bei unseren vorherigen Treffen an den Tag legte. Zumindest bis zu dem Tag, an dem sein engster Partner kaltblütig ermordet wurde.
"Nun, nun .. was führt euch zu mir, meine werte Amélie? Wie viele Jahre ist es her? Ein halbes Jahrzehnt? Es ist schön Euch wiederzusehen. Ich könnte dir viel erzählen, viel von dem, was ich so gemacht habe. Aber setz dich erstmal auf .. eh .. ".
Sein suchender Blick fuhr durch den Raum.
Ich lächelte abwinkend.
"Es ist auch schön euch wiederzusehen, Martynas. Es freut mich dich noch einmal sehen zu können. Ich höre mir gleich gern deine Geschichten und Taten an. Du hast schließlich unsere Heilige Schrift für jedermann zugänglich gemacht.
Dennoch, ich bin nicht ohne Grund hergekommen. Diese Welt wird schließlich geprägt von Mysterien, die es im Namen des Herrn zu lösen gibt, nicht?"
Martynas nickte bei jedem einzelnen meiner Worte. "Wohl wahr, hehe. Aber auf dieses alte Wiedersehen..." Er unterbrach kurz.
"...könntest du mir zwei der Gläser von dort drüben geben? Sie liegen auf diesem Buch, eh .. der ...". Mit ausgestrecktem Finger wies er mir den Weg zu einem kleinen Haufen Geschirr, der sich auf seinen gesammelten Werken befand. Ich nahm die obersten beiden Gläser in meine Hände und fand darunter – "auf der Heiligen Schrift, hm?".
Ich musste schmunzeln, stellte ihm die beiden Gläser auf den vollgepackten Schreibtisch und platzierte die Heilige Schrift an einem geeigneteren Ort.
Mit einem Klicken öffnete Martynas eine Schublade seines geräumigen Schreibtisches. Mit kreisender Hand fuhr er über dessen Innenraum, dessen Einblick mir von einem mächtigen Stapel Bücher versperrt wurde.
"Woher kamst du gleich noch, Amélie? Ich werde leider auch ein wenig vergesslich." Wieder lachte er herzlich auf.
"Geboren in Patrien unter sorridianischer Flagge, weshalb fragst du?"
"Ah, da habe ich etwas ganz Feines aufbewahrt. Irgendwann kommt immer ein Moment für solch einen Tropfen, man darf ihn nur nicht hinauszögern." Mit ungeahntem Schwung beförderte er eine Flasche Montebriller Cera auf den Tisch. Die verkorkte und sogar versiegelte Flasche war bereits von einer Schicht Staub überzogen. Martynas zögerte keinen Augenblick den Korken aus der Flasche zu ziehen und beide Gläser reichhaltig vollzuschenken. Fröhlich grinsend schob er mir ein Glas rüber.
"Komm, wenigstens ein Gläschen. Auf unser Wiedersehen."
"Wie kann ich da ablehnen?"
Sanft lächelnd lehnte ich mich vor, griff mir das vollgeschenkte Glas mit dem intensiv riechenden Weißwein und stieß mit ihm an. "Auf unser Wiedersehen" sprachen wir nahezu gleichzeitig. Der Cera hinterließ seinen typisch markanten Eigengeschmack in meinem Mund. Bis wir von einem unserer Abenteuer zurückkehrten hatte ich stets in völliger Enthaltsamkeit gelebt. Aber nach schweren Schicksalsschlägen und grauenhaften Anblicken habe auch ich gelernt, dass dieses Zeug manchmal hilft. Besonders in rauen Mengen.
"Martynas, ich bleibe gern ein wenig länger, um mit dir über das ein oder andere Thema zu sprechen. Lass mich aber bitte gleich zum Kern meiner Reise kommen. Du erinnerst dich an Franz Gerber? Sicher tust du das." Er nickte bestätigend. "Auch an sein Verschwinden?" Ein weiteres Nicken. "Gut. Ich weiß selbst nicht, was mit Franz passiert ist. Aber jeder, der an seiner Seite stand. Jeder, der mit ihm den Kampf gegen das Chaos bestritten hat, ereilt zweierlei Schicksal. Zunächst taucht ein Gegenstand aus dem Vermächtnis Franz' auf. Er ist unverkennbar angeschmolzen, als wäre es ein Zeichen Deyn Cadors selbst."
Litwer hob die Hand. Bevor er zu mir sprach, nahm er einen großen Schluck des Cera und schenkte sich selbst nach. Auch in meine Richtung hielt er die Flasche, aber ich lehnte für den Moment ab. "Ich verstehe, Amélie. Franz Gerber, hm? Euer impulsiver, gewaltätiger und vom Leben gezeichneter Bruder? Er hat so viel durchgemacht, man hat es ihm alles angesehen. Auf seiner Seele lastete weit mehr, als ein Mensch hätte verdient. Ich glaube, dass ich etwas in meinem Besitz habe, wovon du sprichst. Du bist sicher nicht hier, um mich aus Freundlichkeit darüber zu informieren. Gib mir gleich ein wenig Zeit, ich finde es hier in meiner Unordnung für dich.
Aber für den Moment, bleib bitte so nett und leiste mir ein wenig Gesellschaft. Den zweiten Teil dieses Schicksals kannst du mir erzählen, wenn ich dir den ersten Teil gegeben hatte."
Er lächelte. Ich lächelte, und wandte meinen Blick tief ins Glas.
"Einverstanden. Meine Ohren sind ganz bei dir. Was hast du all die Jahre getrieben? Wie lief die Verbreitung der Heiligen Schrift.?"
Mit seinem Glas in der Hand lehnte er sich weit im Stuhl zurück. "Oh, das ist eine lange Geschichte. Aber ich bitte dich schließlich auch ums Zuhören. Wo fange ich am besten an? Ah, ja genau, hier.
Schon von Neu Corethon aus habe ich noch einige Sicherungen vorbereitet. Ihr habt ja selbst gemerkt, wie gefährlich das Unterfangen war. Ich habe es erst zu spät realisiert. Da war er schon tot. Einfach vergangen. Möge Deyn ihm seelig sein. Ich bin mir sicher, dass er jetzt an einem besseren Ort ist." Martynas verleibte sich einen weiteren großen Schluck ein.
"Nun, wo war ich? Meine Vorbereitungen, sicher. Ich habe den Kirchenrat informiert und eine Zusammenarbeit angeboten. Sie waren natürlich wenig begeistert, würde doch das Wort Deyns für jedermann zugänglich. Und so könnte eine ganz eigene Auslegung fern der Silvanischen Kirche in der Welt entstehen. Zuerst drohten sie mir, dass sie mich bis ans Ende der Welt verfolgen würden, um mich aufzuhalten. Eine Vorstellung, die mich ab diesem Punkt nicht mehr abhalten konnte. Außer meinem Lebenswerk hatte ich schließlich kaum noch etwas zu verlieren. Also streute ich die Teile. Hier ein Stück, dort ein Auszug. Überall bei Freunden und Bekannten, die mir im Laufe meines Lebens so begegnet waren.
Angekommen am Festland konnte ich den Kontrollen der Silvanischen Kirche halbwegs gut entgehen. Zumindest gelang es mir einige Dutzend Exemplare zu drucken und durch die Welt zu senden, bis ich aufflog. Sie brachten mich in irgendwelche Kammern und hielten mich wochenlang gefangen. Essen gab es nur, wenn ich ihnen wieder unwichtige Details erklärt. Schläge, wenn ich nicht weiter wusste. Glücklicherweise bekam ich Fürsprecher, als das Werk verteilt wurde. Die Kunde ging herum, dass die Heilige Schrift nun für alle Menschen lesbar wäre! Besonders als der Leändische Herold davon erfuhr und meinen Wunsch um die Welt trug, war es zu spät für die Obrigkeiten.
Sie schwenkten nahezu völlig um, unterstützten mich plötzlich beim Druck. Einige gaben sogar an, dass sie mir schon seit Jahren geholfen hätten oder ich nur ein kleines Rad im Getriebe gewesen sei. Wenn er das nur hören könnte.. Was wir nur auf uns genommen haben, damit andere am Ende den Ruhm einheimsen, hm? Tja, wie kam ich hierher? Der Verkauf der Heiligen Schrift wurde recht schnell unter die Hand der Silvanischen Kirche gestellt. Wer Zugang zum Kaiser hat, kann seine Forderungen eben direkt durchsetzen. Der kleine Martynas Litwer ging leer aus. Sogar so leer, dass ich Druckanleitungen fertigen musste, aber keinerlei Münze dafür bekam. Versteh mich nicht falsch, es ging mir nie um die Gulde. Aber auch ich muss von etwas leben können. Brot und Druckertinte bezahlen sich nicht von alleine.
Also nahm ich allerlei Aufträge an der Seite an, bis die Kirche ihre eigenen Druckerpressen etabliert hatte. Sie verdrängten mich einfach aus dem Geschäft. Meinem eigenen Geschäft. Nicht ein Wort des Dankes oder ..". Martynas unterbrach und schüttelte den Kopf.
"Das ist doch nicht gerecht. Was hätte Jeffrey nur getan, wenn er in derselben Situation gefangen wäre? Mir fiel nichts ein. Ich stürzte mich erst in Schulden, dann verkaufte ich die ersten Pressen und über kurz oder lang bin ich hier. Mit meinen letzten Münzen, ebenfalls alle geliehen, bin ich hier eingekehrt. Keiner kommt hier freiwillig hin, aber Drucken und Worte sind mein Leben. Ich kann doch nichts anderes. Ich bin mir sicher, Deyn ist wieder auf meiner Seite. Und das hier wird ein Erfolg." Er nahm noch einen tiefen Schluck und goss sich sein Glas wieder voll.
"Deyn Cador wird deine Opfer nicht vergessen, Martynas. Bedenke stets, dass deine Taten auf dieser Welt dir die Pforte zum Himmelsreich eröffnet haben. Rückschläge dürfen dich nicht niederstrecken. Ich bin froh, dass du nicht aufgegeben hast. Immer weitergemacht hast." Ich versuchte ihm aufmunternd zuzulächeln, doch gelang es mir nicht. Er war in einer Art nachdenklicher Trauer versunken. Sprach mehr vor sich her, als das er mir zuhörte oder auf mich einging.
"Mag schon sein, mag schon sein. Das hier wird Erfolg haben. Ich habe die ein oder andere Idee, wie ich wieder auf alte Höhen zurückfinde. Was hältst du von einer kinderfreundlichen Version der Heiligen Schrift? Oder der im haldarischen Dialekt? Dann können die Sôlaner vielleicht einen friedlichen Versuch dort im hohen Norden starten? Die Handwerker müssen nur dieses Gebäude erstmal fertigstellen und, und, und .. ".
Ich folgte seinen vielfältigen Ausführungen weiter lächelnd. Dem Glas in meiner Hand verpasste ich ab und an einen kleinen Schwenker. Martynas erzählte mir sicher zwei Stunden von seinen genialen Ideen, die mir allesamt wie Träume einer einst schillernden Persönlichkeit vorkamen. Heute war er aber ein verblasstes Darbild seines vergangenen Daseins. War es die Silvanische Kirche, die ihn gebrochen hatte? Der Verlust seines so engen Freundes? Oder doch die Zusammenkunft der schlimmen Schicksale, Rückschläge und Niederlagen? Er tat mir wirklich Leid. Hier fand er immerhin Hoffnung. Ich wollte sie ihm keinesfalls nehmen, denn nur diese Hoffnung erhielt ihn am Leben. Ohne sie wäre alles sinnlos und seine Zeit auf Athalon bald zuende. Daher hörte ich zu. Stumm nickend. Immer lächelnd.
Nach immer wirreren und verklärten Vorschlägen, wie eines Groschenromans über "Thoni die Flunder" (was auch immer das sein mag) oder einer handgeschriebenen Auflage seiner eigenen Übersetzung, hörte er glücklicherweise auf. Froh blickte er mich an. "Was hältst du davon, Amélie?"
"Eine gute Idee." Ich lächelte weiter sanft auf ihn ein. "Wärst du so gut und suchst mir den Gegenstand heraus, den du bekommen haben willst? Ich werde uns derweil etwas zu Essen besorgen. Einverstanden?"
"Oh sehr gut, ich verhungere bald! Einverstanden, komm aber bald wieder. Nicht das mir noch etwas passiert, während du weg bist." Martynas lachte wieder auf. Ich wusste mir nicht besser zu helfen, als ihn weiter müde anzulächeln und sein Gemach zu verlassen. Nicht, dass ihm etwas passiert. Aber hier länger auf das Unvermeidliche zu warten, wäre auch kein Weg gewesen.
Über die knarzende Treppe verließ ich das baufällige Gebäude wieder. Ich ging an den beiden erneut faulenzden Arbeitern vorbei und nahm beim Dritten Yuki in Empfang. Er schien ihn durchgehend mit Streicheleinheiten versorgt zu haben, sodass er wohlig schnaubend vor der Tür wartete. Meine beiden Beobachter auf der anderen Straßenseite hatten es sich mittlerweile auch auf einem alten Baumstumpf bequem gemacht. Während meines Weges heraus aus dem zerfallenen Viertel folgten sie mir wieder auf Schritt und Tritt. Sie wirkten zumindest deutlich entspannter, nun wo sie wussten, wohin es mich überhaupt verschlagen hatte.
Es war bereits später Nachmittag. Über der Stadt hing ein dunstiger Schleier dunklen Rauches, der eine viel zu frühe Dämmerung einläutete. Das vorherige Treiben hatte sich glücklicherweise beruhigt, sodass ich unbesorgt auf Yukis Rücken über die Straßen wandern konnte. Von hier oben sah ich das Elend noch deutlicher. Als würde es mir auf einer Bühne vorgeführt werden. Hungernde Kinder, obdachlose Arbeiter und ausbeutende Landsherren. Sie warfen ihre schwer schuftenden Tagelöhner mit einem kargen Tageslohn aus der Türe, jeden Abend aufs Neue. Keiner könnte sich überhaupt eine Unterkunft für die Nacht leisten, geschweige denn die Familie versorgen. Ich konnte nur schweigend durch ihre Mitte gleiten. In stiller Trauer. Niemals hätte ich ihnen allen helfen können, es war eine Aufgabe, die niemals ein Ende hätte. Und wenn man damit beginnt diesen armen Seelen unter die Arme zu greifen, nutzen es die Reichen und Mächtigen ohnehin noch mehr aus. Meine Arbeiter erhalten eine karge Armenspeisung? Ein Grund mehr ihnen noch weniger Lohn zu zahlen. Es war bedrückend.
In den Straßenzügen fand ich irgendwann einige kleine Tavernen, die ein halbwegs ansprechendes Essen feilboten. In der ersten Spelunke wurde ich jedoch direkt abgewiesen. Meinesgleichen sei eher nicht erwünscht. Möge Deyn ihnen stets auf die Finger schauen. Und Marcos ihnen gerechte Geschäfte einbringen.
Im zweiten Wirtshaus gefiel mir das Angebot nicht hinreichend, sodass ich auf die dritte Gaststätte auswich. Hier konnte ich ein däftiges Kartoffelgericht mit einer halben Schweinshaxe für uns beide kaufen. Eingepackt in eine hölzerne Schachtel, die ich später wieder zurückzubringen hatte, konnte ich frohen Gewissens wieder den Rückweg zu Martynas antreten. In der Zwischenzeit musste er sicherlich unter den Haufen des Chaos das Objekt meiner Begierde gefunden haben.
Als ich kurz vor Einbruch der echten Dunkelheit wieder im äußeren Bezirk des Stroms angekommen war, stiefelten mir meine beiden Beobachten sogleich wieder hinterher. Dieses Mal ließ ich mich nicht von ihnen ablenken. Stattdessen hielt ich demonstrativ unsere Holzschachtel in die Höhe und stolzierte auf Yuki zu Martynas Druckereigebäude durch. Mein Streitross band ich an einem Holzbalken vor der Tür an. Dann rief ich Litwer bereits aus dem Ergeschoss zu, dass ich zurück war und trat hinauf in seine Kammer. Versteckt hinter völlig umgeordneten Bücherstapeln lag er mit dem Kopf voran auf dem Tisch.
Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich ließ die Schachtel vor Schreck zu Boden fallen. Der Deckel der Holzkiste sprang ab, ein Teil der gedünsteten Kartoffeln verteilte sich über die alten Dielen. Dennoch – keine Reaktion von Martynas Litwer. Er war doch nicht .. , er konnte doch nicht... Nein! Verschreckt schnellte ich zu ihm ihn. Sein Körper war intakt, ich erkannte keine Verletzungen. Doch war er gespenstisch ruhig. Er rührte sich kaum. Nicht einmal eine Atmung konnte ich erkennen. Ich biss die Zähne zusammen. War er während meiner kurzen Abwesenheit eingeschlafen? Dabei konnte ich ihn nicht einmal warnen, vor dem zweiten Teil von Franz' Schicksal. Einem Schicksal, das er mit uns allen teilt.
Vorsichtig packte ich ihn an der Schulter, um ihn wieder in eine aufrechte Haltung zu setzen. Als ich meine Hand an seinen kalten Körper legte, schreckte er plötzlich wie ein wildgewordener Haldare auf. Vor Schreck stolperte ich zurück und knallte mit dem Rücken an eines seiner vollgestopften Bücherregale. Durch den Aufprall fielen mir mindestens drei Werke auf den Schädel, bis ich Gelegenheit zum Aufatmen hatte. Ein gleichermaßen verschreckter wie verschlafener Martynas Litwer schaute mich an.
"Amélie! Was machst du denn?! Die Bücher!".
"Was ich mache?? Was ich mache, Martynas? Warum schläfst du einfach auf deinem Tisch ein? Ich dachte du wärst gestorben! Einfach eingeschlafen! Ich habe sogar unser halbes Essen deswegen verschüttet. Martynas, Deyn bewahre!" Ich war außer mir. Mein Herz schlug sogar noch schneller, als in dem Moment, wo ich ihn innerlich für tot erklärte. Ich war außer mir. Vermutlich habe ich sogar so laut gebrüllt, dass diese merkwürdigen Gestalten vor der Tür alles mitgehört haben. Und dann war auch noch das Essen auf dem Boden verteilt. Deyn bewahre.
Martynas schien hingegen die Ruhe weg zu haben. Nur um seine Bücher wirkte er besorgt. Sogar so stark, dass er aufstand und sie liebevoll einzeln vom Boden aufhob und an ihre ursprüngliche Position zurückstellte. Ich presste währenddessen meine Lippen aufeinander. Ich konnte nicht anders, als ihn bei seinem merkwürdigen Schauspiel zu beobachten. Wie in Deyns heiligem Namen konnte er mich jetzt einfach so stehen lassen? Ich verstand nicht.
Dementsprechend konnte ich nur während eines eindringlichen Kopfschüttelns versuchen unser Abendessen zu retten. Mit einem seiner Teller sammelte ich die am Boden liegenden Kartoffeln auf, tischte jedem von uns die Hälfte auf. Dabei achtete ich stets darauf, dass jeder die gleiche Menge am Boden liegende und in der Holzbox befindliche unversehrte Stücke bekam. Die halbe Haxe wurde entzwei geteilt und ebenso gerecht aufgeteilt. Martynas war unterdessen weiter damit beschäftigt seine Bücher zu sortieren, bevor ihm wieder einfiel, dass auch ich im Raum war.
"Amélie! Ich habe Hunger."
"Ach." Ich setzte ihm den Teller vor die Nase. "Martynas, was haben sie nur mit dir gemacht?" murmelte ich leise vor mich hin.
Während er sich bereits die erste Kartoffel in den Mund schob und mich fröhlich kauend anschaute, vernahm ich nur ein schmatzendes "Wwahs?"
Die nächsten Minuten verbrachten wir mit unserem kaltem, aber durchaus akzeptablen Abendmahl. Nachdem wir fertig waren, stimmte ich ein kleines Gebet an. Wenn wir schon nicht vor dem Essen beten, weil er sich das erste Stück direkt in den Mund schiebt, dann wenigstens danach. Martynas sprach die Worte, wie ein junger begeisterter Klosterbruder nach und klatschte am Ende in die Hände.
"Amélie, das war schmackhaft. Ich danke dir. Und hier, fang!" Wie aus dem Nichts warf er mir mit einem kraftlosen, ungezielten Schwung einen ledernen Köcher zu. Ich musste einen ganzen Schritt nach vorn machen, um das Lederstück überhaupt greifen zu können. Mit ausgestreckten Armen bekam ich gerade noch einen breiten Riemen zwischen die Finger. Inspizierend hob ich den Köcher an und fand schon bald die feurig angeschmorten Spuren des Franziskus Maximilian Gerber. Es war ohne Frage sein Köcher. Ich wusste es in diesem Moment, dass ich nicht falsch liegen konnte. Auch mit Martynas Litwer sollte ich Recht behalten.
Litwer grinste mich während meiner Begutachtung an. "Und? Ist es das, was du suchst?"
Ich nickte. "Ja, alter Freund. Auch du hast einen Gegenstand von Franz bekommen. Magst du mir verraten, wo du es gefunden hast?"
Er nickte und legte sogleich wieder mit seinen umfassenden Ausführungen los. "Ich dachte zuerst, dass ich mir den Köcher erträumt hätte. Wofür brauche ich schließlich einen Köcher? Noch nie habe ich solch ein Teil benutzen müssen, ich kann ja kaum eine Bogensehne spannen. Diese Hände sind für Druckmaschinen gemacht." Er hob beide seine Hände freudig in die Höhe und wackelte mit seinen Fingern herum.
"Ich bin eines Morgens aufgewacht, das war vor vielleicht einem Jahr? Ja, das muss ein Jahr gewesen sein. Da war ich noch in anderen Städten Tasperins unterwegs, genau. Ich habe vielleicht einen über den Durst getrunken und bin recht spät aufgewacht. Und was erblicken meine Augen da? Stapelweise Bücher, wie immer! Richtig geraten."
Ich musste schmunzeln. Seine Erzählungen waren wirr, aber nicht uninteressant. Irgendwo versteckte er doch die Wahrheit. Man musste nur genug Geduld aufbringen und sie abwarten.
"Ich ging mich also waschen. Wobei, um ehrlich zu sein gehe ich mich selten waschen. Jedenfalls suchte ich nach etwas Essbarem, aß einen ganzen Apfel und kehrte zurück in mein damaliges Zimmerlein. Als ich zurückkam, hing an der Ecke eines vollgestellten Regals dieser Köcher. Es war sogar dieses Regal da!" Mit beiden ausgestreckten Zeigefingern zeigte er auf das kantige Regal, an das ich zuvor angestoßen war. "Ich habe ich mich gefragt, woher das gute Stück kommt und erstmal abgenommen. Offenbar habe ich es vergessen und trotzdem mitgenommen. Was für ein Glück. Du wolltest mir noch den zweiten Teil des Schicksal der Finder oder dergleichen erzählen? Das klingt nach einer spannenden Geschichte für ein Buch, vielleicht schreibst du ja eines Tages eins. Also, nun raus mit der Sprache.
Ich seufzte tief. "Ja, vielleicht schreibe ich eines Tages eines. Eines mit positivem, glücklichem Ende. Ein Buch, das mir gefällt. Martynas."
Ich blickte ihn fest an, kam sogar einen Schritt näher und hoffte, dass er mir gut zuhörte. Ob er verstand und verarbeiten konnte, was ich ihm sagen würde, konnte ich nicht beeinflussen. Aber ich wollte ihm zumindest die ganze Wahrheit sagen. Alles, was ich zu diesem Moment wusste und wissen konnte. Ich holte tief Luft. Und begann.
"Martynas, jeder, der ein solches Objekt findet, ereilt ein grausames Schicksal. Jede Person, die ich besucht habe, ist kurz danach gestorben. Oder war bereits tot. Es ist wie ein unvermeidliches Grauen. Ich muss dich aufsuchen, damit ich an diesen Gegenstände komme. Für Franz. Für Deyn. Für diese Welt. Denn ich weiß, dass wir Widersacher haben. Und wer gegen Deyn agiert, kann nicht im Namen der Ordnung handeln. Doch stoße ich dich und jeden anderen damit unweigerlich in den Abgrund. Ich nehme euch die Grundlage des Lebens. Besiegele euer Schicksal."
Erst als ich es in Worte gefasst hatte, verstand ich. Es war mein Besuch, der die Räder in Bewegung setzte. Unwissenheit ist Glückseligkeit. Bis man das alles zerstörende Wissen erlangt. Und nur durch dieses Wissen in den Schlund des Abgrund gezogen wird. Ich will nicht noch mehr Freunde und Kameraden verlieren, doch ist es unvermeidlich. Es gibt keinen anderen Weg. Es sind nicht nur Namen auf einer Liste. Es sind meine Freunde. Meine engsten Kameraden. Es sind die wenigen Menschen, denen ich auf dieser Welt alles und mein Leben anvertraut habe. Und genau diese Menschen reiße ich mit in den Abgrund. Ich kann es nicht aufhalten. Ich werde es nicht aufhalten. Denn ich bin der Auslöser.
Während ich in Martynas müde lächelnde Augen blickte, liefen mir Tränen über die Wangen. Sie kamen auf seinen liebgeschätzten Büchern auf und doch unternahm er nichts. Stattdessen raffte er sich auf. Ich konnte seine Knochen von der Anstrengung aufschreien hören, wusste das sein Körper und Geist zerbrechlich waren. Und doch. Und doch nahm er mich einfach in den Arm. Er sprach nur zwei Worte.
"Ich weiß."
Und nahm mich in den Arm. Er drückte so fest zu, wie er es auch nur irgendwie vermochte. Meine Trauer schlug in Form meiner Tränen auf dem Boden nieder. Ich wusste, dass ich ihn mit meinem Besuch verdammt hatte. Er wusste, dass ich ihn damit verdammt hatte. Und doch vergab er mir. Hier und jetzt. Martynas Litwer zeigte seine Güte und Barmherzigkeit. Er offenbarte mir in diesem Moment, wer er wirklich war und woran er glaubte. Wofür er sein Leben lang lebte und kämpfte.
Es tat so unendlich weh. Als ob mein Herz von einer unsichtbaren Kraft gewunden und zerdrückt wurde. Als ob all meine Gefühle aus meinem Körper mit krachenden Schlägen herausgeprügelt wurden. Als ob ich alles, wofür ich stehe und wofür ich jemals gekämpft verraten hätte. Dieser Besuch bei Martynas Litwer zeigte mir viel. Zuerst dachte ich, dass ich hier einen der ruhigsten und angenehmsten Aufenthalte haben werde. Und doch wurde mir gerade hier unter Beweis gestellt, wie zerschmetternd die Realität ist. Und doch, wurde unter Beweis gestellt, was wahre Gnade ist. Das die Barmherzigkeit lebt.
Ich weinte. Lange. Und Martynas blieb mit mir stehen. Stets murmelnd: "Ich weiß".
Als ich mich nach langer, langer Zeit wieder gefangen hatte und auf einem seiner Bücherstapel saß, öffnete er wieder seine Schublade im Schreibtisch.
"Deine Ehrlichkeit ist bewundernswert, Amélie." Martynas wirkte wesentlich gefasster und geistig gesammelter, als ich es hätte erwartet. Es erschien mir fast so, als würde er in alter Stärke aufgehen. "Nur wenige hätten es mir so ehrlich in mein Gesicht sagen können. Ich weiß weder, warum du dich dieser Aufgabe stellen musst, noch was uns alle erwarten wird. Aber dieser Tropfen ist für diesen Tag reserviert gewesen. Ich wollte ihn einmal mit Jeffrey trinken. Dann, wenn wir unser Werk vollbracht hatten. Aber, ich teile ihn auch gern mit dir. Denn für alles andere ist er zu schade. Und schließlich wollte ich ihn wenigstens noch selbst kosten." Er lachte. Seine Stimme klang frei und erlöst. Als hätte er eine Last von seinen Schultern geworfen, die ihn jahrelang hinabgezogen hatte. Es war ein paradoxes Spiel und doch die Realität.
Mit einem geschickten Schwenk goss er beide Gläser voll mit dem aufgehobenen Tropfen. "Weißt du was das ist?" Er lächelte verlegen.
"Ich sage es dir direkt. Klosterfrau Melissengespenst. Von vor dem Brand im Kloster. Wenn ich ihn verkauft hätte, hätte ich sicher ein Vermögen gemacht. Aber wie könnte ich? Es war schließlich unser Siegesgetränk. Nachdem er weg ist, müssen wenigstens wir anstoßen."
Wir hoben unsere Gläser. Mit einem lauten Klirren schwappte sogar ein Teil des Melissengespenst über, doch selbst das machte uns nichts aus. Selbst ich genehmigte mir einen tiefen Schluck zu Ehren Jeffrey Gietzels. Der nächste Schluck galt Martynas selbst. Er schaute mich selbstbewusst an, atmete tief durch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
"Vielleicht habe ich dir nicht die ganze Wahrheit vorhin erzählt. Ich glaube aber, dass du ehrlich mit mir warst. Wenn ich mich recht entsinne, hast du zumindest in meiner Gegenwart noch nie gelogen? Ich erkenne solcherlei eigentlich recht schnell. Und nun, wo ich weiß, was mir droht, soll wenigstens dies nicht vergessen bleiben." Er holte nochmals tief Luft und genehmigte sich einen weiteren Schluck des gereiften Melissengespenstes.
"Amélie, das war weitaus nicht alles, was die Silvanische Kirche mit mir gemacht hat. Ich sehe nicht so aus, weil sie mich gut behandelt haben. Monatelang haben sie mich in ihren Verließen eingesperrt, bis die Öffentlichkeit nach mir verlangt hat. Ich wäre dort unten gestorben. Sie haben mich gehalten, wie einen wertlosen Viehkadaver. Wie einen Verräter. Was ist falsch damit das Wort Deyn Cadors an jeden Bürger, jede Bürgerin und jeden Menschen dieser Welt zu bringen?"
Er pausierte.
"Ich kenne deine Antwort. Und ich bin froh über sie. Du hast mir schließlich nicht ohne Grund geholfen. Ihr, auf Neu Corethon, ihr wart auch erst vorsichtig. Doch habt ihr schnell meine, nein, unsere Ideale geteilt. Aber hier auf dem Festland wurden wir als wahre Gefahr angesehen. Es war unerträglich. Sie haben mich zerschunden. Fertig gemacht. Und danach ausgenommen. Dieser Kirchenrat verbirgt viel mehr, als er zugibt. Aber du bist nicht dumm. Du weißt längst, dass viel mehr hinter unserer Welt steht. Dinge, die ihren Lauf nehmen und nicht abwendbar sind. Solch etwas hast du mir schließlich auch heute präsentiert."
"Martynas, es ist schwer für mich die richtigen Worte zu finden. Ich schwebe über dem Abgrund und werfe dich hinein, damit ich ein Stück weit länger bestehen kann. Das ist nicht das, was ich mir gewünscht habe. Das ist ... falsch. Aber doch ist es der Weg der Ordnung. Ich kann es nicht aufhalten. Ich kämpfe für euch und doch ... fühlt es sich so falsch an."
"Du machst das sehr gut. Ich glaube, dass du deine Fähigkeiten und deine Rolle unterschätzt. Mit so stolz geschwellter Brust, wie Franz Gerber aufzutreten, ist sicher nicht der richtige Weg. Aber du wirst dich nicht auf deinen Weg gemacht haben, um zu scheitern. Und allen voran Amélie – du hast auch einen Gegenstand von Franz erhalten, oder?".
Er hatte mich durchschaut. "Ja. Ich habe vor über drei Jahren Franz' Bogen gefunden. An einem Ort, an dem Deyn Cador unserer Welt so nahe ist, wie sonst nirgendwo."
"Siehst du. Mach dir keine Sorgen. Er ist auf deiner Seite. Wir sind alle auf deiner Seite, denn wir kämpften und kämpfen für dieselbe Sache oder? Du darfst nicht aufgeben. Mach weiter, bis zum bitteren Ende. Es wird sich lohnen. Was wäre gewesen, wenn Jeffrey und ich aufgegeben hätten? Stell es dir bitte vor. Innerhalb von wenigen Jahren wurde es nahezu normal, dass jeder die Heilige Schrift lesen kann. Bewahre unsere Welt vor Schlimmerem. Sonst wärst du schließlich nicht hier."
"Ich hoffe, dass ihr mich nicht nur Mut und Hoffnung machen wollt." Ich zog mein Glas Melissengespenst in einem Zug leer. Martynas schenkte mir großzügig nach. Der perzige Geschmack nach gebrannten Kräutern blieb zwar in meinem Mund, aber immerhin betäubte er für ein paar Augenblicke meine Sinne. Ich war so froh wie geschockt über dieses Treffen. Wie fühlt es sich an, einem Menschen anzukündigen, dass er bald sterben wird? Wie fühlt es sich an, ihm mitzuteilen, dass er wegen meinen Handlungen bald von dieser Welt scheiden wird? Grausam. Zermürbend. Katastrophal. Ich verzog mein Gesicht.
"Na aber, schau nicht so drein. Ich kann dich verstehen, aber bitte, es ist mehr als beeindruckend, dass du so lange durchhältst. Du ziehst unablässig durch, wo andere schon längst aufgegeben hätten. Amélie, ich verstehe, dass du nicht die Heldin in dieser Geschichte sein willst. Du bist es auch nicht. Wir sind alle nur Mittel zum Zweck für Deyn Cador, doch was wären wir ohne ihn? Gib nicht auf. Wehe, du gibst auf. Jeffrey und ich warten dort oben auf dich."
Ich konnte wieder einmal nur verwundert Schumzeln. Martynas schien in dieser Nacht wohlauf. Es wirkte fast, als hätte ihm Deyn Cador noch ein letztes Mal ein Geschenk seiner Güte überreicht. Wir beide verstanden es zu nutzen und unterhielten uns die restliche Nacht. Schluck um Schluck wurde die edle Flasche Melissengespenst geleert. Der Wert eines einzigen Lebens zeigte sich hier einmal mehr. Deyn Cador – mein Herr über Leben, Dasein, Tod und Vermächtnis. Der allumspannende Weltenherrscher. Eine Gottheit, der ich mein Leben gewidmet habe und weiter widmen werde. Die Ordnung stellt weder reine Güte noch reine Nächstenliebe dar. Deyns Ordnung ist unverzeihlich. Sie räumt aus dem Weg, wer nicht mehr gebraucht wird. Und doch ist sie der einzige Weg auf dieser Welt. Dahinter liegt nur Chaos und Dunkelheit. Die Zerstörung des Lebens.
Die Sonne erschien bereits wieder am Horizont, als Martynas sich zu Bett legen wollte. Die Flasche war längst leergetrunken. Wir verabschiedeten und mit einer tiefen Umarmung. "Lass mich nicht hängen." flüsterte er mir ins Ohr. War das ein Wunsch oder eine Drohung? Ich wusste es nicht. Vermutlich beides. In jedem Fall stolperte ich vor die Türe seines Hauses und suchte mir einen Unterschlupf für die Nacht in seiner Nähe.
Wir beide wussten, dass diese Nacht seine letzte gewesen sei. Es war so unvermeidlich, wie die Verschiebung der Sterne. So berechenbar, wie der tägliche Aufgang der deynistischen Sonne. Und so unvermeidlich, wie das Schicksal von Franziskus Maximilian Gerber. Wir würden es nicht verhindern können. Also beendeten wir es redlich.
Ich legte mich für diese Nacht ebenso schlafen, wie Martynas Litwer es getan hatte. Und so begannen meine Träume auf ein Neues. Ich wurde nicht zerissen von Monstern oder Dämonen. Mein Leben blieb mir verschont. Stattdessen fand ich mit an einer wohlbekannten Klippe wieder.
Das Himmelsreich schimmerte in seiner grenzenlosen Farbenvielfalt und Herrlichkeit im Hintergrund. Die Schlucht Dysmar mit ihrem unerbittlich verschlingendem Abgrund lag zu meinen Füßen. Während zahllose Seelen ihr Ende in der Schlucht fanden und in den Abgrund gezogen wurden, schafften mindestens genau so viele den letzten Sprung in die ewige Rettung. Durch Deyns Kräfte getrieben fiel es ihnen spielend leicht ihr weltliches Leben gegen eines der Glückseligkeit im Himmelsreich einzutauschen.
An meiner Seite stand heute nicht mehr Drevin Cray, sondern Martynas Litwer. Als hätte ich es erwarten können. Als hätte ich es erwarten müssen. War es eine Vorausschau? Oder war es die Gegenwert? Martynas Litwer stand neben mir an dieser Klippe, die unser aller Schicksal einmal lenken wird. Wir blicken in den Abgrund und er wird uns antworten. Schützt Deyn Cador uns vor dem ewigen Leid oder wird er uns verdammen? Heute würden wir die Antwort für einen ebenso treuen wie eindrucksvollen Weggefährten erfahren. Er hatte viel für die Verbreitung des Wortes Deyns getan. Martynas Litwer war ein Mann der Prinzipien. Er tat stets das, was er für richtig hielt.
Er wandte sich gegen die Kirche. Und genau das wurde ihm zum Verhängnis. Seine ehemaligen Herren richteten sich vollständig gegen ihn. Sie nahmen ihn aus, entzogen ihm die Existenzgrundlagen und ließen ihn einsam und verarmt zurück. Doch Martynas gab nicht auf. Nicht ein einziges Mal. Er kämpfte für seinen Glauben. Für seine eigene Güte und Hoffnung. Wir sollten uns alle ein Beispiel an ihm nehmen, dass wir niemals aufgeben dürfen. Ganz besonders ich sollte mir diese Eigenschaft von ihm abschauen.
Mit einem letzten verheißenden Blick schaute Martynas zu mir herüber. "Ich danke euch, und ... wir sehen uns." entgegnete er mir. Dann wagte er den letzten Schritt. Sein Fuß schwebte über der Schlucht.
Und ich riss meine Augen auf. Mein Schlaf wurde jäh durch einen lauten Knall, gefolgt von rumpelndem Geklimper und aufeinanderschlagenden Klängen unterbrochen. Erschrocken fuhr ich auf. In der Dunkelheit um mich herum, konnte ich kaum etwas sehen. Durch das kleine Fenster fiel nur spärliches Mondlicht, sodass ich mir eilig eine Kerze anzündete. Ich ahnte Schlimmes. Im Schein des flackernden Lichts zog ich mir schnell meine Stiefel über, griff meine Schwertscheiden und rannte die Außentreppen meiner Bleibe herab. Um mich herum fielen die Schneeflocken, wie traurige Boten eines hoffnungslosen Schicksal vom Himmel. Es war eiskalt.
Mein rasendes Herz ließ mich die Kälte völlig vergessen. Ich rannte, so schnell es meine Beine zuließen. Vorbei an den wenigen erleuchteten Fenster, deren Bewohner auch von den schreckhaften Geräuschen wachgeworden sein müssen. Vorbei an den im Schnee stehenden Karren und Kisten. Vorbei an all den Menschen, die ebenfalls hierhin geeilt waren. Ich rannte. Nur um das Unvermeidliche erblicken zu müssen. Es war passiert. Wieder einmal.
Ich stand vor einer staubverhangenen Ruine eines ehemaligen Gebäudes. Einer Druckerei. Der Druckerei des Martynas Litwer. Sie war zu einem einzigen Haufen Schutt verkommen, völlig vernichtet. Ich musste mich nicht vergewissern, denn es war mir bereits vorhergesagt worden. Das war das Ende von Martynas Litwer. Er war von den Trümmern begraben worden. Sein Körper lag verschüttet unter dem Geröll. Er starb für dieses krude Spiel, dass Deyn Cador hier mit uns treibt. Ein weiterer Zeuge war aus der Welt geschafft. Was für eine Ordnung ist das nur?
Ich weinte nicht einmal mehr. Ich hatte längst um Martynas getrauert, als ich bei ihm war. Als ich ihn verlassen habe. In meinen Träumen.
Während die ersten Menschen begannen auf den Schutthaufen zu klettern, ging ich auf meine Knie nieder. Die Kälte durchfuhr rasch meine Kleidung, und ich begann zu zittern. Dennoch sprach ich ein Gebet für Martynas. Während sich die ersten Plünderer bereits an seinen Habseligkeiten zu schaffen machten.
Höre mich an, Deyn Cador.
Blicke auf mich herab und
lausche meiner schreienden Stimme.
Nimm auf seine Seele und führe sie
hinein in dein ewiges Reiche.
Nimm auf seine Seele,
die solange unter deiner Ordnung gedient hat.
Nimm auf seine Seele,
damit er endlich die Ruhe findet, die
er sich so lange unter deinem Banner erkämpfet hat.
Nimm auf seine Seele und führe sie
hinein in dein ewiges Reiche.
Deyn Cador, gib ihm ewige Ruhe.
Deyn Cador, zeig ihm deine Ordnung.
Deyn Cador, umgebe ihn mit deinem allumwärmenden Lichte.
Nimm auf seine Seele und führe sie
hinein in dein ewiges Reiche.
Nimm auf seine Seeile in dein Himmelsreiche,
lasse ihn bei dir auf ewig sein.
Was er aus menschlicher Schwäche gefehlt hat, das tilge du in deinem Erbarmen.
Was er an menschlicher Kraft verloren hat, das stelle wiederher in deiner Güte.
Was er an menschlichem Geiste aufgab, das gebe ihm zurück in deiner Muße.
Nimm auf seine Seele und führe sie
hinein in dein ewiges Reiche.
Amen.
Als ich mein Gebet beendet hatte, waren bereits dutzende Stadtbewohner um den Unglücksort versammelt. Ein Raunen ging durch die Menge, nur wenige wagten sich überhaupt an das eingestürzte Gebäude heran. Diejenigen, die sich auf die Trümmer stürzten, kamen mit Händen voller Bücher oder Papierfetzen wieder auf die Straße zurück. Ich konnte sie nicht aufhalten. Noch hatte ich in diesem Moment die Kraft dazu.
Lebe wohl, Martynas Litwer. Auch dich werde ich hoffentlich eines Tages im Himmelsreich wiedersehen.
Fröstelnd ging ich wieder zurück in meine Unterkunft. Ich wärmte mich nur ein wenig auf, bevor ich mich rüstete und auf Yukis Rücken stieg. Ich wollte diesen Ort nur so schnell wie möglich verlassen. Eine weitere grässliche Stadt. Ein weiteres unausweichliches Schicksal. Ein notwendiges Übel? Mag sein.
Dennoch. An Aufgeben ist nicht zu denken. Eine weitere, harte Prüfung liegt vor mir. Ich schlug in die Zügel und führte Yuki an der Westseite der Stadt hinaus. Wir ließen am Strome hinter uns und betraten die endlosen grünen Wälder des Nordens. Pausenlos fiel der Schnee auf unsere Leiber doch an eine Pause war nicht zu denken, denn das nächste Ziel stand bereits lange fest. Zandig.
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"Nicer Cock, Schussi" - Christian, 06.12.2019
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20.11.2020, 04:36 PM
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 19.01.2021, 03:24 AM von Feuerfrosch.)
XVIII – Gen Norden
27.03.1352
Es war nicht lang her, dass wir am Strome verlassen hatten. Martynas Litwer war just gestorben. So wie ich es vorhergesehen hatte. So wie es sein musste. So wie die allewige Ordnung es bestimmt hatte. Ich ließ mich in eine Art Trance absinken. Dank des rhythmischen Wankens von Yukis massivem Körper und seinem regelmäßigen Gang verfiel ich in eine beruhigende Stille. Beinahe vergaß ich sogar die eisigen Schneeflocken, die vom Himmel fielen. Zumindest für den Moment musste ich so aber nicht nachdenken. Der ausgetrampelte Pfad war schon lange nicht mehr erkennbar, aber immerhin konnten wir den Radspuren einiger vorbeigezogener Karren folgen. Mein Pferd tat seinen Dienst. Ließ mich einfach sein.
Gedankenlos starrte ich in die Ferne. Endlos reihten sich die Bäume aneinander, als ob sie den Weg des Lebens diktieren würden. Wie eine gigantische Mauer bildeten sie den Horizont. Nur der Lauf des Großen Stromes konnte sie zumindest kurzfristig unterbrechen, bis ihre Reihen wieder ineinander aufschlossen. Mein leerer Blick glitt ständig auf meine eisigen Atemwolken ab. In meinen kalten Fingern hielt ich Yukis Zügel in unnachgiebig festem Griff. Sein leises Schnauben versicherte mir, dass er noch da war. Es ihm gut ging.
Ich fühlte mich so lausig, dass ich hätte eine Tirade an Schimpfwörtern losbrechen können. Am liebsten hätte ich jede Seele verdammt, die mir in den Weg kam. Aber es half ja nichts. Egal wie wütend ich wurde; egal wie sehr ich die Angst in mir aufkommen ließ; egal welche Qualen des Fegefeuers ich unseren Widersachern wünschte – es half alles nichts.
Und trotz all des Todes, trotz all der Begegnungen, verstand ich noch immer nicht. Ich gewann keinen Deut an Informationen hinzu. Wenn ich doch nur langsam verstehen würde, was mit Franz wirklich geschehen war. Warum er uns verlassen hatte oder weshalb er seine Zeichen wieder auf diese Welt schickt. Doch nichts. Ich blicke nicht dahinter, weil mir noch so viel fehlt.
Dabei verliere ich doch mit jedem Besuch ein Stückchen mehr von mir. Ich gebe mich auf, damit ich mehr Puzzleteile hinzugewinne. Es ist kein gerechter Tausch. Mein Verlust ist um so vieles größer und schmerzhafter, als mein Gewinn. Ich hoffe, dass es das am Ende wert sein wird. Ich weiß, es gibt nur einen Weg es herauszufinden. Und diese Reise nicht zu wagen würde ein nur noch schlimmeres Ende bringen. Doch bleibt mir weiterhin die Frage offen – wie viel kann ich noch aushalten? Bin ich schon am Rande meines Verstands angelangt? Oder war das erst der Anfang?
Die ersten Bruchstücke der Wahrheit würde ich hinter diesen Fichtenwäldern bekommen. Es war aber noch ein ziemlicher weiter Weg bis Zandig. Und der Schnee machte schon nach mehreren Stunden nicht nur mir zu schaffen.
Yuki keuchte, schnaufte mit hysterisch schlagendem Herzen. Ich legte meine Hände auf seinen Hals und versuchte ihn ein wenig zu beruhigen. Dabei stellte ich schnell fest, dass er eine Pause brauchte. Nachdem ich von seinem Rücken gestiegen war, bereitete ich ein provisorisches Lager vor. Ich schaufelte ein wenig Schnee beiseite, sammelte halbwegs nützliche Stöcker und Hölzer. Glücklicherweise gelang es mir nach kurzer Zeit ein Feuer zu entzünden, das nicht nur seinen großen Leib wärmte. Auch ich zog es vor am wärmenden Lagerfeuer zu bleiben und ihn langsam trockenzureiben. Der Schneefall hatte zwar noch längst nicht aufgehört, doch war er immerhin schwächer geworden. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie es sein mag in dieser kalten Einöde aufzuwachsen. Und doch nennen unzählige Menschen diesen Flecken ihre Heimat. Beeindruckend.
Wir ließen uns viel Zeit am Feuer, denn ich wollte der eisigen Kälte so lange entgehen, wie nur möglich. Yuki bekam einen großen Berg des Hafers, den ich zuvor auf dem Weg erworben hatte. Begierig machte er sich daran seinen Magen zu füllen. Als er fertig war, kam er mit einem freundlichen Wiehern zu mir herübergestolpert. Mit leichter Hand fuhr ich ihm um den Kopf. Er hatte schließlich recht, wir konnten die Nacht nicht hier verbringen. Wir mussten weiter.
Ich ließ das Feuer brennen und sattelte wieder auf. Wieder folgten wir den Wagenspuren, die mittlerweile nahezu gänzlich vom Schnee verdeckt wurden. Ein kalter Luftzug blies mir um die Nase, sodass ich mir noch meine letzten verbliebenen Tücher um den Hals wickelte. Meine Zähne klapperten unnachgiebig. Angeführt von Yukis leichtem Trab fanden wir noch vor Einbruch der Dunkelheit ein kleines Dorf. Zugegeben, es war eher ein einzelner Hof mitten im Nichts. Die kleine, darin lebende Bauernfamilie nahm mich in ihre beschauliche Hütte auf. Yuki kam derweil im anliegenden Schweinestall unter.
Die Behausung war mehr als beschaulich eingerichtet, während die halbe Außenfassade schon herabbröckelte. Um eine zentrale Feuerstelle, die offenbar erst kürzlich zu einem kleinen Herd ausgebaut wurde, stapelten sich die Vorräte und Besitztümer der Familie. An den Wänden lagen gemauerte, mit Stroh befüllte Bettkästen. Das war es. Mehr hatte diese kleine Gemeinschaft nicht. Dennoch waren sie nicht unzufrieden, gar dankbar für das Feuerholz in dieser kalten Zeit. Ich setzte mich mit den beiden Eltern auf den steinernen Bettkästen nieder. Ihre beiden Kinder liefen spielend um das Feuer, kamen immer wieder zu mir oder den anderen beiden Erwachsenen. Ihr fröhliches Grinsen erfüllte, doch würden sie hier noch viele eiseskalte Winter zu durchstehen haben. Gregor und Marias Vater hieß Friedhelm Bohnert, seine Ehefrau Erna. Während seine Gattin im Suppentopf herumrührte, erzählte mir Friedhelm von seinem Leben und den letzten Wintern.
"Diese Ofenplatte konnten wir uns letztes Jahr anschaffen. Wir hatten einen recht milden Winter und konnten an Feuerholz sparen. Außerdem haben zum ersten Mal alle Schweine überlebt! Wir hatten nach der Mast also ein paar Gulden mehr übrig, ein wahrer Gewinn. Ich bete dafür, dass sie lange hält. Sie nimmt uns viel Arbeit ab, aber .. das ist wohl nur unsere einfache Bauernhoffnung." Er zuckte entschuldigend mit den Schultern, lächelte dann aber auf.
"Alles für die Kinder, nicht wahr? Solange sie es warm haben und ein gutes Essen am Abend bekommen, reicht mir das. Vielleicht haben sie einmal ein besseres Leben, als wir es tun. Können gar Lesen und Schreiben lernen."
"Ihr kümmert euch mit viel Hingabe um eure Familie, Friedhelm. Und seid dann auch noch gastfreundlich gegenüber Fremden, die in der Kälte umherspazieren. Ich bin mir sicher, dass ihr den Segen des Herrn empfangt. Legt nur weiter eure Dankbarkeit an den Dank, so werdet ihr Güte zurückerhalten." Ich legte ihm meine Hand für einen Augenblick auf die Schulter.
"Wie alt sind eure Kinder momentan? Sie wirken sehr lebhaft, voller Energie. Helfen sie euch schon auf dem Feld?"
"Maria ist schon sechs Jahre alt. Gregor ist gerade Fünf geworden. Wir wollten einst deutlich mehr Kinder haben, aber, nun .. mittlerweile leben wir enthaltsam. Mehr Mäuler kann ich schließlich nicht füttern."
Mit einem ermahnenden Seufzen mischte sich seine Gattin Erna in das Gespräch ein. "Friedhelm, erzähl ihr doch sowas nicht! Dort oben in Kurmark gilt man doch nur als gute Frau, wenn man vier Kinder auf die Welt bringt. Und mindestens eins davon muss zum Orden!"
Mit einem entschuldigenden Lächeln sah Friedhelm zu mir herüber. "Ihr habt sie gehört."
"Macht euch keine Sorgen. Ihr seid dem Herren treu ergeben, wie ihr momentan seid. Es bedarf keiner unzähligen Kinder, um in Deyn Cadors Gunst zu stehen. Habt lieber wenige glückliche Kinder, als viele mit unglücklichen Gesichtern. Sie können froh sein solche Eltern, wie euch, zu haben.
Hört ihr, ihr zwei? Gebt gut auf eure Mutter und euren Vater Acht, ja?"
Grinsend nickend kamen die beiden wieder zu mir gesprungen. Ich fuhr ihnen durch die Haare und schob sie dann zu ihrem Vater herüber. Dieser ergriff die beiden sogleich und hob sie auf seine Beine. "Seid artig, wenn wir Besuch haben. Und hört immer darauf, was die nette Schwester vom Orden sagt. Denn sonst geht ihr an Sternennacht für immer leer aus."
Die Kinder fingen an zu meckern. Wie unfair es sei, wenn Deyn alle Geschenke für sich beansprucht, nur weil sie unartig seien. Ich ließ Friedhelm mit seinem neuaufgekommenen Problem allein. Stattdessen trat ich zu Erna an den großen Kessel und ließ mir einen Löffel geben. Ich tauchte das hölzerne Werkzeug in die Suppe ein, führte ihn zum Mund und pustete kräftig darüber. In heller Erwartung kostete ich vom Abendessen der Familie.
Ich konnte vor Anerkennung nur Nicken. Man konnte in diesem Gemäuer kein großartiges Bankett erwarten, aber aus den wenigen einfachen Sachen hatte Erna ein schmackhaftes Rezept gezaubert.
"Nur ein wenig ausgekochtes Schweinefett und ehrliche Zutaten. Für alles andere haben wir ohnehin kein Geld." teilte sie mir mit. Schon bald tischten wir auf. Gregor und Maria bestanden darauf, dass ich ihre Schüssel auffüllte. Dem Wunsch von Kindern kann ich nur schwer widersprechen, nicht?
Nachdem alle ihre gefüllte Holzschüssel bekommen hatten, wurde rings um das Feuer Platz genommen. "Würdet ihr mit uns ein Gebet sprechen?" bat mich Friedhelm. Und auch hier konnte ich nicht ablehnen.
Heilige Katharina,
auch am heutigen Abende wollen wir dir danken.
Für das großartige Mahl, das wir dank deiner Gabe
einnehmen dürfen.
Möge es unsere Leiber erfüllen und
auch am morgigen Tage ausreichend Kraft bieten.
Wir sind hier an deinem Feuer vereinigt,
um gemeinsam zu neuer Tatkraft zu finden.
Gib uns die Stärke, die wir für jeden neuen
Morgen brauchen.
Heilige Stephanie,
wir danken dir für deine Gaben der Äcker und des Feldes.
Nur mit ihnen gelingt es uns den Tag zu überstehen.
Nur dank Dir wissen wir, dass auch ein neuer Sonnenaufgang
neues Leben bringt.
So bitten wir dich, lasse auch an jedem neuen Tag die Felder
für uns erblühen. Erfülle die Welt mit deinem Leben und helfe uns.
Oh Katharina,
Oh Stephanie,
nur ihr seid es, die unsere Leiber befrieden.
So setzet auch weiter fort, wofür wir euch ewig dankbar sind.
Und so werden wir auch jeden Tag wieder für euch beten,
und stets die werten Opfer darbieten.
Wir danken euch für jeden Tag des Lebens und der Tatkraft.
Amen.
Die Familie sprach mir die Worte langsam nach. Nur der kleine Gregor konnte vor Hunger nicht abwarten und dachte, dass er verheimlichen könnte bereits zur Mitte des Gebets den ersten Bissen genommen zu haben. Deyn vergelts, hm? Sein Vater vergolt es jedenfalls nicht. Der kleine Ausfall wurde mit einer leichten Schelle geahndet. Gregor schien sie anscheinend gewohnt zu sein, zumindest blickte ich ihn fragender an, als er mich. Nicht einmal einen kleinen Aufschrei veranstaltete er. Nein, er nahm die Züchtigung einfach hin und aß weiter. Was für ein interessantes Kind.
Nachdem wir die Suppe verspeist hatten, legten sich die vier Familienmitglieder in ihre Schlafkojen. Jeweils ein Erwachsener nahm sich eines der Kinder, um sie auch in der Nacht warmzuhalten. Ich bestätigte derweil nochmals, dass ich mich auch mit einem Platz auf den Boden anfreunden konnte. Dennoch gaben sie mir ein paar weitere Stoffstücke, nur für den Fall. Am Ende konnte ich sogar halbwegs weich gebettet in das Reich der Träume eindringen. Was mich in dieser Nacht an Träumen befallen hatte, würde mich auch viele Nächte danach begleiten. Aber dazu an späterer Stelle in diesem Kapitel mehr.
Mit einigen wenigen Worten bedankte ich mich in den Morgenstunden bei Friedhelm und Erna. Sie wollten jedoch kein Geld für die Beherbergung annehmen, gaben mir sogar noch ein paar Möhren für Yuki mit. Ihre Kinder schliefen während meiner Abreise noch, sodass ich ihnen eine "Segnung" hinterlassen wollte. Jedem steckte ich ein paar Silberlinge in die Hosentaschen, sie würden sie sicher später finden und stolz ihren Eltern präsentieren. So konnte ich zumindest ein wenig Güte zurückgeben.
Es ist erstaunlich, wie freundlich und zuvorkommend die Menschen außerhalb der Unbekannten Lande sind. Wie sehr sie hier tatsächlich ihre Abscheu gegenüber dem Unweltlichen zeigen. Ihr Verständnis der Stände an den Tag legen. Völlig anders als die Menschen auf dieser verfluchten und doch irgendwo von Deyn beseelten Insel. Der Schneefall hatte über Nacht jedenfalls vollständig aufgehört. So war die Reise wenigstens etwas weniger beschwerlich geworden. Ich hatte freie Sicht über die Landschaft und konnte mich auf das Vorankommen konzentrieren. Jegliche Spuren waren dafür dahin. Völlig vom Schnee verschluckt und vereinnahmt.
Meine einzige Orientierung bot daher der Kompass der Kartographengilde. Ein Geschenk Kesslers. Dabei hat er nicht einmal meinen Namen richtig geschrieben. Dennoch, die Nadel zeigte stets genau nach Norden. Und so stampften Yukis Hufe über den eiskalten Boden, immer der roten Spitze des Kompasszeigers nach. Links und rechts bot sich über Tage hinweg nur der Anblick von Fichtenwäldern und kleinen Lichtungen. Im Unterholz röhrte es manchmal, als die Hirsche und Rehe sich ankündigten. Dann wieder kreuzte eine Rotte Wildschweine unseren Weg. Nachts hingegen erklang das Kreischen der Eulen und Krähen durch den Wald. Ich erinnere mich gut an eine Zeit, wo mir derlei Geschrei sicher einen Schrecken eingejagt hätte. Aber nach all dem sind sie mir eine willkommene Begleitung. Sie zeigen mir zumindest, dass ich noch am Leben bin und auf dem richtigen Pfad bleibe.
Eines Nachts kampierten wir in einer verfallenen Hütte. Ihre Wände standen nur noch halb, das Dach war vollständig eingefallen. Immerhin blieb noch eine erkennbare Feuerstelle an einer Außenwand übrig, die ich sogleich ausnutzte. Der größte Vorteil der Ruine blieb aber der Schutz gegen den Wind. Ein heftiger Schneefall setzte zu später Stunde wieder ein. Dank unserem Unterschlupf konnten wir zumindest dem gröbsten Teil des Ungewitters entgehen. Yuki legte sich sogar neben dem Feuer auf dem freigeräumten Boden nieder. Ich dagegen, ich wärmte mir die Hände an den glimmenden Holzstücken. Und blickte hinauf in die Sterne. Es war eine klare Nacht, trotz des Schneefalls. Ich erinnerte mich sogar daran, wie ich kurz überrascht war ein so klares Sternenbild erkennen zu können.
Ich lehnte meinen Kopf gegen die morsche Rückwand hinter mir und lauschte dem Knacken des Feuers. Den Geräuschen des nächtlichen Waldes. Dem Fallen des Schnees. Die kalte Nachtluft hielt mich zu wach, um sogleich einzuschlafen. Wie gern hätte ich bei solch einem lauschigen Anblick meine Klarinette ausgepackt und mit den anderen unter dem Himmelszelt gespielt. Wie damals, als wir Nacht um Nacht gemeinsam am Feuer saßen. Wochen-, manchmal monatelang durchquerten wir ruppige Landschaften oder zerstörte Dörfer. Doch nachts kehrte gleichsam immer Ruhe ein. Nur das besserwerdende Spiel unserer Instrumente klang durch die Dunkelheit. Es waren schöne Erinnerungen, die diese grausame und beschwerliche Zeit um vieles besser machten.
Vielerlei Dinge würde ich lieber vergessen, aber so funktioniert diese Welt nun einmal nicht. Was geschehen ist, bleibt geschehen. So ist die Zeit eben. Und selbst wenn ich sie zurückdrehen könnte, wäre es das Richtige? Was wenn nur noch mehr Schaden entsteht? Deyn Cador, dort hoch oben, würde sicher die Antwort parat haben. Vielleicht teilt er sie eines Tages mit mir. Lässt mich erneut von seinem unendlichen Wissenschatz lauschen. Nur damit ich wieder bereue und mir wünsche es dann doch nicht zu wissen.
Ich rieb meine Hände aneinander und beschloss, dass ich nur noch erfahren wollte, was wirklich wichtig ist. Oder was mir am Herzen liegt. Und das tat Franz allemal. Er war über die Jahre zu einem vertrauten Kameraden geworden. Sicherlich hatten wir eine verquerte Beziehung zueinander, aber macht uns nicht gerade das aus? Seite an Seite sprangen wir dem Tod von der Schippe. Mehr als einmal. Und am Ende blieb ich zurück, während er sein Leben für Deyn Cador ließ. Das war zumindest die offizielle Version.
Ich zog mir auch die letzte Decke über den Körper und beobachtete weiter den Himmel. Raphael hatte mir einmal die Positionen aller Planeten und einiger Sterne gezeigt. Es war eine lange Nacht, doch konnten wir nicht einschlafen. Stattdessen gingen wir hinaus in den Garten, wo er sein Teleskop feinjustierte. Ich brachte ein wenig Tee und die wohl besten Kekse der Welt. Nach uraltem Familienrezept von Mama Gerber, sie war ein wahrer Schatz.
In jedem Fall suchte Raphael den wolkenfreien Himmel ab und ließ auch mich immer wieder hindurchblicken, wenn er einen neuen Himmelskörper erspäht hatte. Zu jedem konnte er eine kleine Geschichte erzählen, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gemacht.
Er hielt die Linse zuerst auf die Sonne, dem Sternenzeichen des Sôlerben. Natürlich ließ er es nicht aus seine Theorie von den Sternen und ihrer Bewegung zu erklären. Für mich waren beide Ansichten einerlei, aber er schien einen wahren Aufschrei unter den Astronomen bewirkt zu haben. Dabei ging es nur um eine andere Flugbahn oder dergleichen? Ich entsinne mich nicht mehr ganz, zu viel Zeit ist vergangen. Bei nächster Gelegenheit müssen wir uns noch mal einen Abend im Turm nehmen. Ich hätte wohl beim ersten Mal bereits besser zuhören sollen.
Danach stellte er an mehreren der mechanischen Rädchen herum, um mir Viridis und Caballus zu präsentieren. Alt-Sorridianische Namen für diese umherfliegenden Himmelskörper. Wer hätte gedacht, dass ich sie eines Tages tatsächlich zu Gesicht kriegen würde? Und zwar ganz anders, als je erwartet. Ich darf aber auch genau so offen zugeben, dass mir all das Wissen Raphaels um Planeten und Sterne nichts gebracht hat. Nur dank Deyns Schutz, seiner ewigen Güte und nicht zuletzt seinem Fürspruch sitze ich überhaupt noch hier. Danke dafür, mein Herr – oder Deyn vergelts.
Es war lange her, dass ich über mich selbst schmunzeln musste. Zumindest konnte ich so mit einem Lächeln auf den Lippen einschlafen, bevor mich meine Träume mehrfach unsanft weckten. Wäre es nicht so eiskalt gewesen, wäre ich sicher schweißgebadet aufgewacht. Die Kälte vermag wohl doch noch einen positiven Aspekt zu haben.
Ich löschte unser Feuer ab, nachdem ich einigen Schnee zu Wasser geschmolzen hatte. Yuki und ich tranken begierig den kleinen Kochtopf mehrfach leer. Erst dann sattelte ich wieder auf. Wir passierten weitere Tage lang unzählige Fichtenwälder, mit dem leichten Unterschied, dass sich dieses Mal auch andere Baumarten dazwischenschummelten. Die Tierwelt um uns herum wurde lebendiger, je weiter wir uns von den großen Städten Tasperins entfernten. Neben einer Füchsin mit ihren zwei Welpen erspähte ich sogar einen einzelnen Mink! Ganz richtig, einen Mink – es war kein gewöhnlicher Nerz. Ihre Unterscheidung war recht einfach geworden, nachdem ich einmal die detailgetreuen Zeichnungen in einem Buch las. Es muss "Tierische Beute und ihre Jagdmethoden" gewesen sein, ungefähr vor zehn Jahren?
So sicher ich mir bei meiner Mink-Sichtung war, desto unsicherer war ich mir über meine aktuelle Position. Der Schnee verlangsamte unseren Ritt durch die Wälder merklich. War ich noch auf Seiten Tasperins oder längst in der Kurmark angelangt? Ich sah zumindest weit und breit keine Wachfeste, aber vielleicht hatte ich sie auch einfach verpasst. Oder blindlings im Schneefall übersehen? Ich hoffte zumindest einen wesentlichen Teil der Route bereits hinter mir gelassen zu haben. Die Kälte zermürbte mich mehr, als so mancher Gedanke an die Vergangenheit. Nicht nur Pferde können Warmblüter sein, hm?
An einem Tag machte ich wieder Halt in einem kleinen Bauerndorf. Die örtlichen Einwohner ließen mich und Yuki für ein paar Silberlinge im benachbarten Stall unterkommen und boten sogar etwas Futter für mein Streitross. Ich nahm nicht nur dankend an, sondern befragte sie auch gleich nach unserem Aufenthaltsort. Offenbar war es mir nach mehr als dreiwöchigem Ritt nicht einmal gelungen bis an die Grenze vorzudringen. Der kleine Tross aus Einwohnern bestand ausschließlich aus überzeugten Tasperinern. Die ersten alten Grenzposten würden aber keine Woche Fußmarsch mehr entfernt sein, wurde mir versichert. Befeuert vom Gedanken bald erstmalig in der Kurmark anzukommen, machte ich mich schon in den frühen Morgenstunden wieder auf den Weg.
In den anfänglichen Stunden jedes neuen Tages begrüßte mich stets derselbe Blick auf die Nadelbäume, der mich abends wieder in den Schlaf verabschiedete. Die durch ausnahmslos tristes Grünbraun geprägten Wälder schienen niemals aufzuhören. Meine Vorräte dagegen gingen langsam zur Neige. Zwar kaufte ich regelmäßig neues Essen bei jedem Bauern oder Händler, den ich finden konnte, doch waren auch deren Lager knapp bestückt. Und meine Münzen reichten nach monatelangen Reisen durch Leändrien nur noch für Zandig aus. Vielleicht sogar nur bis Zandig. Dennoch, ich wollte mir zunächst keine Gedanken über meine aufkeimenden Finanzprobleme machen und schlug daher in die Zügel.
Da hörte ich einen Ruf im Wald. "Hiiieerheeer." "Hieeeerheeeer."
Er kam von einer kräftigen männlichen Stimme und klang angestrengt. Ich trieb Yuki an, um der Stimme zu folgen. Vielleicht brauchte sie Hilfe? War in Gefahr?
"Steeeheeeen bleeeeibeeeen." hallte es wieder durch den Forst. Ich kam näher. Wir bissen uns durch den Schnee. Bald erspähte ich in der Ferne zwei miteinander gestikulierende Gestalten. Bereits aus der Distanz erkannte ich, dass einer von ihnen einen rot getränkten Arm hatte. War er verletzt? Wurde er durch sein Gegenüber verletzt? Ich war ebenso angespannt, wie Yuki vom Laufen durch den Schnee.
Das lautstarke Klimpern meiner Rüstung und Aufschlagen der galoppierenden Hufe kündigte unsere Ankunft schon aus ausreichender Entfernung an. Die beiden Männer schienen unser Eintreffen nur mehr abzuwarten und zu verfolgen. Spätestens als ich vor ihnen zum Stehen kam, erkannte ich, dass es sich nicht um eine Verletzung handelt. Vielmehr hatte der Mann zwei erlegte Hasen über seine Schulter gelegt. Ihr warmes Blut schien ihm über den Arm gelaufen zu sein.
An seiner Seite stand ein Soldat der Tasperiner Heeres in ziemlich miserabel ausschauender Uniform und Rüstung.
"Deyn .. äh zum Gruße! Seid ihr von den Sôlanern? Könnt .. könnt ihr mir helfen? Ich habe diesen Herren hier bei der Jagd ... Jagdwilderei erwischt!"
Der junge Soldat stotterte nicht nur hin und wieder, er schien auch sichtlich überfordert mit der Situation. Der Beschuldigte war mindestens doppelt so alt, hatte einen rauen Bart und war für die herrschende Kälte nur sehr leicht bekleidet. Seinen Bogen hielt er während seiner wilden Gestikulation mit festem Griff in der herumwedelnden Hand.
"Hört nicht auf ihn. Das ist grober Unfug! Deyns Jünger sind doch immer gerecht. Ich hab die Hasen nicht gewildert, ich darf das. Seit Generationen das Recht meiner Familie. Lasst mich gehen."
Die beiden stritten sich weiter, wobei recht klar erschien, wer ein Wortgefecht gewinnen würde. Und vermutlich auch einen Zweikampf. Der junge Soldat war es jedenfalls nicht. Wo hatte ich mich da gleich wieder hinein gestürzt?
Nachdem sie sich über einige unschöne Verse gestritten hatten, stoppte ich die lebhafte Diskussion. "Ruhe hier. Wenn ihr hier wirklich jagen dürft, dann wird es sicher kein Umstand sein für einen Augenblick mit zur Feste dieses Soldaten zu kommen?" schlug ich vor.
"Aber dann ist die Beute und der Tag dahin! Ich könnte heute sogar vielleicht noch ein Reh erwischen, wenn ihr mich gehen lasst. Ich darf hier jagen, so wie jeder andere auch. Dieser Milchjungen-Waschlappen hat doch keine Ahnung!" teilte der Jäger mit. Sein Widersacher bestand aber weiterhin darauf, dass er eben nicht jagen dürfe. Wieder stritten sie sich, warfen sich gegenseitig unschöne Begriffe an den Kopf.
"So wahr ihr unschuldig seid, setze ich mich dafür ein, dass ihr schnellstmöglich gehen dürft. Das lodernde Feuer des Sôlerben lügt nicht. Wenn ihr aber die Unwahrheit sprecht, so gnade euch Deyn."
"Ich .. äh", der Jäger begann zu stottern, wie der Soldat es in seinem normalen Sprachrhythmus tat. Und dann lief er einfach davon. Mit einer schnellen Kehrtwende drehte er uns den Rücken zu und versuchte durch den Wald vor seiner Strafe davonzulaufen. Ich schaute entspannt von Yuki herab auf den Soldaten. "Soll ich ihn für euch einfangen? Ihr müsstet mich nur einmal darum bitten."
Der junge Bursche schüttelte den Kopf. "Nein, nein .. soll er nur geh.. geh.. gehen. Der Winter ist lang und hart, er wird sicher seine Kinder damit .. damit ernähren. Aber danke für euer Angebot."
"Wärt ihr so gütig und würdet mir den Weg zu eurer Feste weisen? Gibt es dort eine Möglichkeit für mich und mein Streitross eine Nacht unterzukommen?"
"Ja, natür.. natürlich. Wir sind nur einen einstündigen Marsch entfernt. Ich führe euch gern dorthin, aber erwartet nicht zu viel. Es ist wirklich nicht der Stolz des Heeres. Ach, verzeiht meine Manieren – ich bin Soldat Brem Jochheim. Soldat im Tasperiner Heer, eingesetzt an der Nordgrenze zur Kurmark in der Feste Fremsberg." Er hielt mir die Hand am Pferd hoch. Ich schüttelte sie kurz und folgte ihm dann.
"Amélie, Schwester Amélie, vom Orden des Heiligen Sôlerben. Wie weit ist es von hier aus bis zur Kurmark und nach Zandig, Soldat Jochheim?" Langsam machten wir uns auf, durch den Schnee. Brem gab das Tempo wie auch das Ziel vor. Entlang einiger Spuren, die er offenbar selbst auf dem Weg her, hinterlassen hatte, gingen wir zur Feste Fremsberg.
"Bis zur Grenze sollte es nicht mehr weit sein. Mit eurem Pferd vielleicht ein oder zwei Tage? Nach Zandig könnt ihr während des aktuellen Schneefalls ein paar Wochen einplanen. Wenn ihr gut durchkommt, vielleicht drei? Eher mehr." Er stotterte auf einmal nicht mehr. Ich war ein wenig verwundert und hakte sofort nach.
"Ich stottere nur, wenn ich nervös bin. Vielleicht haben sie mich deswegen an diesen Ort versetzt? Weil hier nichts passiert und ich nichts falsch machen kann? Ihr werdet schon sehen, welche Elitetruppe man hier versammelt hat."
Brem schüttelte den Kopf, ging weiter ruhig voran. Nach etwa einer Stunde erhob sich eine kleine Burgfeste mit zwei gegenüberliegenden Türmen und einem zentralen Hauptgebäude vor uns. Durch ein kleines Tor gelang man in den relativ kleinen Innhof, der vor dem Hauptgebäude lag. Ein Mauergang schützte den Innenbereich vor Angreifern und Kälte. Doch als wir eintrafen, war weder die Mauer besetzt noch das Tor verschlossen. Stattdessen standen die beiden großen Holztüren sperrangelweit offen. Ich sattelte im Innenhof ab und ließ Yuki bei den drei Eseln stehen, die in einem hölzernen Unterstand untergebracht waren. Sie schienen sich halbwegs zu verstehen. Die Esel quickten vergnügt ob ihrer neuen Bekanntschaft. Yuki stellte sich so nah, wie möglich an die Tiere heran, um sich an ihnen zu wärmen. Er war eben nicht nur treu, sondern auch durchaus intelligent. Ein gutes Reittier.
Zu Fuß ging ich an Brems Seite die drei Stufen zur Burgtüre hinauf. Er machte sich nicht einmal die Mühe zu klopfen, sondern drückte die schwere Fichtentür direkt auf. Mit einem knarzenden Geräusch offenbarte sie mir einen Blick in den Innenraum. Vor einem großen lodernden Kamin saßen vier weitere Soldaten an einem Tisch. Einer hatte die Füße auf einem fünften Stuhl abgelegt. In der Mitte des Tisches lagen, um eine leere Flasche versammelt, Karten vor jedem Mitglied der elitären Heerestruppen. Brem und ich traten ein, schlossen die Tür hinter uns und wurden sofort von allen Soldaten begafft.
"Brem hat ein Weib mitgebracht! Ein echtes Weib hier oben! Ich werd nicht mehr. Außer der Dicken vom Kloßhof gibts hier doch keine Frauen!"
Ein anderer schlug ihm dafür gegen die Schulter. "Schau doch hin, du Depp! Das ist das Wappen von den Sôlanern. Sag nochmal Weib und sie kocht dich oder so.."
Mein Begleiter trat einige Schritte nach vorn und besaß die Güte mich vorzustellen.
"Das hier ist Schwester Amélie, von den Sôlanern, Korporal."
Ein Raunen durchfuhr die Soldaten. "Sag ich doch." "Wie kann eine Frau?" "Ist das eine Kontrolle?" "Wir haben immer brav gebetet, ja, ganz gewiss! Ihr könnt wieder gehen."
Wie ein Haufen aufgeregter Kinder. Ich schloss zu Bram auf.
"Seid begrüßt, werte Heeressoldaten. Ihr habt hier das Sagen?" Ich blickte den Korporal fragend an. Seine rote Nase und seine glasigen Augen verrieten einen ausgeprägten Alkoholkonsum, doch er nickte. "Wie euer Soldat schon richtig sagte, bin ich Schwester Amélie. Ich würde gern über Nacht bei euch Rast ersuchen. Gewährt ihr mir Einlass? Ich kann auch für euch kochen."
Der Korporal schreckte plötzlich hoch und salutierte. "Sehr wohl, einverstanden, Frau Weib Schwester Amélie. Ihr kocht und schlaft oben. Brem, bring mir eine Flasche vom guten Zeug. Lange her, dass eine Frau hier war."
Dann setzte er sich wieder auf den Stuhl, hob seine Karten an und warf eine von ihnen auf den Stapel bei den Flaschen.
Ich schaute verwirrt zu Soldat Brem Jochheim. Der konnte nur entschuldigend mit den Schultern zucken. "Kommt mit, wir haben ein freies Zimmer. Mit Holzbalken, damit niemand reinkommen kann. Legen wir eure Ausrüstung ab, danach stelle ich euch meine Kameraden vor."
Wir liefen an den vier Gestalten vorbei. Ich spürte ihre begierigen Blicke im Rücken. Man hatte ihnen seit Wochen und Monaten jeglichen Kontakt zur Außenwelt vorenthalten, in der Kälte des Winters. Ihre Triebe hatten sie zweifelsohne nicht im Griff. Mit ein paar einsamen Alkoholikern werde ich aber noch fertig, daher entschloss ich mich vorerst zu bleiben.
Brem zeigte mir ein einfaches, aber solides Zimmer. Mit einem massiven Holzbalken konnte ich die Tür versperren, damit mich nachts keine unliebsame Überraschung ereilt. Das kleine Fenster zeigte nach außen. So war ich auch von draußen vor den begierigen Blicken interessierter Spanner geschützt. Und das Bett bot sogar Platz für eine Kohlenpfanne. Ich gebe zu, dass mich gerade die Möglichkeit eines warmen Schlafplatzes mit Kohlenpfanne überzeugt hatte. Für das Erste streifte ich meine Rüstung ab, legte die Ledertaschen auf dem Fenstersims ab und ließ nur meinen Schwertgurt an der Hüfte baumeln.
Gemeinsam gingen wir die Treppe wieder herunter zum Rest der Gemeinschaft. Neben Brem waren noch der alkoholkranke Korporal Zeutz, der eindeutig an mir interessierte Soldat Widmer und die beiden Rekruten Buts und Adler auf der Feste Fremsberg stationiert. Brem stellte seinem Korporal eine neue Flasche starken Schnapses auf den Tisch, zog seinem Rekruten den zweiten Stuhl unter den Füßen weg und setzte sich selbst darauf.
Widmers Blicke blieben den ganzen Abend an mir und meiner kaum vorhandenen Oberweite hängen. Ich hielt mich aber mit anklagenden Worten zurück, solange auch er nur still schaute. Würde er jedoch nur eine eine Andeutung, ein einzelnes Wort oder gar eine Tat verlauten lassen, so hätte er eine romantische Verabredung mit dem Schnee draußen gewonnen. Buts und Adler wirkten noch viel unerfahrener, als es Brem war. Zwei Rekruten am Ende der Welt, in einer Feste in der sie nichts lernen und erfahren werden. Zugegeben, sie wirkten nur wenig traurig über die fehlenden Erfahrungen im militärischen Bereich.
"Fremsberg, hm? Nun, es gibt Schlechteres. Ich kriege meinen Sold, muss dafür nichts tun und kann ihn nichtmal für allerlei dumme Sachen ausgeben. Wenn ich wieder daheim bin, werde ich erstmal ins Freudenhause gehen und mich umfangreich beglücken lassen." berichtete Buts auf meine Frage hin.
Sein Kumpane Adler trat ihm gegen das Schienbein. "Das ist gegen Deyn Cador, sowas kannst du doch nicht machen! Vergiss nicht, dass sie eine Schwester ist. Wie kommt ihr hier überhaupt her? Ihr wollt doch sicher nach Zandig oder? Das wollen sie alle." Ich stimmte ihm mit einem Nicken zu.
"Welchen Rang habt ihr, Schwester?"
"Ich bin bescheidene Protektorin einer kleinen Ordensniederlassung. Und hoffe natürlich für euer Seelenheil, dass ihr noch nie ein Freudenhaus betreten habt. Die Ehe bleibt heilig." Ich zog meine Mundwinkel sanft nach oben.
Wieder sprang der Korporal plötzlich, wie aus dem Schlaf gerissen, salutierend auf. "Vermelde – die Ehe ist heilig. Haltet euch an die Vorschriften und den Glauben Deyn Cadors, sonst werdet ihr unehrenhaft entlassen. Weitermachen Soldaten!"
Dann setzte er sich wieder.
Es schien nicht einmal ungewöhnliches Verhalten für ihn zu sein. Seine Untergegebenen schenkten ihm keinen Deut Beachtung. Stattdessen setzten sie ihre Gespräche fort, ohne ihren Korporal auch nur anzuschauen. Brem sammelte derweil die Karten ein, mischte sie geschickt in seinen Händen und legte jedem einige vor. Auch mir. "Lasst uns spielen. Aber nicht um Geld. Mit Sôlanern spiele ich nicht mehr um Gulden, einmal hat mir einer ein blaues Auge deswegen verpasst. Kaisersherz kennt ihr sicher?"
Ich schüttelte den Kopf und bekam das Spiel schnell erklärt. Es war recht einfach gehalten, damit auch der betrunkene Korporal mitmachen konnte. Einen Ausschluss aus seiner Gemeinschaft würde er offenbar nicht tolerieren. Um im Kaisersherz siegreich zu sein, müsste man eine Adelsfamilie bestehend aus Herzog, Kaiser, Gattin, Prinzen und Konkubine sammeln. Mit einigen Tauschregeln und bestimmter Frage-Antwort-Regularien würde untereinander getauscht werden. Ein Kartenstapel bot zudem die Möglichkeit zum Ziehen neuer Karten. Brem verstand es das Spielprinzip verständlich zu machen, dennoch hatte ich nicht das Gefühl besser zu werden. Spiel um Spiel unterlag ich. Jedes Mal war ich an letzter Stelle, schied als erste aus oder wurde meiner Karten beraubt. Selbst als sie mir aus Mitleid ein weiteres Kartenset zugestanden, flog ich kurz darauf wieder aus dem Spiel.
Nach einem halben Dutzend Runden hatte ich genug. Als ich den Stapel zusammenlegte, grinsten mich fünf glückliche Augenpaare an. Mit einem Mal verfielen sie alle in ein höhnisches Gelächter und schüttelten weitere Karten aus ihren Ärmeln, Jackentaschen oder Stiefeln. "Hier spielt doch keiner gerecht. Ihr seid eine echte Ordensritterin, wir glauben euch. Nur gutgläubige Menschen betrügen hier draußen die Karten nicht." ließ Adler verlauten.
Ich seufzte. Nach allen Regeln der Kunst wurde ich vorgeführt und betrogen. Es fühlte sich nicht einmal mehr wie eine Niederlage an, sondern eher .. wie eine bittere Niederlage? Ich wusste auch nicht.
"Zeigt mir eure Küche und Speisekammer. Ich halte schließlich mein Wort." Brem erhob sich als Erster und Letzter. Nach wenigen Metern war die kleine Kammer erreicht, in denen ausreichend Vorräte für Monate gelagert haben müssen. Sie war zu wesentlichen Teilen leergeräumt. In den Ecken standen immer noch einige Säcke voll Kartoffeln und Rüben herum. "Die Küche ist nebenan, tobt euch ruhig aus. Von uns ist keiner ein guter Koch."
Mit diesen Worten ließ er mich allein zurück. Und bereitete mir so ein ideales Feld für meine kleine, aber feine Rache. Ich fand sogar allerlei Gewürzkräuter in einigen gut verschlossenen Gläsern. Die Soldaten hatten sie offenbar nicht einmal angerührt, sondern zuerst das Trockenfleisch verputzt und seitdem täglich einfachste Mahlzeiten zubereitet. Die Küche war weder aufgeräumt noch sauber. Ich hatte allerdings keine Muße ihnen auch noch hinterherzuputzen. Stattdessen ließ ich die Rekruten eine Holzplatte aus dem Hauptraum herübertragen und auf den Schmutz legen.
Als die beiden ohnehin schon bei mir standen, wurden sie direkt zum Schälen der Kartoffeln eingeteilt. Sorgsam ließ ich sie alle faulen Stellen und jegliche Schalen entfernen. Ich setzte derweil ein gutes patrisches Karé auf. Einige angebratene und angeschmorte Gemüsestückchen mit durchgekochter Kartoffel flossen mit meiner selbstgemachten Soßenpaste zusammen. Deyn sei Dank hatten die Herren die Kräuter nicht angetastet. So gelang es mir irgendwie eine dickflüssige Paste anzurühren, die alles zusammenführte. Nachdem ich rund anderthalb Stunden in der Küche verbrachte, strömte ein erster wohlriechender Duft durch den Raum. Die Soldaten mussten ihn auch vernommen haben. Sogleich standen fünf neugierige Köpfe in der Tür. Allesamt verbannte ich sie aber wieder an den Tisch.
In weiser Voraussicht stellte ich mir gleich zwei Teller raus und füllte diese mit meinem Teil der Mahlzeit. Sie würden nur für mich sein. Denn die betrügerischen Soldaten bekamen eine äußerst geschmacksintensive Gewürzmischung als Belohnung. Die Schärfe würde sicher ihre vorlauten Mäuler schließen.
Ich brachte den Topf in ihre Mitte und beobachtete sie beim zielgerichteten Auffüllen ihrer Holzteller. Ohne auch nur an ein Tischgebet zu denken, schoben sie sich die ersten Bissen in den Hals. Jeder einzelne von ihnen lief rot an. Aber sie konnten nicht aufhören zu essen. Nach Wochen der trockenen Kartoffeln und einfachen Kost, war es offenbar zu verlockend. Schnell liefen ihnen die Nasen. Dem Korporal tränten sogar die Augen. Und doch blieb am Ende nicht ein Stück übrig. Die Teller und selbst der Topf wurden blitzeblank hinterlassen.
"Wie konntet ihr das nur ohne eine Träne zu vergießen essen?" "Es war so intensiv, aber lecker." "Könnt ihr nicht bleiben und uns .. jeden Tag bekochen?" Ich lächelte ihre Reaktionen sanft hinab. Stattdessen interessierte mich viel mehr, was diese einfachen Gestalten in die Ränge des Militärs trieb.
Die beiden Rekruten waren sich nicht ganz einig, weshalb sie überhaupt da waren. Einerseits war es der Wunsch harter Arbeit zu entgehen, andererseits suchten sie Anschluss und Gemeinschaft. Vielleicht fanden sie ihn hier draußen ja?
Der Korporal sprang wieder auf. Dieses Mal erwartete ich es glücklicherweise schon. "Der Dienst für das Kaiserreich ist die höchste Anerkennung, die ein einzelner Mann ihrer Majestät erbringen kann. Wir dienen mit Stolz überall auf dieser Welt!" Danach setzte er sich wieder, um sich seiner Flasche zu widmen.
Widmer sprach, wie auch am restlichen Abend gar nicht. Er betrachtete mich nur weiter. Ob er hätte sehen wollen, was wirklich unter dieser Rüstung steckt? Ich schätze, dass er sich in seinen feuchtesten Träumen nicht einmal hätte ausmalen können, wie zerschunden mein Körper in Wahrheit war. Deyn sei wirklich dafür gedankt, dass ich hier eine eigenen Kammer für die Nacht bekam.
Brem dagegen hatte sein ganz eigenes Motiv. "Ich wollte hinaus in die Welt, wisst ihr? Ich dachte, dass ich vielleicht der Marine beitreten kann und so etwas sehe. In Severien war nie etwas los. Ich wollte nicht Holzfäller werden, wie Pa. Aber ich bin durch die Musterung geflogen, wurde zum Heer weiterempfohlen. Ich hab vom Dienst in einer Stadt geträumt. Tja, Ausbildung in der Bühlmark. Im wirklichen Nichts, und seitdem bin ich jedes Jahr viele Monate hier. Nur für ein paar Wochen kann ich zurück in die Heimat. Sogar meine Angetraute hat mittlerweile einen Besseren gefunden. Dafür kenn' ich diese schneeverwehten Gipfel, wie meine Westentasche." Er lächelte müde auf, griff sich die Flasche seines Korporals und genehmigte sich einen tiefen Schluck.
"Jetzt verratet mir wenigstens, was ihr bei den Sôlanern sucht. Ich habe genug erzählt."
"Mein Leben galt als Kind schon Deyn Cador. Ich war eine Waise und kannte nichts anderes. Ich habe für und mit Deyn gelebt. Und nun? Kämpfe ich allzeit und überall für den Herren. Nennt es Schicksal oder Bestimmung, aber ich fühle mich wohl darin. Es ist sicher nicht immer leicht. Ganz bestimmt ist es das nicht. Doch bleibt es die größte Erfüllung. Mich aufzuopfern für alle Gläubigen und verlorenen Seelen."
"Was für eine poetische Antwort. Damit gehe ich ins Bett." Brem erhob sich und wanderte ins obere Stockwerk. Ich schloss mich ihm an. Nur betrat ich dabei das mir zugewiesene Zimmer, verriegelte die Tür und legte mich ins Bett. Einige Kohlen- und Glutstücke in der Pfanne würden mich die Nacht über warmhalten. Ich streifte mir die letzten Kleidungsstücke vom Körper ab und schlüpfte nur in Hemd und Leinenhose unter die wärmende Decke.
Mit offenen Augen betrachtete ich noch einige Augenblicke die über mir liegenden Dachbalken. Ich zählte die einzelnen Bolzen, lauschte dem Gelächter ein Stockwerk tiefer. Bis ich in meine Träume abglitt. An dieser Stelle ist es wohl endlich Zeit diesen schmerzhaften Traum aufzuschreiben. Vielleicht werde ich so leichter mit ihm fertig oder vergesse ihn gar. In jedem Fall ist es besser, als es alles in mir zu behalten und daran zu verzweifeln. Schließlich erfüllte er mich in jener Nacht auf eine ganz besondere Weise.
Ich wachte in einer kleinen, gemauerten Zelle auf. Meine Hände waren in Ketten gelegt. Am Körper trug ich nur einen einfachen Leinensack. Ich fühlte mich ausgehungert, elend und zum Sterben verurteilt. Selbst, als ich es mit aller Kraft versuchte, konnte ich mich kaum auf den Beinen halten. Ich wankte, stolperte und schlug nach zwei Schritten bereits wieder auf dem Boden auf. Meine Knochen schmerzten, als wäre es nicht meine erster Versuch gewesen. Es war von vorneherein zum Scheitern verurteilt.
Von da an krabelte ich mehr durch die Zelle, als das ich lief. Meine Hände legte ich um meine aufgeschürften Knie. Nur um den Schmerz ein wenig zu unterdrücken. Mit dem Rücken lehnte ich an der Wand und wartete auf das Unvermeidliche. Wie in zahllosen Nächten zuvor auch, kamen bewaffnete Wärter und packten mich unter den Armen. Normalerweise würde ich mich niemals so einfach vorführen lassen. Aber ich war so schwach. Am Ende meiner Kräfte, völlig ausgemergelt und verlassen. Selbst wenn ich gewollt hätte, ich konnte schlichtweg nicht. Oft genug hatte ich es versucht. Einmal bekam ich tatsächlich einen Schwertgriff in die Hand, nur um einen Augenblick später zusammengeschlagen zu werden. Ein anderes Mal bekam ich eine deutlich härtere Kopfnuss zurück und küsste sogleich den Boden.
Es hatte keinen Zweck. Es war unausweichlich.
Sie griffen mich. Die kräftigen Soldaten zogen meinen schlaffen Körper in ihrer Mitte hinter sich her. Bei jedem ihrer Schritte über die Treppenstufen schlugen erst meine Knie, dann meine Beine, gegen die Steinkanten. Der Schmerz betäubte irgendwann so sehr, dass ich es nur noch geschehen ließ. Ich besaß nicht einmal mehr genug Kraft, um zu versuchen diesem kleinem Leid zu entgehen. Nach mehreren Aufgängen lag sie vor uns – die große Eisentür.
Mit einem kräftigen Klopfen wurde sie von Außen aufgezogen. Mir strahlte die hochstehende Sonne ins Gesicht. Ich wurde gar so stark geblendet, dass ich nichts mehr sehen konnte. Ich kniff meine Augen zusammen, nachdem ich eine lange Zeit in der Dunkelheit verbracht hatte. Licht war mir abkömmlich geworden, und doch bestand mein Verlangen zu sehen, was vor mir lag. Dabei wusste ich es längst. Und gerade die lauten Rufe der pöbelnden Menge klangen mir ohnehin jeden Morgen noch in den Ohren.
Ich befand mich auf einer hölzernen Bühne mit allerlei martialischen Foltergeräten. Es war das Herzstück eines grausamen Ortes, der von Menschen nur so umringt war. Sie alle wollten diejenigen Seelen leiden sehen, die hier hinaufgeschleift wurden. Pöbelnde Rufe des Hasses klangen nach oben. Ihre wütenden Stimmen hinterließen nur unverständliche Worte, und doch kamen alle darin geladenen Emotionen bei mir an. Egal, ob es Wut oder Hass, Neid oder Missgunst war – sie ließen auch meine restlichen Kräfte verfliegen. Es war zum Heulen. Wirklich, nichts anderes hätte ich in dieser Situation lieber gemacht. Und doch fehlte mir auch dazu jeglicher Wille, jegliche Energie. Ich hing einfach nur leblos zwischen meinen Peinigern.
Sie hievten mich in einen eisernen Käfig hinauf und ließen mich hinab. Ich war eine von vielen. Eine bedeutungslose Gestalt inmitten der Gefangenen. Ich war eingesperrt und hilflos. Wenigstens war ich nicht allein.
Wenigstens war ich nicht allein?
Ja, denn sie alle waren auch da. Jeder in seinem eigenen Käfig. Gebeutelt. Misshandelt. Zerrüttet. Raphael. Jule. Friedrich. All diejenigen, die unsere Taten überlebten und sie mitnahmen. Wir hingen aufgereiht, wie Verbrecher, die nur auf ihren Tod warteten. Hinter uns trat ein beleibter Mann auf die Bühne. Ich kann mich nicht einmal mehr entsinnen, wie er aussah. Mir fehlte die Kraft mich einfach nur umzudrehen. Meine Beine hingen durch die unteren Gitterstäbe hindurch, wie die einer leblosen Holzpuppe. Mein Kopf war nach vorn gekippt, hielt nur dank meines metallenen Käfigs.
In meinem Rücken ertönten Fanfaren. Erst danach wurde eine lange Liste an Anschuldigungen und Verbrechen verlesen, der wir uns alle schuldig gemacht haben sollen. Die Strafe war mir bereits beim ersten Punkt verständlich geworden. Es wartete der Tod, wie so oft auf dieser Welt. Doch würde er weder schnell noch gütig sein. Renbold würde uns niemals finden. Unsere Seelen würden irgendwo festhängen oder hinabgestoßen werden. Vielleicht war es genau das, was mir auch den letzten Willen zur Gegenwehr nahm. Nicht einmal die ewige Erlösung mit ihrem gerechten letzten Urteil sollte uns zukommen. Wie konnte man einzelne Menschen nur so missachten und verhöhnen?
Tja, wir erfuhren es am lebendigen Leibe. Nach der Verlesung wurden die Käfige vor die Menge gesenkt. Unter strenger Überwachung, dass wir nicht versehentlich zu früh umgebracht werden, geigten uns irgendwelche Menschen ihre Meinung. Einige holten mir ihrer Faust gegen meinen Kopf aus, andere schlugen mit Knüppeln gegen meine Beine. Es schmerzte. Ich leidete. Aber niemals so sehr, wie in anderen Träumen. Es wirkte gar, als hätte ich so viel durchgemacht, wie noch nie zuvor. Als wäre ich müde geworden. Vom Leben. Vom Kämpfen. Ich hatte längst aufgegeben. So wie meine verbliebenen Freunde neben mir. Niemand zeigte auch nur einen Ansatz von Gegenwehr. Sie alle hingen leblos in ihren Gefängnissen und ließen geschehen.
Wir wurden bespuckt. Wir wurden mit faulen Eiern beworfen. Mir zogen sie an den Haaren oder rammten mir in einer unachtsamen Sekunde des Wärters eine kleine Klinge in das Bein. Doch all das schien vergebens. Ich hatte längst abgeschlossen und blickte nur in die Gesichter der vorbeiziehenden Menschen. Empfand ich Abneigung oder Abscheu? Tat es mir gar Leid, wie sie sich verhielten? Ich konnte nicht einmal das mehr so genau sagen. Ich wollte einfach nicht mehr. Ich konnte einfach nicht mehr.
Egal, ob Mann oder Frau, Kind oder Greis, es machte nichts aus. Selbst als mir faules Obst die Sicht nahm, akzeptierte ich es. War das noch ich? War ich zu diesem Wesen geworden, das da im Käfig hin? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Doch dann erkannte ich eine dunkelbraune Lockenmähne in der Warteschlange. Der dazugehörige Bart und die durchdringenden blauen Augen, ja. Zweifelsohne, ich kannte diesen Typen. Just hatte er Raphael glühenden Pfeifentabak auf den Fuß gedrückt. Und nun stand er vor mir. Sein missgünstiges Grinsen ähnelte seinem Ausdruck, als er mir einmal Blumen an der Prioreistür gebracht hatte. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass mir jemand Blumen geschenkt hatte. Es war natürlich eine Freude gewesen, aber gleichzeitig warf es mich auch aus der Bahn.
So wie seine Anwesenheit hier und jetzt. Es ist eben etwas anderes, wenn man von Unbekannten beschimpft wird oder von Gestalten, die man teils jahrelang jeden Tag sah. Er stellte sich aufrecht vor mir hin. Mit seiner linken Hand packte er meine Haare und zog mein Gesicht in die Höhe. Ich hatte keine andere Wahl, als ihn anzuschauen. Eisblaue kalte Augen starrten mich an. Als ob er etwas suchte; oder längst gefunden hatte. "Ihr könnt nichts vor mir verbergen." ließ Leto Kynes verlauten. Dann knallte mein Kopf wieder gegen die Eisenstäbe und er verschwand in der Menge.
Ich spürte, wie sich mir der Magen innerlich umdrehte. Ich verstand so wenig, und doch so viel. Nur durch diesen einen Moment. Es war das erste Mal, dass er in dieser Menge aufgetaucht war. Es war wie ein betäubender Schock, der mich wachrüttelte. Zumindest mein Ich im Traume.
Ich setzte mich auf. Und entfesselte damit den Zorn der Menge. Ein hasserfüllter Mob griff sich alles, was sie von mir zu fassen bekamen. Sie rüttelten an meinem Käfig, drückten ihn vor und zurück. Ich begann zu schaukeln, versuchte meine Beine zurückzuziehen. Doch unzählige Hände hielten sie an Ort und Stelle fest. Mehrere Schläge ließen meine Knochen splittern und mich vor Schmerz aufschreien. Erst dann brachten die Wächter wieder Ordnung in die Menschenmasse.
Ich baumelte wieder leblos umher und ließ das Leid über mich ergehen. Aber .. ich konnte mich selbst nicht davon abbringen. Ich fing an zu suchen. Wenn er hier war, war er sicher nicht allein. Es müssen weitere Menschen hier sein, die mir etwas mitteilen wollen. Die mir eine Botschaft überbringen.
Es dauerte nicht lang, da fielen mir die dichten roten Haarbüschel einer Frau vor mir auf. Ihr blasses Gesicht hatte sich vor Zorn rot gefärbt. Ihre kleine Nase wirkte in diesem Farbton beinahe lächerlich. Dabei .. sollte ich mich mittlerweile vor ihr fürchten. Ich bin mir sicher, dass sie mir zuvor nicht wohlgesonnen gegenüberstand. Mehrfach hatte ich sie fast exkommuniziert oder vom Prioreisberg geworfen. Und nun rächte sie sich an mir. Eine Hand voller Pferdemist flog in meine Richtung. Zielsicher traf das Geschoss den Käfig, spaltete sich am Gitterstab und besengte meine blutgetränkte Kleidung mit einem Haufen stinkenden Dungs. Es war wohl die Zeit für Rache gekommen. Doch .. weswegen?
Mein lädierter Kopf schaffte es nicht mehr darüber zu philosophieren. Wollte ich doch gerade meine Aufmerksamkeit von der Menge ablenken und mich lieber dem Überleben widmen, wurde ich just unterbrochen. Eine kleine zierliche Frau mit geflochtenem hellem Zopf positionierte sich neben einem ungepflegten braunhaarigen Hünen vor mir. Während sie in die Kluft einer dieser widerlichen Magierakademien gehüllt war, kam er in aufwendiger Lederkleidung daher. Einvernehmlich nickten sie sich irgendetwas zu. "Für das, was sie vor uns verbarg, ist der Tod viel zu milde." Zwei Egoisten, wie Deyn sie nicht hätte besser kreieren können. Sie ließen mich mit ihren Gebräuen leiden. Mit den Zähnen entkorkte er eine triefende Flasche und goss mir in den Inhalt über.
Ich wusste nicht, was mit mir geschah. Ich merkte nur, dass mein Schmerzempfinden zurückgekehrt war. Ein unheimlicher aufquellender Brand tat sich auf meiner Haut auf. Ich schrie, wie eine nie dagewesene Sirene der Meere. Meine Haut ging in lodernden Flammen, dann wieder dampfendem Eis auf. Ich durchlebte alle Stufen der Einkehr in das Fegefeuer. Gleichzeitig. Meine Augen ließen nur noch verschwommene Lichter erkennen. Jeder Atemzug fühlte sich an, wie ein grausames Ertrinken in feurigem Gewässer. Ich keuchte, weinte plötzlich wieder und kippte nur noch kraftlos leidend hinten um.
Dann erwachte ich. Schweißgebadet in meiner Kammer. Die Sonne war längst noch nicht hinter den ewigen Fichtenwäldern aufgegangen. Dennoch konnte ich kein Auge mehr zudrücken. Ich war geschafft, fertig. Und tastete mühselig jeden einzelnen Fleck meines Körpers ab. Ich musste mich vergewissern, dass ich noch lebte. Unversehrt war. So unversehrt, wie man meinen Körper eben beschreiben mag.
Ich richtete mich auf und saß bestimmt eine halbe Stunde nur auf der Bettkante. Meine alten Wunden begannen wieder zu schmerzen und hinderten mich an weiteren Bewegungen. Es fühlte sich an, als ob sich tausende kleine Nadeln wieder in meinen Körper bohrten. Meine Narbe am Hals pulsierte, als ob das Gift sich noch in mir befände. Und in meiner Wange spürte ich wieder die unmenschlichen Zähne des verdorbenen Paule Pfeiffer. Meine Atmung wurde hysterisch und schwerfällig, obwohl ich nur da saß. Hatten diese Erinnerungen meine alten Wunden wiederbelebt? Irgendwann fiel ich nach vorne über, kauerte mich zusammen und betete.
Oh Deyn Cador,
erlöse mich von all dem Leid.
Lasse mich dir huldigen und
erlöse mich von all dem Leid.
Nimm meinen Schmerz in dir auf und
erlöse mich von all dem Leid.
Zeig deine ewige Güte und
erlöse mich von all dem Leid.
Akzeptiere all meine Opfer und
erlöse mich von all dem Leid.
Sei mein Herr und Hirte,
nur erlöse mich von all dem Leid.
Ich bitte dich so sehr,
auf das ich alles an dich gebe.
Nur erlöse mich von all dem Leid.
Amen.
Dutzende Male sagte ich die Verse am Boden liegend vor mir auf. Jedes Mal, leidender und bettelnder. Irgendwann fühlte ich mich, wie ein einsamer Hund auf der Straße. Nach langen Stunden ließ die Qual endlich nach. Ich konnte wieder aufstehen und mich setzen. Als ob die vergangenen Schmerzen gänzlich vergessen waren, so als ob sie nie zurückgekehrt wären. Ich konnte Deyn Cador nicht genug danken. Er war noch hier, an meiner Seite. Ich war glücklich und wusste dieses Zeichen zu deuten. Ich musste meine Reise fortsetzen, konnte hier nicht länger bleiben.
Die Sonne war trotz meiner Strapazen längst nicht über den Horizont hinausgezogen. Stattdessen lag ein dunkler Nebel über der Landschaft, der nur von den hohen Mauern der Burg abgehalten wurde. Ich packte meine Ausrüstung zusammen und begab mich in das untere Stockwerk. Nach ihrem allabendlichen Saufgelage waren der Korporal und einer der Rekruten offenbar auf den Stühlen eingeschlafen. Grazil bewegte ich mich um sie herum in die Küche. Ich setzte gleich drei große Töpfe mit einfachen Eintöpfen auf, die in wenigen Stunden fertig sein würden. Während die Soldaten ihren Rausch ausschliefen, kochte ich genügend Mahlzeiten für die nächsten Tage. Wer glaubt, dass ich hier aus reiner Nächstenliebe handelte, wird leider enttäuscht werden. Mir selbst füllte ich auch einige Behältnisse ab, sie würden hoffentlich für die nächste Woche reichen.
Ohne mich zu verabschieden, öffnete ich die schwerfällige Tür. Als ich heraustrat, kletterte die Sonne langsam am Himmel hinauf. Die ersten Strahlen des neuen Tags durchbrachen den Nebelschleier. Yuki schlug bereits freudig mit seinem Schwanz umher. Er verabschiedete sich nur widerwillig von seinen Freunden, den drei Eseln. Letztlich gehorchte er aber treu, wie immer zuvor.
In einem schnellen Trab durchquerten wir die schneeverhangenen Landschaften der Tasperiner Grenzregion. Nur die Wälder und das Geschrei des Waldes begleiteten uns auf diesem beschwerlichen Weg, der uns aber letztlich zum Grenzstein führte. Mit einem Schritt war es getan. Die Kurmark war endlich erreicht. Und bald würde ich in Zandig ankommen.
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"Nicer Cock, Schussi" - Christian, 06.12.2019
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03.12.2020, 01:22 AM
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 19.01.2021, 03:24 AM von Feuerfrosch.)
XIX – Die Kurmark
16.04.1352
Das Erzbistum Kurmark. Heimat aller Sôlaner und Zentrum des Sôlerben. Es lag vor mir, oder vielmehr: ich stand bereits mitten drin. Äußerlich machte es kaum einen Unterschied, ob man sich im Norden Tasperins oder im Süden der Kurmark befand. Endlose Nadelwälder reihten sich weiterhin bis zum Horizont und noch weit dahinter auf. Eine unbändige Natur konnte hier wuchern und wildern, wir Menschen waren nur kleine Störfaktoren. Wo andernorts jedes neue Dorf für eine Katastrophe sorgte, machte sich hier niemand etwas aus den stümperhaften Versuchen der Siedler.
Die versprenkelten Dörfer lagen versteckt unter der nur langsam abschmelzenden Schneedecke. Im tiefsten Winter konnte es sogar vorkommen, dass man mehrere Wochen im Haus verbringen musste. Nur ein Loch in der Decke ermöglichte einen Blick nach draußen, die Fenster und Tür waren von den Massen an Weiß blockiert. Und wem das Feuerholz ausging, der erfror zu einem Mahnmal des harten Winters. Im Sommer stand schweißtreibende Feldarbeit bevor, damit ausreichend Vorräte für den Rest des Jahres gesammelt werden konnten. Die Kurmärker und ihr Vieh überlebten nur nach einer zumindest ausreichenden Ernte. Eine Dürre bedeutete eine Katastrophe für das ganze Land.
In anderen Worten ausgedrückt: Das Leben hier oben war alles andere als einfach. Das Überleben hingegen manchmal sogar brutal und unbarmherzig. Ich behielt diese Worte immer im Hinterkopf, während Yuki und ich uns durch die Schneeberge kämpften. In Tasperin entdeckte ich nur wenige Tiere, doch hier blühte das Leben. Entlang der Spuren von Schneefüchsen und Wölfen konnten wir die nächstgelegenen halbwegs freien Wasserstellen ausmachen. Und dank der tänzerischen Flüge manches Vogels waren sogar die verschütteten Häuser auffindbar. Schließlich friert niemand gern, nicht einmal ein kleiner Winterspatz.
Mir schlotterten unentwegt die Knie. Selbst auf Yukis vergleichsweise warmen Rücken hielt ich es nicht lang in der Kälte aus. Regelmäßig mussten wir anhalten, um ein kleines Feuer zu entzünden. Ich konnte nicht anders, als mich aufzuwärmen, selbst wenn es viel Zeit kosten würde. Ich nahm sie mir. Ich musste sie mir nehmen. Denn wer hier oben dem erbarmungslosen Winter keinen Respekt zollt, bezahlt einen teuren Preis. Fehlende Zehen und Finger sind bei den meisten Sôlanern keine Zeichen fehlender Kampferfahrung. Nein, oftmals sind sie der Kälte Kurmarks und einem Augenblick der Überschätzung und Unachtsamkeit geschuldet.
Ich entschied mich dafür, dass ich meine Gliedmaßen gern noch ein Weilchen länger behalten wollte. Und so ließ ich Feuer um Feuer auflodern. Wir rasteten an manchen Tagen mehr, als das wir wirklich reisten. Aber wenn ich eins von Jule gelernt habe, dann war es mich vor den Wintern zu hüten. Ich hoffe, dass es ihr gut geht. Und natürlich auch dem Rest meiner Ordensbrüder. Sie haben es sicher nicht einfach ohne mich. Aber ich weiß, dass sie es schaffen. Zumal sie auch gar keine andere Wahl haben. Wir sind alle irgendwie ersetzbar, egal ob Kaiser, Gouverneur oder Landarbeiter. Irgendwann folgt jemand anderes auf unseren Platz. Und nach etlichen Jahren sind unsere Errungenschaften nur noch Zeilen auf vergilbtem Papier, oder gleich ganz vergessen.
Ich kraulte Yuki regelmäßig seine lange Mähne, oder hinter den Ohren. Wenn wir nur einander hatten, wollte ich ihm wenigstens einen Teil von mir geben. Insgeheim hoffte ich natürlich, dass wir uns eines Tages – auch nach unserem weltlichen Ableben – dort hoch oben an Deyns Seite wiedersehen werden. In vielen Teilen der Heiligen Schrift werden unsere treuesten Begleiter nicht einmal erwähnt. Aber wer wünscht sich nicht, dass unsere Hunde, Katzen oder Pferde ihre eigene Seele in sich tragen? Sie haben schließlich ihr eigenes Wesen. Eine eigene Persönlichkeit. Auch sie sind Teile von Ordnung und Chaos. Und bleiben damit hoffentlich für immer an unserer Seite. Als Ausdruck des Dankes und der Wertschätzung. Gegenseitig.
Drei Tage ritten wir durch die Kälte des Nordens. Drei lange Tage, in denen ich meistens in kleinen Höhlen oder verlassenen Unterständen übernachtete. Als die Nacht über uns hereinbrach, sanken die Temperaturen stets noch weiter ab. Yuki und ich fingen sogar an, uns zusammenzukuscheln. Ich legte mich vorsichtig an seinen großen Körper und zog die Decken über unsere Leiber. Manchmal hatte ich ein wenig Angst, dass er austritt. Oder, dass ich ihn dank meiner Albträume mitten in der Nacht aufschrecke. Aber irgendwie ging alles gut. Wie ein großer Beschützer lag er um mich herum. Wich niemals von meiner Seite. Als hätte man ihn zu mir geschickt, um seiner ganz eigenen Aufgabe nachzukommen. Vielleicht kamst du deswegen bisher immer zu mir zurück, alter Freund?
Im Dickicht der Nadelwälder erhob sich ein steinernes Gemäuer in der Ferne. Der erst massive Bauch und später spitz zulaufe Turm ließ nur eines vermuten: Vor mir lag eine Niederlassung der Heiligen Inquisition. Es war eine spezielle Art der Sôlaner die Ordnung zu wahren. Sicherlich keine, die mir besonders gut gefiel. Aber für den Moment würde sie mir einen passablen Unterschlupf bieten, in dem ich vor allem den schnellsten Weg nach Zandig erfahren könnte. Ich schlug daher wiederholt in die Zügel, ließ Yuki über Stock und Stein bis zum windumblasenen Gemäuer voranschreiten.
Als ich vor dem großen Eingangsportal ankam, begrüßte mich sogleich das im Wind flatternde Sonnenauge. Man sagt, dass Sôlerben selbst durch das Auge der Inquisition blickt. Er will damit die Ordnung aufrechterhalten und jegliche Boten des Chaos schon aus der Ferne erspähen können. Wir Sôlaner machen es uns gern einfach die Kontrolle zu behalten.
Ich atmete tief ein und ließ den Türring auf das hölzerne Eingangstor schlagen. Nach wenigen Augenblicken konnte ich mehrere Schritte vernehmen, die sich auf mich zubewegten. Die Tür wurde aufgezogen und mich begrüßte ein dicker, bärtiger Ordensmann. Sein graubrauner Bart, seine buschigen Augenbrauen und sein beleibter Oberkörper ließen ihn nicht wie einen strengen Verfechter der Inquisition wirken. Man hätte ihn vielleicht eher in einer Backstube vermuten können. Aber ich stellte wohl zu Unrecht zu viel auf sein Äußeres ab.
"Sôlerben zum Gruß, junge Streiterin. Bringt ihr die Kunde aus Zandig?" raunte er mir mit seiner tiefen, rauchigen Stimme entgegen.
"Nein, ich, verzeiht, ich bringe keine Kunde aus Zandig. Ich wollte euch nur um Einlass und Unterschlupf für eine Nacht ersuchen. Ich bin selbst auf dem Weg nach Zandig und der ...".
Er unterbrach mich abrupt, schnitt mir das Wort ab. "Der Winter, jaja, immer dasselbe. Der Stall ist auf der Rückseite. Stellt euren Gaul da ab und kommt rein, den Rest besprechen wir drinnen. Seid wohl nicht gemacht für solches Wetter, hm? Braucht ein bisschen mehr Winterspeck". Er lachte höhnisch auf.
Ich drehte mich dagegen von ihm weg und führte Yuki in den hinter dem Gebäude liegenden Stall. Er war nicht besonders groß, aber immerhin halbwegs warm und in Stroh gebettet. Yuki würde ihn in dieser Nacht vermutlich für sich allein haben. Der Stall, wie auch der Turm, waren – bis auf wenige Ordensmitglieder – leer.
Im Untergeschoss wurde mir eine der vielen Schlafkammern gestellt. Anschließend wurde ich in den Gemeinschaftsraum eingeladen, wo ein großer Suppentopf über dem Feuer brodelte.
Mit seinen kräftigen Armen füllte der bärtige Sôlaner einige Schüsseln auf und stellte sie reihum auf den Tisch. Wir sprachen gemeinsam ein kleines Tischgebet und fingen an, unser Mahl zu verzehren.
"Ich heiße euch alle nochmals im Inquisitionsturm Kortskruk Willkommen. Mein Name lautet Alarn Pobnik und ich unterhalte diesen Turm im Namen des Sôlerben. Die Regeln sind recht einfach. Ihr dürft euch an Speis und Spiel bedienen, wie ihr mögt. Doch betretet niemals die oberen Stockwerke ohne mein Einverständnis. Tut ihr es doch, folgt eine Inquisitionsanklage. Ihr wisst alle, was das heißt. Die Erkenntnis ist es weder wert, noch ist sie spannend. Lasst uns stattdessen hierbleiben und uns unterhalten". Zufrieden schlug er sich auf seinen dicken Bauch und löffelte seine eigene Suppe. Als wir beide halbwegs fertig mit unserer Mahlzeit waren, wandte er sich zu mir.
"Das ist ein stattlicher Gaul, den ihr da habt. Ein Wallbacher, nicht? Woher habt ihr ihn?"
"Nein, ich muss euch leider enttäuschen." Ich schüttelte sanft meinen Kopf. "Yuki ist ein Zweibacher. Er war ein Geschenk von Erzbischof Michael Bonnington, als wir in den Kreuzzug nach Szemää aufbrachen. Deyn habe seiner seelig."
Alarn nickte kurz. "Ein Zweibacher Ross, hm? Moment, habt ihr gerade Michael Bonnington gesagt? Der Erzbischof aus Weidtland? Ihr habt ein Pferd von ihm bekommen? Dann seid ihr? Ach, nein, vergesst es. Ich glaube ich .. ehm .. habe ich mich geirrt. Verzeiht." Seine kurze Aufregung verschwand unter einem leichten Lachen. Ich tat seine Bemerkung schnell ab, wie oft erhält man schließlich ein Pferd von einem weidtländischen Erzbischof?
"Aber stellt euch doch auch einmal vor. Wer seid ihr, woher kommt ihr und wohin wollt ihr? Diese Frage müssen reisende Sôlaner oft beantworten, aber die Antworten werden nie langweilig. Und solange ich hier im Kortskruk sitze, höre ich wenigstens gern zu."
In aller Ausführlichkeit erklärte ich ihm meine Absicht nach Zandig zu reisen und meine Ordenszugehörigkeit auf den Westwind-Inseln. Die Erzählungen werden schnell spannend, wenn man Leändrien verlässt. Alarn schien dennoch nur mit einem Ohr zuzuhören. Sein anderes war offenkundig dem Gespräch der anderen Sôlaner neben uns zugewandt. Ich versuchte seine Aufmerksamkeit vollends wiederzugewinnen, indem ich ein paar Fragen in den Raum warf.
"Wie steht es derzeit um die Inquisition? Die Kurmark? Ihr habt sicher einen besseren Überblick als ich, die weit gereist ist und fernab von Zandig lebt. Die letzten Kriege haben uns ziemlich zugesetzt. Und die Tasperiner verlangen uns nicht zuletzt auch immer mehr ab."
Er nickte sacht. "Ja, da habt ihr Recht. Vor Jahren war dieser Turm deutlich besser besetzt. Aber mittlerweile mussten wir viele Truppen an die Nordgrenze verlagern. Saltzbrandt plant dort oben irgendetwas, und ich glaube, dass die Haldaren auf der Hut sein sollten. Er ist schließlich ein gewitzter Feldherr. Sir Ripel weiß schon, warum er ihm die Nordfront anvertraut hat." Alarn lehnte sich im Stuhl zurück, nahm einen kräftigen Löffel Suppe und fuhr fort.
"Seit geraumer Zeit kommen immer mehr Rekruten aus dem Süden hier lang. Sie wollen dem Orden beitreten, um der anhaltenden Ketzerei Einhalt zu gebieten. Eine löbliche Entwicklung, wenn ihr mich fragt. Und erst letztens konnten wir eine große Lieferung Rüstungen von unseren patrischen Freunden nach Zandig bringen."
"Es scheint also, als würde der Orden zu alter Stärke zurückkehren. Wisst ihr gar, was als nächstes angestrebt wird?"
Wieder lachte er höhnisch auf. "Es ist sicher nicht, um besser durch den Winter zu kommen. Es kann nicht mehr allzu lange dauern, bis wir den Haldaren endgültig Einhalt gebieten. Fragt jeden Sôlaner, den ihr finden könnt. Die Antwort ist immer gleich. So furios wütend, wie momentan, waren wir noch nie auf diese Wilden. Sie haben es sich doch selbst eingebrockt, waren zu aggressiv. Haben sogar die Riedländer attackiert. Und wer gen Zandig marschiert, hat sein Todesurteil längst unterschrieben. Sollen diese Stämme nur meinen, dass sie stark sind. Wir beweisen ihnen das Gegenteil. Deyn ist auf unserer Seite, und mit Sir Ripel an vorderster Front können wir nur gewinnen."
"Ja, unter der Führung von Deyn Cador und Sir Walter Ripel wird niemand dem Sôlaner Orden etwas anhaben können. Schließlich halten wir seit Jahrhunderten die deyngewollte Ordnung aufrecht. Und Nichts wird dies jemals ändern." Ich lächelte ihm sanft zu. Seine Antwort war ein ebenso zufriedenes Lachen, gefolgt vom weiteren Löffeln der Suppe.
"Auch ich will Rache. Diese Wilden haben meinen eigenen Bruder auf dem Gewissen, dabei ist er nicht einmal beim Orden. Er war Fischer vor der Küste und wurde einfach von Ihnen niedergeknüppelt. Sein Haus haben sie angezündet, seine Frau und seine Tochter konnten zum Glück fliehen. Aber für ihn kam jede Hilfe zu spät." Der große Sôlaner fuhr sich nachdenklich durch sein Barthaar. "Ich vergebe diesen Barbaren nicht. Wir werden sie unbarmherziger denn je aufs Korn nehmen. Wer meint, dass die Sorridianische Inquisition gewütet hat, hat den Zorn der Sôlaner noch nicht erlebt. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Die Feuerkatapulte Zandigs werden sie in Schutt und Asche legen."
Ich setzte meinen Suppenteller an und trank den Inhalt in einem Zug leer. Alarn blieb an meiner Seite sitzen. So konnte ich mich den verbliebenen Tag mit ihm unterhalten. Vielmehr gab es hier ohnehin nicht zu tun. "Welchen Zweck erfüllt dieser Turm hier eigentlich noch? Außer eurer gütigen Herberge?"
"Der Kortskruk war lange Zeit eine Geständniskammer für Magier. Bestimmt zweihundert Jahre haben sie Magiergesindel und ihre Familien hergebracht. Mit neuesten Maschinen führten Inquisitoren hier ihre Verhöre durch. So manche Schandtat wurde erst durch die feinfühlige Kunst der Befragung ans Licht gebracht, die sonst verborgen geblieben wäre. Nachts hat man ihre Körper gefesselt und nackt an der Außenfassade angebunden. Am Morgen waren sie zu Eisblöcken gefroren. Diejenigen, die tatsächlich überlebt haben, hatten ihre falschen Kräfte für sich genutzt. Wie verlogen können diese Wesen denn sein, um dem letzten Urteil entgehen zu wollen?" Wieder lachte Alarn höhnisch auf. Dieses Mal ließ sein Lachen sogar die Gespräche der restlichen Sôlaner im Raum unterbrechen. Sie schauten ihn durchaus interessiert an.
"Wer auch immer überlebte, wurde gleich danach auf den Scheiterhaufen geschmissen. Die Eisblöcke haben sie zertrümmert, nur manches gefrorene Fragment wurde nach Zandig gebracht und dort untersucht. Was man damit will, kann ich euch auch nicht sagen. Irgendwann waren wir aber so erfolgreich, dass die Notwendigkeit für die vielen Türme langsam verfiel. Mehr Sôlaner bedeutet zwangsläufig immer weniger Magier. Das wollen die Tasperiner dort unten natürlich nicht hören, aber irgendwann können wir hoffentlich auch die letzte ihrer Akademien zerlegen. Und wenn der Letzte von ihnen brennt, ist diese Welt ein besser Ort. Aber genug von alten Zeiten. Mittlerweile ist Kortskruk zu einem Durchgangslager verkommen. Nur ab und an halten wir das Gesindel oben fest, wenn die Inquisitoren doch mal wieder jemanden gefunden haben."
"Ihr seid also der Wärter und Gastwirt für eure Brüder, wenn ich es so einfach herunterbrechen darf?"
"Dürft ihr, ja. Das bin ich. Eine ehrliche und anständige Aufgabe. Immerhin muss ich nicht ständig nach draußen und nach Verbrechern oder Ketzern suchen. Besonders im Winter brauchen sie Kortskruk schließlich, wenn es richtig kalt wird. Sogar Sir Ripel hat hier einmal genächtigt! Und ich habe ihm morgens sein rohes Ei gebracht!" berichtete mein Ordensbruder stolz.
Ich nickte ihm anerkennend zu. Lächelte leicht. "Sir Ripel, unser großartiger Anführer. Er wird uns sicher zum Sieg führen. So, wie er es schon in Szemää getan hat. Ein echter Krieger stellt sich selbst an die vorderste Front. Ich danke euch für eure Zeit, Bruder. Ihr entschuldigt mich sicher, wenn ich mich für heute zurückziehe?"
Mit einer raunenden Verabschiedung ließ er mich für diesen Augenblick ziehen. Ich legte mir meine zum Mantel umfunktionierte Decke wieder um und verließ das Haus. Durch den Schnee stapfte ich um das Gebäude. Eilig betrat ich den anliegenden Stall. Yuki stand nah an der steinernen Rückwand zum Haus. Dort, wo es am wärmsten war. Ich gesellte mich zu meinem Streitross und streichelte ihm sanft über den Hals. Mit einer feinen Bürste kämte ich sein Fell, wie auch seinen Schweif. Nur um noch ein wenig Zeit mit ihm hier draußen verbringen zu können. Die Kälte zog durch alle Ritzen des hölzernen Verschlags, aber immerhin mussten wir nicht in der abgeschiedenen, eisigen Wildnis bleiben. Mit zwei sanften Schlägen auf den Hinterleib ließ ich Yuki wieder allein.
Ich schloss die Tür des Schuppens wieder zu. Gerade im Begriff zurück in die Wärme zu flüchten, hörte ich das Klappern mehrerer Hufpaare. Schon bald standen drei hochgewachsene Ordensritter mit einem in eiserne Fesseln gelegten jungen Mann vor mir. Die Reiter sattelten allesamt ab und zogen den Gefangenen vom Rücken des kräftigen Wallbachers. Er sah jämmerlich aus, war nur in Lumpen gekleidet und deutlich ausgemergelt. Mit blutunterlaufenen Augen schaute er zuerst meine Brüder an, dann zu mir auf und schlussendlich in den Wald.
"Das war es. Das war es. Das war es ein für alle Mal." murmelte er mehrfach vor sich hin. Selbst den Tritt eines Sôlaners gegen sein eigenes Bein machte ihm nichts aus. Unabwegig murmelte er. Bis er eine in Eisen gekleidete Faust gegen den Kiefer bekam und regungslos im Schnee liegen blieb.
"Jetzt müssen wir ihn auch noch tragen" empörte sich einer der Männer. "Mögt ihr vielleicht helfen, Schwester? Ihn die Treppe hochzutragen ist eine Plackerei, Bruder Pobnik hilft sowieso wieder nicht."
Ich nickte vorsichtig. "Euer Bruder verbat mir aber in die oberen Stockwerke zu gehen."
"Dann sei es euch hiermit erlaubt. Gestatten, Inquisitor Reskmarn. Eure Hilfe beim Tragen wäre wirklich freundlich. Vielleicht lernt ihr da oben auch etwas, so geheim sind unsere Tätigkeiten nun auch wieder nicht. Nun denn, anpacken." Mit einem schwungvollen Stoß öffnete der Inquisitor die Tür. Währenddessen griffen ich und seine beiden Kameraden den bewusstlosen Gefangenen an den Gliedmaßen. Schnurstracks gingen wir am Gastraum vorbei. Alarn und die anderen Ordensritter blickten uns kurz hinterher. Nach einem auffälligen, vielsagenden Nicken des Inquisitors blieben sie aber an ihren Plätzen sitzen.
Es war durchaus mühselig den leblosen Körper die Treppe hinaufzutragen. Die engen Balken standen hoch übereinander und waren sicherlich nicht für beplattete Lederstiefel entworfen worden. Ich musste mich halb in die Ecke des Treppenabsatzes knien, damit wir den Gefangenen mit einigen, vermutlich schmerzhaften, Biegungen hinauf bekamen. Oben angekommen legten wir ihn auf dem zentral stehenden Tisch ab. Neben einigen geläufigen Folterinstrumenten und Werkzeugen war das Zimmer ansonsten wenig eindrucksvoll. Nur ein verglaster Schrank mit allerlei Tinkturen und Flakonen sowie ein kleiner Schreibtisch mit Papieren befanden sich noch darin. Keine Spur von Geheimniskrämerei oder der Notwendigkeit etwas zu verstecken.
Mit einigen Lederstriemen befestigten wir den Gefangenen auf dem Tisch. Anschließend machte ich mich bereits wieder auf den Weg nach unten, als mir die Stimme des Inquisitors nachhallte. "Wartet bitte. Wenn ihr schon für uns tragt, könnt ihr auch beim Rest hierbleiben. Im Gegensatz zu Bruder Pobniks Verständnis unserer Arbeit, vollführen wir hier keine geheimen Rituale." Inquisitor Reskmarn setzte sich auf den kleinen Stuhl vor dem Schreibtisch. Vorsichtig tunkte er eine Feder in die Tinte und begann zu schreiben.
"Wir haben ihn aus Velhard hergeschafft, ihm wird Kollaboration mit einer Magierin vorgeworfen. Brüder, kriegt ihn irgendwie wieder wach. Holt einen Eimer heißen Wassers von unten oder so. Aber passt ja auf den Boden auf. Und bringt auch die anderen Sôlaner her. Wer zusehen mag, soll zusehen, was Ordnung ist."
Ich lehnte mich mit verschränkten Armen an die Wand neben dem Inquisitor. "Hat er seine Schuld gestanden? Weshalb verbrennt ihr ihn nicht an Ort und Stelle?"
Zufrieden nickte der Inquisitor auf, als ich meine Fragen gestellt hatte. "Noch hat er nichts gestanden, nur einige Wortfetzen auf dem Weg. Aber die Dorfbewohner waren sich ihrer Sache ziemlich sicher. Auch deshalb haben wir ihn entfernt, damit wir in Ruhe unserer Aufgabe nachgehen können. Vielleicht können wir auch seine kleine Freundin ausfindig machen. Sie soll geflohen sein. Hat anscheinend gegen Codex und Deyns Ordnung verstoßen."
Kurz darauf traten immerhin drei Sôlaner zu uns in den Raum. Neben den beiden anderen Inquisitonsmitgliedern, gesellte sich auch einer der reisenden Ordensritter dazu. Einer trug einen Holzkrug voll dampfenden Wassers in der Hand. Der Inquisitor erhob die Stimme. "Wir beginnen mit der Befragung. Weckt den Verbrecher mit dem kochenden Wasser. Aber nicht auf den Kopf, verstanden?"
Der linke Inquisitionsbruder nickte und schüttete das kochend heiße Wasser gegen den Brustbereich des Gefangenen. Erst fielen einige Tropfen herab, dann platschte der gesamte Inhalt des Bechers in einem großen Schwall auf seine karge und von Frostbeulen übersähte Brust. Wasserdampf machte sich um ihn herum breit. Mit einem hasserfüllten Schrei kam er wieder zu Bewusstsein. Der Mann riss seine Augen auf, verzog das Gesicht vor Schmerz und schlug mit allen noch beweglichen Körperteilen wild umher. Er kämpfte so stark es die Lederriemen eben zuließen.
"Name?" raunte es vom Tisch des Inquisitors. Die Antwort war wenig verständlich, wenn es überhaupt Worte gewesen waren. Für mich klang es eher nach dem Schrei des Schmerzes.
Ich wollte nicht hinsehen. Denn erst bei genauerer Betrachtung wurde deutlich, dass sein halber Unterleib von schweren Erfrierungen gezeichnet war. Manche seiner Zehen waren bereits vollständig abgestorben. Auch seine Beine vermochte er nur noch mit Mühe überhaupt zu bewegen. Ich nahm so viel Abstand, wie ich nur konnte. Sogar meinen Rücken wandte ich dem Geschehen zu. Stattdessen blickte ich lieber aus dem kleinen Fenster in die langsam hereinbrechende Dunkelheit in der Ferne. Die Sonne verschwand und schon bald würde der Mond die Nacht einläuten.
Hinter mir klatschte es mehrfach. Der Gefangene bekam zahlreiche Schläge ab, bevor er angestrengt seinen Namen ausspucken konnte. "Firus. Firus Thalmer."
"Hattet ihr jemals Kontakt zu einer magiebegabten Person? Wann das letzte Mal?"
Schnaufend versuchte der Gefangene einige Worte auszuspucken und doch blieb es still. Bis wieder neue Schläge auf ihn einprasselten. Ich kann nicht sagen, ob er die Wahrheit gesprochen hat. Ich wollte mir seinen elenden Körper nicht ansehen. Ich wollte sein Leid nicht zur Kenntnis nehmen müssen. Dennoch blieb ich im Raum. Denn das ist, was die Ordnung gebietet. Das ist die Ordnung, die diese Welt beisammen hält. "Ja. Letzte .. Woche." stammelte er.
"War diese magiebegabte Person Mitglied in einer der Akademien Tasperins?"
"Nein."
"Hattet ihr intimen Kontakt zu dieser magiebegabten Person?"
Erst kam Stille. Dann ein leises "Ja".
"Wie lautet der Name dieser Person? Wo ist sie?"
Es folgte wieder Stille.
Er hatte ein unentschuldbares Verbrechen begangen. Nichts Gutes kann entstehen, wenn Mensch und Magier aufeinandertreffen. Es ist so klar und doch setzte er sich über diese Regeln hinweg. Wofür? Für ein wenig Zuneigung? Zusammenhalt? Gar Liebe? Oder doch nur einen trivialeren Grund, wie die unkontrollierbaren Triebe der Lust? Es war ab dem Moment seiner Gefangennahme völlig egal geworden. Wer einmal in den Fängen der Inquisition landet, verlässt sie nicht wieder lebend. Wenigstens das wusste er. Und schwieg.
Egal, ob sie ihm weiteres kochendes Wasser über den Leib gossen, weitere Schläge auf seinen geschundenen Körper prügelten oder noch grausamere Methoden anwenden würden - er schwieg. Es war jeder Person in diesem Raum klar, dass er kein weiteres Wort sagen würde. Das er schon mit seinem Leben abgeschlossen hatte. Gerade die wenigen Worte, die sein Ende besiegeln würden, brachte er heraus. Es waren eben die Worte, die sein Leben auf dieser Welt beenden mussten. Und so wurde Firus Thalmer noch in derselben Nacht vom Inquisitor zum Tode verurteilt und hingerichtet. Während der Rest von uns bereits unbekümmert in unseren lauschigen Kammern verschwand und seelenruhig schlief. Als ob nichts gewesen wäre. Denn das ist hier Normalität. Eine blutige Ordnung, die diese Welt – aber besonders diese Region - zusammenhält.
Ich schlief in dieser Nacht äußerst schlecht. Wieder rissen mich grausame Träume aus meiner Nachtruhe. Es wunderte mich nicht einmal mehr. Schließlich sah auch ich tatenlos zu.
Ich war zurück. Auf Neu Corethon. Auf der Insel meines Ordens. Überall hingen Laternen und bunte Dekorationen, es schien ein Fest gefeiert zu werden. Das sanfte Lachen von Kindern übertönte das Spielen ruhiger, fröhlicher Musik. Meine Sicht verschwamm jedoch in einem undurchsichtigen Schwarz-Weiß. Ich konnte die Hand vor Augen kaum sehen. Und doch war ich mittendrin im Geschehen.
Es war eine Bühne aufgebaut worden, auf der einige Redner über belanglose Dinge sprachen. Die Bewohner der Insel versammelten sich langsam. Einige dieser gescheiterten Gesichter erkannte ich sofort wieder, doch viele waren mir neu. Das war nicht mein Neu Corethon. Zumindest nicht die Stadt, die ich zurückgelassen hatte. Aber auf eine ganz eigenartige Weise kam es mir so vertraut vor, als hätte ich es nie verlassen.
Ich blickte mich um. Langsam schritt ich durch die freudige Menge, die sich neue Humpen mit Bier einschenken ließ. Einige bissen von den großzügig gespendeten Speisen ab, die andere ihnen servierten. Der Rest ließ sich langsam auf den Bänken nieder. Irgendwann kehrte Ruhe ein, als eine wabernde Gestalt auf die Bühne trat. Ich konnte sie nicht erkennen, zu sehr verbarg ein Schleier aus Schall und Rauch ihr Sein. Etwas zog mich neben die Bühne. Und so folgte ich willenlos, bis ich meinen Platz eingenommen hatte. Ich lauschte den leeren Worten und beobachtete das Treiben auf der Bühne. Was auch immer dort passierte, ich erkannte es nicht. Als dürfte ich es nicht erleben oder als .. würde ich es gleich vergessen?
Meine Augen wandten sich gen Himmel. Ich blickte in die Höhe. Zufrieden. Entspannt. Und dann knallte es. Ich spürte, wie ein lauter, zuckender Schlag auf meine Brust einhämmerte. Mit einem Mal wurde mir die Luft genommen. Ich konnte weder Atmen noch vermochte ich zu sprechen. Ich fiel einfach nur rücklings um. Wie eine gestrandete Schildkröte lag ich am Boden. Bewegungsunfähig. Handlungsunfähig. Verletzt sowie des Todes geweiht.
Mein Blut stieg mir im Hals hoch. Ich röchelte und erbrach schon bald ein blutiges Gemisch. Was mir sonst dämonische Schmerzen bereitet hatte, wirkte wie .. eine Erlösung. Ich spürte kaum mehr etwas. Um mich herum sammelten sich die Schatten der Menschen wieder. Manche zogen an mir. Manche drückten an mir herum. Und dann knallte es ein zweites Mal. Deutlich lauter. Deutlich ohrenbetäubender. Direkt neben mir.
Als ich meinen Kopf zur Seite wandte, konnte ich nur den verschwommenen Rauch des Feuers wahrnehmen. Ich spürte, wie mir die letzten Tropfen meines eigenen Blutes aus dem Mund liefen. Plätschernd füllten sie meine nassfeuchte Blutlache nur noch mehr auf. Und dann wurde alles Schwarz.
Ich kam mitten in der Nacht wieder zu mir. Vorsichtig setzte ich mich auf und schrieb meinen Traum nieder. Was mir gerade widerfahren war, wirkte anders. Sonst holte mich meine Vergangenheit ein. Oder ich erlebte Dinge, die wirkten, als müsste ich dabei sein. Aber das .. das war anders. Verschwommen und unkenntlich. Es war nicht meine eigene Vergangenheit, und sicher auch nicht die Gegenwart. Vielleicht stammt es nicht einmal von mir? Doch wozu sehe ich es dann? Wozu muss ich mich solch einer Tragödie aussetzen? Ich wusste es nicht, und legte mich wieder in die Schlafkoje.
Meine Augen fielen mir nur schwerlich zu. Eine ganze Zeit lang, lag ich wach da. Ich starrte in die bedrückende Dunkelheit um mich herum. Ich dachte an die arme Seele im Obergeschoss. Was sie sich nur dabei gedacht hatte? Wie es sich anfühlt das eigene Todesurteil zu unterschreiben? Wobei, kenne nicht gerade ich die Antwort auf diese Frage zu gut? Vielleicht habe ich hier einfache Rede, wenn man dem Tod jedes Mal von der Schippe springt. Der Blick in den Abgrund ist mir aber dennoch vertraut, vielleicht gar zu vertraut. Seit langer Zeit gibt es aber kein Zurück mehr. Ich weiß, ich wiederhole mich.
Nach Sonnenaufgang sattelte ich Yuki und brach auf. Während der kurzen Verabschiedung gaben die Inquisitoren jedem Gast noch eine kleine Wegzehrung mit. Dann folgte ich wieder den einnehmenden Fichtenwäldern gen Norden. Der Himmel war einigermaßen aufgeklart, sodass wenigstens die Sonne auf mich herabschien. Vereinzelte Schneeflocken konnte ich mittlerweile akzeptieren, selbst wenn mir weiterhin die Kälte durch Mark und Knochen fuhr. Nach dem Anblick des Gefangenen wagte ich es aber nicht mehr, mich stets und ständig über den Frost zu beschweren.
Zwei Tage durchquerte ich die Wälder im Süden Kurmarks, bis ich endlich die große Straße nach Zandig fand. Auf dem mehr oder weniger freigeräumten Weg waren links und rechts des Weges Pflastersteine als Markierungen versenkt worden. Die Kurmark verfügt nur über wenige befestigte Straßen, doch hier war eine von ihnen. Ich musste ihr nur noch lang genug folgen. Dann käme Zandig. Und damit ein weiteres Ziel dieser Etappe.
Ich nächtigte in den Ordensunterkünften auf dem Weg, denn hier in der Kurmark gehört schließlich schlichtweg alles den Sôlanern. Jede Kirche, jedes Gebäude und jedes Bauwerk dient dem Heiligen Sôlerben. In den Orten rechnen die Bewohner fest mit dem Besuch ihrer Ordensritter, denn sie sind es, die sie beschützen und ihnen das Wort Deyn Cadors näherbringen. Im Gegenzug versorgen sie uns für die Nacht, wenn es der Orden nicht selbst tut. Die vielen Inquisitionstürme im Land werden durch ein dichtes Netz der Ordensgemeinschaften bestärkt. Überall konnte ich bei freier Kost und Logis unterkommen. So schonte ich immerhin meinen Geldbeutel für mehrere Wochen.
Was ich an einer Stelle einsparte, gab ich dafür an anderer Stelle wieder aus. In einem größeren Ort besuchte ich den Markt, um mir ein wenig Reiseproviant zu kaufen. Meine Augen fielen dabei aber immer wieder auf den ortsansässigen Kürschner, dessen Felle ich sogleich begutachten musste. Ich ließ einige Münzen im Tausch gegen einen dicken Pelz bei ihm, der mir seither über den Schultern hängt. Auf Dauer war der pfeifende Wind nicht mehr auszuhalten. Und so konnte ich diesem Problem endlich Abhilfe schaffen. Sehr zum Missfallen meiner Reisekasse. Irgendwie würde ich in Zandig an Geld kommen müssen, aber diesem Unterfangen werde ich mich an anderer Stelle zuwenden müssen.
Bestimmt zwei Wochen zogen ins Land. Yuki und ich stapften entlang der schneeverhangenen Wälder, bis wir endlich einen ersten Blick auf den herrlich anmutenden Zandiger Ostwall werfen konnten. Das Gebirgsmassiv erhob sich auf einmal an meiner rechten Seite. Seine hohen Gipfel waren von unten nicht mehr erkennbar, und doch wusste ich dank ihm – das Ziel kam näher.
Tag um Tag folgten wir den Bergen und der Straße. Die Fichtenwälder wurden hin und wieder lichter, die Siedlungen der Kurmark größer. An guten Tagen ließen sogar Wind und Schnee nach. Ich hatte fast den Eindruck, dass der Frühling bald vor der Tür stehen musste. Es würde nicht nur den Menschen sondern auch der Natur gut bekommen.
Im späten Lenzmond war es dann endlich soweit – in der Ferne erkannte ich die Türme der Londanor Tempelfeste hoch oben auf dem heiligen Berg. Zandigs beeindruckende Mauern schirmten die Stadt vor jeglicher Bedrohung ab. Und doch wirkte es einladend, als ob ich in ein nie dagewesenes Zuhause zurückkehren würde. Die Banner des Sôlerben flatterten im Wind, die ganze Stadt wirkte in unser Weiß gehaucht. Und nicht zuletzt stand die glühende Sonne hoch oben am Himmel, als ich vor den Stadttoren eintraf.
Beinahe ehrfürchtig durchschritt ich die offenen Tore und trat in diese bedeutsamste Stadt des Nordens ein. Nirgendwo war der Glaube stärker, nirgendwo die Kampfeskraft stärker. Hier war unser eigentliches Zuhause; wenn man es denn so beschreiben mag. Die einfachen Steinhütten waren noch in einheitliches Weiß des Schnees gedeckt. Selbst auf der Tempelfeste lag ein weißer Filter, der aber langsam abzutaun begann. Ich schritt im Tross mit meinen Ordensbrüdern und -schwestern durch diese heilige Stadt. Erleichtert. Ich war endlich angekommen.
Gewissenhaft meldete ich mich an einer Ordensniederlassung und ritt zu dem mir zugewiesenen Schlafplatz. An einem entlegenen Ende, nahe der Stadtmauer, würde ich Unterkunft mitsamt eines Stallplatzes für Yuki bekommen. Dort erblickte ich jedoch nur eine ziemlich heruntergekommene Baracke. Die Fassade bröckelte und das Dach war wohl schon länger nicht mehr dicht. Bevor ich die Innenräume betrat, gab ich Yuki im Stall ab. Meinem treuen Pferd wurde eine kleine Marke umgehängt, das entsprechende Gegenstück wurde mir ausgehändigt. Das metallene Plättchen zeigte das eingestanzte Sonnenfeuer Sôlerbens mit der darin geschriebenen Zahl "439 – II". Dieselbe Symbolik befand sich auch auf Yukis Anhänger.
Der Stallknecht versicherte mir, dass er sich gut um die Pferde kümmern würde. Zumindest würde er regelmäßig ausmisten und stets Futter hineinwerfen. Ich gab Yuki einige Streicheleinheiten während unseres kurzweiligen Abschieds. Ich war es ihm nach diesem Ritt wohl schuldig, ihm zu versichern, dass es nicht allzu lange dauert. Auch mir tat es weh, wenn er hier ewig im Stall eingesperrt sein würde. Doch welche Wahl hatte ich denn? Hatte ich überhaupt eine? Nein.
Anschließend schob ich die knarzende Tür auf. Von Innen sah das Gebäude noch wesentlich schlechter aus, als von außen. Die umtriebige Dame hinter dem Tresen versicherte mir sogleich, dass man die Aufräumarbeiten längst begonnen hätte. Ihre Zimmer seien allerdings voll, doch könnte sie mir die Abstellkammer anbieten. Die sei immerhin trocken. Im Gegensatz zu den meisten Zimmern. Für den Augenblick akzeptierte ich ihr fragwürdiges Angebot. Wer würde hier schon diskutieren oder ewig suchen wollen? Münzen für eine bessere Herberge hatte ich im Moment ohnehin nicht.
Der kleine Eckraum war in der Tat mit allerlei Putzmaterialien gefüllt. Sie hatte mir mit ihrer Abstellkammer nicht zu viel versprochen. Eimer und Besen flogen schnurstracks aus der Kammer, dafür schlug ich mehrere Nägel in die ohnehin lädierten Wände. Vorsichtig hing ich meine Hängematte darin auf und prüfte den Halt, in voller Rüstung wohlgemerkt. Anfänglich rutschten die Nägel aus ihrer Halterung, beim zweiten Versuch hielten sie glücklicherweise. Halbwegs zufrieden verließ ich meine neue Behausung.
Ich folgte den imposanten Straßenschluchten und begutachtete die zahllosen Kirchen und Kapellen im Stadtgebiet. Eine war eindrucksvoller, als die Nächste. Ihre bunten Fenster oder die in mühevoller Kleinarbeit gestalteten Steinsäulen waren oftmals nichts gegen die ausufernden Deckenmalereien oder glänzenden Kirchenschätze. Jede neue Straße fühlte sich wie ein Zusammenschluss der Frömmigkeit ein, war aber irgendwo auch bedrückend.
Bei aller Freude über den Glauben darf man in dieser Stadt eines nicht vergessen – wer gegen Deyn Cador oder den Orden agiert, der erhält ein schnelles Ende. Die Kurmark und gerade Zandig mögen ein Hort der Ordnung sein, doch zu einem hohen Preis. Niemand führt ein ausschweifendes Leben, sondern Verzicht und Nächstenliebe bestimmen den Alltag. Wer es nicht zur Messe schafft, wird von den Angehörigen dorthin geschliffen; denn jede Konsequenz wäre schlimmer. In anderen Worten: Wer hier nicht freiwillig dem Wort Deyns folgt, wird unweigerlich dazu genötigt oder ausgerottet. So grausam und hart ist die Realität hier. Vielleicht ist der Zusammenhalt deswegen derart besonders? Ich kann nicht einmal ausmachen, ob es mir positiv oder negativ vorkommt. Es ist .. schwierig. Aber gleichzeitig auch befreiend.
Schließlich wollte ich schon immer einmal herkommen. Und jetzt war ich da. Konnte es mit eigenen Augen sehen. Wer meint, dass Zandig eine Stadt der Pracht ist, muss abseits der Kirchen schauen. Nur dort wird er die Wahrheit finden und erkennen. Diejenigen Gläubigen, die nur wegen ihres Hangs zur Silvanischen Kirche herpilgern, werden jedoch nicht enttäuscht werden. Keineswegs. Besonders nicht beim Anblick der großen Londanor Tempelfeste.
Selbst als ich am Fuß des Heiligen Berges stand und hoch hinauf, in die Wolken, blickte, war ich begeistert. Es ist ein Ort, an dem jeder Sôlaner einmal gewesen sein sollte. So sagen sie es zumindest. Ich gebe ihnen Recht. Einmal sollten wir alle diese heiligen Hallen betreten haben. Mitnichten steht jedoch die Tür einfach so offen. Niemand kann in die Tempelfeste hineinspazieren und sich an ihrer Herrlichkeit ohne besonderen Grund ergötzen.
Ich hatte nie erwartet, dass man mich einfach zu Sir Ripel oder Sir Saltzbrandt hindurchlässt. Aber ich durfte nicht einmal um eine Audienz bitten oder gar meine Gründe vortragen. Am untersten Tor, bevor die Londanor Tempelfeste überhaupt begann, wurde ich unsanft von meinen Ordensbrüdern abgewiesen.
"Zutritt nur auf Einladung und Weisung, Schwester. Wenn uns diese vorgelegt wird, dürfen wir euch hereinlassen. Wenn ihr die nicht habt, tretet bitte zurück."
So eindeutig wurde ich selten zurückgebeten.
Es bleibt also nur eine Möglichkeit. Wieder einmal schaue ich in den Abgrund, wähle bewusst die Gefahr und springe ins Ungewisse. Ich muss in die Tempelfeste. Und wenn mir die Türe nicht geöffnet wird, dann suche ich mir eben meinen eigenen Weg hinein.
Am unteren Ende der Seite steht ein kurzes Stoßgebet:
Mein liebster Deyn Cador,
so schütze mich auf meinem Weg.
Werfe dein Schild über mich,
damit die Dunkelheit dem Licht weicht.
Mein liebster Renbold,
führe mich durch das Ungewisse und
erleuchte mir den Weg durch die Nacht.
Mein liebster Sôlerben,
lasse deine ewige Sonne erstrahlen,
damit unter dem glitzernden Horizont
dein Antlitz von Neuem erstrahlen kann.
Wahret mit mir eure Güte, sodass
ich euch treu verbunden dienen kann.
Ich will euch zurückgeben, was ihr für mich opfert,
sodann ihr mir zurückgebt, was ich für euch opfere.
Weiset meinen Weg,
bleibt an meiner Seite und
zeigt mir das Licht des rechten Pfads.
Amen.
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"Nicer Cock, Schussi" - Christian, 06.12.2019
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14.12.2020, 06:53 AM
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 19.01.2021, 03:25 AM von Feuerfrosch.)
XX – Zandig
19.04.1352
Einen Eingang in die Londanor Tempelfeste zu finden, gestaltete sich deutlich schwieriger als erwartet. Vielleicht weil mir bisher alles in den Schoß gefallen war? Weil Deyns Güte mich bisher so tatkräftig unterstützte und den Weg wies? Hier aber schien alles anders. Den verbliebenen Nachmittag positionierte ich mich vor den Eingängen der jahrhundertealten Festung und beobachtete das Treiben. Nur wenige Sôlaner gingen in die Tempelfeste hinein, noch weniger kamen heraus. Wenn sie einmal von diesem Monstrum aus menschlicher Baukunst geschluckt wurden, blieben sie offenbar.
Selbst am Abend setzte ich mich noch in eine kleine Ecktaverne nahe des Haupttores. Mit meinem Platz direkt am Fenster hatte ich einen guten Ausblick auf die Treppen und Aufzüge, den Vorhof und Teile der Mauer. Dennoch fiel mir keine Öffnung auf. Keine Lücke, durch die ich hätte schlüpfen können. Keine Möglichkeit des ungesehenen Einschleichens. Ich weiß, dass es sich nicht gebietet überhaupt darüber nachzudenken. Ich will hier ganz offen und ohne jegliche Reue ein Verbrechen begehen. Wenn ich erwischt werde, werfen sie mich von ganz oben mitten in das Gebirge. Mit ein wenig Pech überlebe ich den Sturz und verende qualvoll zwischen den Gipfeln des Zandiger Ostwalls. Was für eine noble Vorstellung. Es bedarf eigentlich keiner Erwähnung, aber ich würde meinen Tod gern vermeiden.
Ich habe aber schlichtweg keine andere Wahl. Ich muss dort hinein. Es ist mein deyngegebenes Schicksal, und diesem werde ich mich weiterhin stellen. So wahr ich Sôlanerin geworden bin und der Ordnung diene. Doch egal welchen Wappenrock ich nun am Leib trage, entbindet er mich nicht von meinen Pflichten. Ganz im Gegenteil, er lässt die Bürde dieses lästerischen Denkens noch viel schwerer wiegen. Wie ein unmenschliches Gewicht liegt sie mir auf den Schultern. Es scheint als erdrücke sie mich. Presst mich auf den Boden und schnürt mir die Luft ab. Ich muss widerstehen. Dagegen ankämpfen, darf mich nicht unterkriegen lassen. Ich werde meine Eintrittskarte finden. Vielleicht nicht heute, ganz sicher aber bald.
Für diese Nacht legte ich mich in meiner Hängematte nieder. Die Abstellkammer roch muffig und verlassen. Es war aber wärmer, als in den eigentlichen Zimmern. Zumal mich der nächtliche Schnee in meiner Kammer nicht erreichen konnte. Ich zog meine Decken über meinen geschundenen Körper und schloss die Augen. Was ich in dieser Nacht erlebte, werde ich noch niederschreiben. Ich muss es. Zu einem besseren Zeitpunkt, wenn meine Gedanken ein wenig freier sind.
Ich wachte gestresst auf. War fertig. Zermürbt und höchstens körperlich ausgeruht. Es war einer dieser Tage, an denen man am liebsten im Bett liegen bleibt und gar nicht erst aufsteht. Die Ordnung beschützt sich aber nicht von alleine, hm?
Ich raffte mich schweren Herzens auf. Meinen dicken Kleidern folgten Kettenhemd und Panzerplatten. Zuletzt legte ich meine Waffengurte und Taschen an, bevor ich hinaus in das verschneite Zandig trat. Einige Schneeflocken wirbelten noch in der Luft umher. Der nächtliche Sturm musste gerade erst verklungen sein. Die Stadt hinterließ er in einem dichten Glanz aus Weiß, den jeder nur so schnell wie möglich loswerden wollte. Gestresste Arbeiter und Ordensritter lieferten sich Wettkämpfe im Schneeschippen, wobei vor jedem knallroten Gesicht staubige Atemwolken aufstiegen. Ich bildete da absolut keine Ausnahme.
Fröstelnd marschierte ich durch die Straßen. Mein erstes Ziel an diesem Tag war meinen Kopf freizubekommen. Zu sehr hatten mich die Erlebnisse der gestrigen Nacht aus der Bahn geworfen. Zu heftig wog eine Erkenntnis, die ich längst hätte haben müssen. Seitdem Konrad von Ehrlichshausen bei mir gewesen war, wusste ich es. Ich wusste es die ganze Zeit. Und doch habe ich nicht darüber nachgedacht. Vielleicht weil ich keine Zeit hatte. Vielleicht weil ich es mich nicht getraut habe? Spielt das alles eine Rolle? Nein, heute würde ich mich zumindest ein wenig damit befassen. Ich biss meine Zähne zusammen, damit sie nicht unentwegt klapperten. Meine Stiefel gruben sich mit jedem Schritt auf ein Neues in den knöchelhohen Schnee ein. Die Kälte fuhr mir durch die Füße und Zehen, hinauf in die Beine und den restlichen Körper.
Ich wollte der Stadt trotz meiner Aufgabe für einen Moment entfliehen. Selbst wenn es nur ein paar Stunden waren, in denen ich mich mir selbst widmen könnte. Sie würden reichen. Und viel wichtiger: Sie würden es wert sein. Vorbei an den grauen Häusern und heruntergekommenen Unterkünften des Ordens lief ich über die noch nicht vom glänzenden Weiß befreiten Straßen. Was mich gestern noch fasziniert hatte, stößt mich heute schon wieder ab. Selbst der andächtige Sôlaner Orden hat seine Fehler. Offenkundig.
Man darf sie nur nicht aussprechen. Schon gar nicht erst anprangern. Nichts wäre schlimmer, als vom eigenen Orden exkommuniziert zu werden. Der Orden ist frei von Sünde und Fehler. So wollen wir zumindest nach außen wirken, aber ..
aber ist nicht gerade das ein Zeichen von Schwäche? Spätestens beim Anblick unserer heiligen Ordensstadt wurde es deutlich. Es war ein einfaches Leben, das hier geführt wurde. Geführt werden musste, da jeglicher Wohlstand verboten war. Wenn die Arbeiter sogar schon hoffen müssen, dass sie ihr Haus den Winter über heizen können, stellen sich mir jegliche Nackenhaare auf. Wie lange ist es her, dass diese guten Menschen ordentliche Speisen auf dem Tisch stehen hatten? Stattdessen kriegen sie immer nur denselben Brei, dieselbe fade Suppe und an einem guten Tag sogar ein Stück Fisch.
Nebenan zeigt sich dafür der Prunk. Wo am Menschen gegeizt wird, wird in Kirchen und Waffen investiert. Man möge mich nicht falsch verstehen. Ich gebe alles für Deyn Cador. Ich habe alles für ihn gegeben und werde es auch weiter tun. Selbst wenn mein Leben damit beendet wird und ich in die Tiefen des Fegefeuers falle. Selbst dann. Aber ist es ein Zeichen der Güte farbenfrohe Glasfenster in marmorne Fassaden riesiger Kirchen zu setzen, während nebenan Kinder Hunger leiden? Ich fange an, wieder zu zweifeln. Ich weiß, dass ich es mir eigentlich abgeschworen hatte. Aber wie kann ich aufhören, wenn ich das hier sehe? Wenn ich um verdammte Münzen angefleht werde? Hier. In Zandig. In dieser heiligen Stadt. Weil die Speisungen nicht ausreichen. Weil uns Waffen wichtiger sind, als Nächstenliebe.
Meine Verzweiflung vermischte sich mit einer unterschwelligen Wut, die ich nicht wahrhaben wollte. Es gab wenige so diffuse Orte auf dieser Welt. Lange Jahre hatte ich immer davon geträumt, dass ich eines Tages herkommen darf. Jetzt war ich endlich angekommen. Am liebsten würde ich die Stadt sogleich wieder verlassen. Und mich nicht mehr daran erinnern. Den Schein aufrecht erhalten, diese Welt weiter im hohen Glauben über Kurmarks Hauptstadt belassen. Ich kann das nicht.
Es ist so kompliziert. So nervenzerreibend. Manchmal glaube ich, dass die wahre Prüfung nicht das Sammeln dieser Gegenstände des Franz Gerber ist, sondern bei Verstand zu bleiben. Meinen Glauben an alles, wofür ich stehe, muss ich langsam hinter mir lassen. Aber es nützt nichts, nicht wahr? Was wäre die Alternative?
Richtig, völliges Chaos und Zerstörung. Das ist das Beste, was wir erschaffen konnten. Wir können uns nur alle dafür einsetzen unsere Welt stetig zu verbessern. Dafür kämpfen wir letztlich. Dafür streben wir letztlich. Dafür sterben wir letztlich.
Ich merkte erst, als ich wieder nach oben sah, dass ich bereits am Westtor Zandigs angelangt war. Hinter mir erwachte das blühende Leben der Stadt. Geschäfte eröffneten, selbst die ersten Stühle wurden auf die Straße gestellt. Eine Blumenhändlerin richtete sogar ihren kargen Bestand an Winterpflanzen zum Verkauf an. Ich verließ die Hauptstadt der Kurmark jedoch fürs Erste wieder. Mein Ziel war der nicht weit entfernt liegende Aschsee. Kurz hinter dem Tor erhoben sich einnehmende Fichten, denen ich von hier aus nur noch gen Westen folgen musste.
Bereits die Rufe der Rehe und das Zwitschern der Vögel hatten eine beruhige Wirkung auf meine angeschlagenen Nerven. Ich ließ mich ein wenig von der Natur leiten, achtete nicht einmal mehr auf den Weg. Schon ein wenig Abstand von den Menschen taten unwahrscheinlich gut, dabei war ich gerade erst einen Tag in der Stadt gewesen. Was wird nur aus mir? Was wird nur aus dir, Amélie da Broussard?
Ich konnte mir meine Antwort zumindest ein Stück weit geben. Nach einem viertelstündigen Marsch durch den fröstelnden Wald kam ich an. Der Aschsee. Still lag er da. Als ob niemand seiner spiegelglatten Oberfläche etwas anhaben könnte. Ich atmete tief ein, ließ die von Pinienkernen und der rauen Natur erfüllte Luft in meinen Körper einziehen. Mit einem leisen Brennen meldete jede meiner Narben, dass sie noch da waren. Als Mahnmale. Die niemals verschwinden würden. Dann ließ ich mich auf dem eiskalten Uferboden nieder, lauschte den Tieren und dem Rascheln der Nadelbäume.
Der Aschsee begann mir langsam und vorsichtig zuzufunkeln. Die Sonne reflektierte sich in seinem Wasser, blendete mich kurz, nur um die Sonnenstrahlen direkt wieder in das ewige System der Welten fern von Athalon zu werfen. Ich genoss den Anblick, hoffte das mich hier niemand ansprechen und stören würde. Das ich nur für mich wäre.
Denn eben diese Ruhe brauchte ich, um zu verstehen. Meinen schrecklichen Traum zu deuten. Einen Traum, in dem ich dieses Mal das Monster war. Eines, das wieder einmal nach Blut und Rache trachtete. Aber ohne tieferen Zweck. Nur um dem Chaos zu dienen. Zerstörung anzurichten und Leben zu nehmen. Die Schafe der Ordnung in ihrer Mitte zu zerreißen und ihre Seelen ins Fegefeuer zu stoßen. In dieser Nacht erlebte ich das, was ich so abgrundtief verabscheute. Und deren Existenz ich heute noch verneinen möchte. Wir wissen alle, dass das schon lange nicht mehr stimmt. Und dennoch, dieser inbrünstige Wunsch ist da. Diese Welt wäre ohne das Chaos eine Bessere. Ich wäre ohne meine Träume eine Bessere.
Ich war ein Wesen, das schon längst zerstört wurde. Zerfressen von Chaos und Niedertracht. Einst hatten sie meinen Körper zerstört, meine Seele an einen unbekannten Ort verbannt. Sie hofften, dass ich nie wieder ausbrechen würde. Und doch war es geschehen. Durch eine Unachtsamkeit eines sonst so treuen Bürgers. Vielleicht war er zu treu? Hatte zu große Hoffnungen und gar Mitleid. Das Chaos vermag sich zu verstecken, in Formen, die niemand erwartet. Wer würde schon ein schreiendes Kind einfach alleinlassen? Oder eine alten Frau am Boden liegen lassen? Genau mit dieser Moral der Menschen spielte ich in dieser Nacht. Er reichte mir die Hand. Was auch immer er sah, er wollte ihm helfen. Und als die warme Handfläche des unbesorgten Blondschopfes meine grässliche Pranke berührte, war es zu spät. Das Gefängnis war gebrochen. Und die Zerstörung stand bevor.
Die eisigen Klauen meiner Hand bohrten sich in seinen Leib. Er schrie, flehte und weinte. Er wollte nicht sterben. Ich war mir aber sicher, dass er es musste. Sein Leben widersprach meinem Wunsch nach Chaos. Ich wollte sie alle brennen sehen, denn sie hatten mich hintergangen. Als ich ihm den Arm vom Leib riss und das Blut nur so spritzte, erkannte ich es. Die Vergangenheit. Es musste passiert sein. Ich hatte gesiegt, war zurückgekehrt. Und sie hatten mich hintergangen. Warteten bereits am Hafen, um mir alles zu nehmen. Stellten ihre eigenen Ziele vorne an. Ich wehrte mich. Natürlich wehrte ich mich. Doch gegen die Übermacht aus Uniformen, Zaubern und wütendem Mob war ich chancenlos. Mein Körper wurde zerstückelt. Meine Habe wurde geplündert. Und zuletzt wurde meine Leiche verscharrt und verflucht.
Es war in diesem Moment, als ich mein Leben wegwarf. All die Güte und all den Glauben, den ich über die Jahrzehnte gab und brachte – es war alles vergebens. Völlig egal. Das blutrote Gelüst der Wut stieg in mir auf. Ich hätte einen Ozean aus Leid füllen können und wäre immer noch nicht befriedigt gewesen. Deshalb riss ich ihm den Arm ab. Deshalb zog ich ihn, wie einen leblosen Spielball, an meine Überreste. Und verschlang ihn mit Haut und Haaren.
Die verbotene Macht wuchs in mir an. Ich spürte, wie das Chaos mein Sein bestimmte. Es waren all die Emotionen, die ich so lange unterdrückt und innerlich verurteilt hatte. Sie sprudelten, wie aus einer Fontäne, aus mir heraus. Mit einer Dienerschar des Todes fiel ein Schleier über diese Stadt. Alles wurde ins Dunkel gehüllt, wie in der schwärzesten Nacht ihres Lebens. Wer sich vor die Türe wagte, fiel direkt in einen ewigen Schlaf. Nur um direkt vor meine Füße gebracht und gefressen zu werden. Wie ein ein wildgewordenes Tier labte ich mich an ihrem Fleisch. Zog ihnen die Seele aus dem Körper, um sie wie eine Trophäe zu sammeln. Am Ende zerstörte ich sie. Ihr Wunsch nach einem Leben nach dem Tode in Deyns Himmelsreich wurde vernichtet. Ich gönnte es ihnen nicht; so wie sie es mir nicht vergönnten. So, wie sie mein Leben nicht achteten.
Die Kirchenglocken schlugen unablässig. Rufe hallten durch die Straßen der Stadt. Und doch war da nur dieser Nebel, der sie alle trennte. Sie zum Sterben alleine ließ. Haus für Haus zog ich durch die Stadt. Öffnete die Tür und sah in ihre verschreckten Gesichter. Ich fing an mit den Sumpfmagiern, die mir ihre wundersamen Kräfte entgegen warfen. Welches Eis, welche Erde und welcher Blitz mögen schon den Tod überlisten? Sie fanden es schnell heraus, als meine grässlichen Pranken ihre Gesichter ergriffen. Meine Kiefer zermalmten ihre Leiber, ließen ihre Behausung brennend zurück. Keine Spur würde mehr von ihnen übrig bleiben. Keine einzige Hinterlassenschaft würde auf das schaurige Spektakel hindeuten, das ich just angerichtet hatte. Ich fühlte nur den Hass. Die Wut. Die Rachsucht. Ich konnte sie nicht länger im Zaum halten. Alles quoll aus mir heraus. Alles.
Meine Spur des Chaos setzte sich in der Stadt fort. Aus eingeschlagenen Fenstern zog ich alte Bekannte heraus, um sie meinen niederträchtigen Dienern als Fraß vorzusetzen. Ich selbst ergötzte mich nur am Tod derer, die mir das Leben genommen hatten. Ließ sie ein letztes Mal in das Angesicht des Terrors blicken, den sie selbst herbeibeschworen hatten. Dann zerstörte ich ihrer aller Existenz. Es waren die heldenhaften Soldaten der Wachmannschaft, die sich mir in den Weg stellen wollten. Mit ihrer Kanone feuerten sie in den Nebel. Ich ließ mich gar treffen. Was hatte ich noch zu befürchten? Ich war längst gerichtet worden. Ich verspürte nur den Willen des Untergangs. Ihre lächerliche Eisenkugel prallte an meinen Klauen des Chaos ab. Und dann waren meine Ketten aus verdorbenem Fleisch schon an ihren Beinen.
Kopfüber bangten sie um ihr Leben. Kopfüber flehten und beteten sie. Kopfüber suchten sie einen Ausweg. Nur einer blickte mich an. Mit seinen eiskalten, durchdringenden Augen sah er direkt in das Angesicht des Todes höchstselbst. "Ich hätte es besser wissen müssen." Die einzigen Worte, die mir aus diesem Traum im Kopf blieben. Der einzige Satz, den ich verstand. "Ich hätte es besser wissen müssen." Warum hast du es nicht besser gewusst? Warum habe ich es nicht besser gewusst?
Schon bald ließen sie mich zu neuer Kraft aufsteigen. Ihre Seelen waren wie ein Kraftschub ungeahnter Macht. Nichts konnte mich mehr bremsen. Nichts. Nicht einmal die Flammen meiner ehemaligen Freunde und Kameraden. Nicht einmal die Wunder unseres einstigen gemeinsamen Herren. Sie erkannten mich. Zweifelsohne taten sie das. Aber welche Wahl hatten sie? Sie setzten alles gegen mich ein, was sie nur aufopfern konnten. Flammenwände trafen auf meine finstere Hülle. Stöße des Licht durchbohrten mich für einen Augenblick, nur damit sich die Lücke in der nächsten Sekunde wieder mit ungeahnter Wucht schließt.
Meine grässlichen Auswüchse fesselten sie, ließen Arme und Beine sofort brechen. Das Knacken lag mir laut in den Ohren. Aber ich, ich haderte nicht einmal. Ich hatte nur ein grausames Ziel vor meinen kalten, toten Augen – das Ende allen Seins. Deyn Cador mag einst Skrettjah aufgehalten haben. Ich konnte aber nicht anders, als mich nicht aufhalten zu lassen. Diese Insel war mein Anfang. Ich wusste nicht, was mein grausames Ende sein würde. Ich war nur getrieben von einer Sucht alles Leben auszurotten. Diese Welt war kaputt, so kaputt wie ich. Und schließlich widerspricht alles Kaputte unserer Ordnung. Was für verquere Gedanken mich antrieben. Ich schaudere beim Schreiben dieser Zeilen. In dieser Nacht fühlte es sich so echt an, als könnte ich es nicht unterbrechen. Als wäre ich das. Als müsste ich vernichten.
Ihre kristallklaren Seelen schluckte ich zuletzt. Ihre Erinnerungen pulsierten in mir, bevor man ihre Existenz vergessen würde. Bevor es endgültig vorbei war und keine Spur des einstigen Lebens mehr übrig blieb. Ich würde meine zerstörerische Wut auf den Rest der Welt entfesseln.
Bis ich endlich aufwachte und nicht mehr wusste, wer ich eigentlich war. Träume sind Schäume? Was für ein verfluchter Mist. Ich zitterte, konnte nicht mehr. Auch jetzt, auch hier an den Ufern des Aschsees. Als ich langsam meine Erlebnisse nach und nach durchging, spürte ich warme Tränen an meinen Wangen hinablaufen. Das war nicht ich. Oder war ich es? Würde ich es werden? Dann müsste alles hier enden. Es wäre die einzig richtige Entscheidung.
Ich wollte nicht kampflos fallen. Nicht so enden. Das war nicht ich. Das durfte ich nicht sein. Solche Gedanken hegte ich nicht. Oder . .verstecke ich mich nur seit langer Zeit davor? Erst die kitzelnden Strahlen der Sonne konnten mich wieder ein wenig aufheitern. Ich bete dafür, dass du auf mich aufpasst, Sôlerben. Ich bete umso mehr, dass du deine schützende Hand auf mich legst, Deyn Cador. Ich bin nur ein kleines Licht auf eurer Welt. Doch aus jedem noch so kleinen Licht vermag unfassbare Dunkelheit emporzusteigen. Ihr wisst am besten, was aus uns werden kann. Was ihr in uns sehen wollt und gerade noch herauskitzelt. Ich hoffe nur, dass ihr mir den Weg an anderer Stelle ebnet.
So wahr werde ich weiter einstehen. Trotz meiner Angst, meiner ewigen Furcht und meines Unverständnisses. Wie viel hält eine einzelne Person noch aus? Ich finde es immer wieder aufs Neue heraus. Ich seufzte laut aus. Ließ die kühle Luft meine Tränen trocknen, selbst wenn ich mit meinem Fell an den Schultern ein wenig nachgeholfen habe. Ich fühlte mich noch immer elend. Immerhin hatte ich so ein wenig die Gelegenheit über das Erlebte der Nacht nachzudenken. Kurzum bin ich nichts anderes, als eine gewissenlose Schlächterin. Für ihre eigene Ansicht der Ordnung. Oder steckt vielleicht doch mehr dahinter? Ich hoffte es. Ich konnte es nur hoffen. Denn sonst zeigen mir meine Träume nur meine eigene Unfähigkeit und Gewissenlosigkeit. Dabei stelle ich mich selbst gern als Hüterin des Gewissens und der Moral dar. Verdammt, Amélie, verdammt.
Mehr fiel mir nicht ein. Mehr blieb mir nicht übrig zu sagen. Der See antwortete mir natürlich nicht. Irgendein Zeichen war wohl zu viel verlangt für einen beliebigen grausamen Traum einer der unzähligen Dienerinnen Deyn Cadors. Möge unsere Ordnung gesegnet sein und mein Verstand bleiben. Es war Zeit für ein Gebet geworden. So legte ich meine Hände um mein Holzkreuz und sprach die Verse langsam vor mich hin.
Deyn Cador,
Deyn Cador,
Herr über die Ordnung und Bezwinger des Chaos,
beschütze unsere Leiber wie unsere Geister.
Gebe Acht auf unser Leben während unserer Zeit als Sterbliche.
Und nimm uns auf, wenn wir an deiner Schlucht stehen.
Wir opfern deiner und beten am Tag und in der Nacht.
Vor jeder Speis gedenken wir dir, denn nur dank dir,
vermögen wir überhaupt zu leben.
Wir brauchen deinen Halt.
Wir brauchen deine Fürsorge und deine Gaben.
Wir brauchen deine ewige Güte,
denn sonst fallen wir einfach ins Dunkel.
Dein Licht hat uns erschaffen.
Dein Licht hat uns den Weg gewiesen.
Nur mit deinem Licht kommen wir auch bis an unser Ende.
Lass uns niemals im Stich, so werden auch wir immer
an dich denken.
Damit die Ordnung und dein Licht aufleben,
und wir irgendwann einmal
gemeinsam in ewiger Glückseligkeit leben.
Ich brauche deinen Halt.
Ich brauche deine Fürsorge.
Ich brauche deine ewige Güte.
Denn sonst falle ich ins Dunkel.
Bleib an meiner Seite, denn ich brauche dich.
Ich bitte dich.
Amen.
Ich hatte gerade erst das Amen ausgesprochen, da klapperte es. Jemand klopfte mit kleiner Faust gegen die Rückseite meiner Schulterplatte. Ich schreckte ziemlich auf. Zuckte erst zusammen und sah mich dann angespannt um. Ich spürte, wie ich meine Kiefer ungesund aufeinanderrammte. Doch hinter mir stand nur ein kleines, braunhaariges Mädchen mit unschuldig geflochtenen Zöpfen. Sie muss keine zehn Jahre alt gewesen sein, sah eher noch jünger aus. Ihre Hände hielt sie verschlossen in meine Richtung. Dann grinste sie mir entgegen. "Wenn ihr die richtige Hand erratet, schenke ich euch etwas!"
Ich versuchte wenigstens halbwegs wieder in Form zu kommen, wischte mir mit dem Handrücken nochmal über das Gesicht. Vor Kindern kann man dennoch nur wenig verstecken. Ihre unschuldigen Augen erkennen oft das, was uns Erwachsenen verborgen bleibt. "Du siehst so traurig aus. Deswegen musst du richtig raten."
"Wie heißt du denn, Kleine? Ich bin Amélie. Und ich wähle ..."
Ich fuhr mit ausgestrecktem Zeigefinger über beide Hände und blieb schließlich auf ihrer linken Hand stehen. Hätte ich besser nicht mit Franz' Weisheit gebrochen, dass der Herr immer rechts geht.
"Sei gegrüßt, große Amélie von den Sôlanern. Ich bin Hannah. Und du hast falsch getippt." Sie öffnete beide Hände. In der rechten Hand befand sich ein kleiner Bernstein. Er war sogar noch nass, sie musste ihn gerade erst gefunden haben. "Ich gebe ihn dir aber trotzdem, weil du so traurig ausschaust. Dafür sagst du mir, warum du hier sitzt und weinst. Sôlaner weinen nämlich nie, sagt mein Papa immer. Sôlaner sind ganz stark und hauen die Magier für uns um, damit ich ruhig schlafen kann. Du weinst aber, also muss Papa das falsch verstanden haben."
Ich lächelte sie vorsichtig an, fuhr mit meiner linken Hand um ihr Gesicht. Sanft streichelte ich ihr durch das Haar, während sie mir den Bernstein in die andere Hand drückte. "Das ist sehr lieb von dir, Hannah. Vielen Dank. Ich werde für dich beten, ja? Bist du dir sicher, dass du mir zuhören möchtest? Ich habe nämlich ein ganz großes Problem, das mir schon sehr lange Arbeit macht."
Sie nickte. "Während Papa sagt, dass Sôlaner alle ganz stark sind, sagt Mama, dass sie auch manchmal weich sein müssen. Ich glaube, dass Mama recht hat. Also höre ich dir zu." Hannah strich ihr Kleid glatt und ließ sich vor mir in den Schnee plumpsen.
Ich lächelte ihr zu. "Gut, Hannah, wie du willst. Ich halte dein Geschenk so lange fest, ja?"
"Es ist dein Bernstein, große Amélie. Ich schenke ihn dir. Dafür spielst du gleich noch mit mir, in Ordnung?"
"In Ordnung. Aber erst eine kleine Geschichte. Ich reise sehr viel. War schon hier und dort. Gemeinsam mit meinem Pferd. Yuki heißt er, ein ganz großes Streitross ist er!" Mit der Hand versuchte ich ein großes Tier darzustellen, was mir sicher weniger gut gelang. "Mit Yuki habe ich viel erlebt. Momentan besuche ich viele alte Freunde, weil ich etwas von ihnen brauche. Ein gemeinsamer Freund hat uns allen etwas geschenkt. Ich brauche alle Teile von allen Freunden. Ein weiterer Freund sammelt aber auch alle Teile. Nur einer von uns kann sie alle bekommen, wir brauchen sie aber beide. Jedes Mal wenn ich einen dieser Freunde besuche, passiert ihnen etwas ganz Schlimmes. Deswegen schlafe ich sehr schlecht. Manchmal weiß ich nicht mehr, was ich machen soll. Deswegen sitze ich hier gerade, um ein wenig nachzudenken."
"Oh. Das klingt nicht gut. Aber wenn du und dein Freund alle Teile brauchen, warum teilt ihr dann nicht? Egal, das war ein wenig gruselig, große Amélie. Lass uns lieber Verstecken spielen. Du suchst. Bis Zwanzig musst du Zählen!"
Bevor ich überhaupt eine Antwort geben konnte, sprang die kleine Hannah schon auf und lief in den Wald. Schmunzelnd rief ich ihr hinterher:" Eins, Zwei, Drei .. Zwanzig". Es wäre keine Kunst gewesen die kleine Kurmarkerin zu finden. Schließlich hätte ich nur ihren schnurgeraden Fußspuren im Schnee folgen müssen. Dennoch ließ ich mir viel Zeit, suchte hier und da. Immer wieder rief ich "Hannaaaah?", um sie nicht zu langweilen. Derweil ging mir ihre kleine Anmerkung nicht aus dem Kopf. Warum teilen wir nicht? Weil wir andere Ziele verfolgen? Wenn wir nicht einmal wissen, worum es geht? Vielleicht ist die Lösung so einfach, wenn wir erst einmal verstanden haben. Solange bleibt es aber ein ungleicher Wettkampf. Was steht auf dem Spiel? Was opfern wir noch? Was soll am Ende herauskommen? Wenn ich nur ein wenig mehr wüsste, könnte ich diesen kindlichen Ratschlag vielleicht berücksichtigen. Aber so blieb mir vorerst nichts anderes, als ihr dieses Mal meine Hand auf die Schulter zu legen.
"Gefunden. Gehen wir zu deinen Eltern zurück, ja?"
"Ist gut. Die sind in Zandig. Ich wollte Bernsteine suchen, aber ich gebe dir meinen."
"Nein, Hannah. Ich kann ihn nicht behalten. Es ist dein Bernstein, bring ihn zu deiner Mama und deinem Papa."
Sie schüttelte widerwillig den Kopf. "Du behältst ihn. Du hast schließlich mit mir gespielt. Bitte, er hilft dir bestimmt mit deinen komischen Freunden."
Ich streichelte ihr noch einmal über den Kopf, sah zu ihr herab. "Wenn du das sagst, wird es so sein. Danke, Hannah. Möge er uns Glück bringen." Dann nahm ich sie an die Hand und lief mit ihr zurück ans Zandiger Westtor.
Ihre ganze Hand umgriff nur zwei meiner Finger. Und doch wollte sie nicht von mir ablassen. Zog mich um mehrere Ecken und Straßen herum zu einer kleinen Schmiede. Ich wollte meiner kleinen Begleitung nicht widersprechen und kam einfach mit. Vielleicht würde sie mir ein wenig mehr Ablenkung bieten, damit ich Morgen wieder klar denken kann. Vor einem Ofen und dazugehörigen Amboss stand ein haarloser Glatzkopf mit strengem Blick. In einer Hand hielt er einen dicken Hammer, in der anderen eine metallene Zange. Die Flammen des Feuers schlugen ihm gegen die lederne Schürze. Die Hitze schien ihm aber schon lange nichts mehr auszumachen. Mir bot sie dagegen eine kleine Gelegenheit mich wieder aufzuwärmen.
Der kahle Mann drehte sich um, legte das Eisenstück auf den Amboss und drosch mit großer Kraft darauf ein. "Hannah, wen hast du denn da mitgebracht, meine Kleine? Bitte verzeiht, ich bin Werkzeugschmied. Mit euren Waffen kenne ich mich nicht aus. Vielleicht sucht ihr eine geeignetere Handwerksstätte auf?"
"Das ist meine neue Freundin, Papa. Sie heißt Amélie." entgegnete Hannah sogleich.
"Sehr erfreut, Schwester Amélie ist mein Name. Ich traf eure reizende Tochter draußen am Aschsee und spielte ein wenig mit ihr."
"Zu freundlich von euch, normalerweise haben Sôlaner für solche guten Taten keine Zeit, hm? Moment. Habt ihr gerade Aschsee gesagt? Hannah?!" Sein Tonfall verfinsterte sich, wurde fast schon anklagend. "Warst du wieder alleine am See? Ich habe dir doch tausend Mal gesagt, dass du da nicht alleine rausgehen sollst! Was ist wenn deine Mutter heimkommt und dich sucht? Geh rein ins Haus, aber schnell."
Hannah nickte. Wenngleich sie ein wenig betrübt wirkte, machte sie sich schnell ins Innere des Hauses auf. "Machs gut, Amélie. Spielen wir später nochmal?"
Ich lächelte auf. Winkte ihr hinterher. "Gern. Machs gut."
"Heh, dieses Kind. Danke, dass ihr sie zurückgebracht habt, Schwester. Hannah ist manchmal ein wenig gedankenverloren. Wie gut, dass ihr euch um sie gekümmert habt. Ich bin Forn, einfacher Schmied. Wie gesagt, ich kann euch nicht helfen."
Ich blickte mich ein wenig in seiner Schmiede um. Überall lagen Eisenstäbe herum, grobe Werkzeugstiele stapelten sich in einer Ecke. In zwei Fässern befanden sich fertige Werkzeuge. Ihre Köpfe ragten in alle Himmelsrichtungen nach oben hinweg. Forn schien ein treuer Zeitgenosse zu sein. Sein Gesicht war zwar von Brandwunden gezeichnet, doch war er ein einfacher Familienvater und Schmied. Oder auch nicht? Mir stach ein kleiner Stapel Brech- und Stemmeisen ins Auge. Wenn sich keine Möglichkeit offenbart, muss man sie selbst schaffen.
"Eure Tochter hat sich vorbildlich verhalten. Seid stolz auf sie. Ein liebenswertes Kind, lasst sie ruhig ein wenig frei. Nur wer auf die Nase fällt, lernt selbst wieder aufzustehen."
"Heh, wenn ihr das sagt. Von den Sôlanern hört man normalerweise immer das Gegenteil. Wer die Sonne nicht auf der Brust hat, lebt in dieser Stadt lieber nur nach Regeln. Könnt' mir nichts besseres vorstellen."
Die Ironie war deutlich aus seiner Stimme zu hören.
"Manchmal ist es unvermeidlich die ein oder andere Regel zu brechen. Weshalb glaubt ihr, geht Hannah umso lieber zum Aschsee, wenn ihr es verbietet?"
"Da habt ihr einen guten Punkt, Schwester. Seid' wohl nicht von hier? Garantiert seid ihr das nicht." Er lachte auf. "Wärt ihr aus Zandig würdet ihr euch nicht mal trauen solche Worte von eurer Zunge rollen zu lassen."
"Seid unbesorgt, Forn. Ihr habt durchaus recht. Ich bin weder von hier, noch .. werde ich wohl allzu lang bleiben. Um ehrlich zu sein, habe ich eine Frage. Ihr könntet mir nicht zufällig bei einem kleinen Anliegen helfen? Ich denke nämlich schon, dass gerade ihr mir behilflich sein könnt. Und wie Deyn Cador es will, hat mich eure Tochter geradewegs zu euch gebracht."
"Mit einem letzten Hammerschlag ließ er das Eisenstück vor sich liegen. Er verschränkte die Arme, trat um den Amboss herum und schaute mich von oben herab an. "Dann lasst mal hören."
"Ich habe ein kleines Problem wegen dem ich recht dringend in die Tempelfeste einkehren müsste. Leider habe ich mein .. Empfangsschreiben noch nicht erhalten. Ihr habt nicht zufällig eine Idee, wie man dort oben hineinkommen könnte?"
Er zog die Augenbrauen ein wenig an, grinste danach aber verschmitzt auf. "Wenn ihr noch auf euer Empfangsschreiben wartet, kann man das sicher ein wenig beschleunigen. Vielleicht holt ihr dabei gleich das Schreiben oben ab, heh? Ihr seid mir ja eine. Ist lange her, dass Hannah was mit einem vom Orden gemacht hat. Ich sag euch was. Kommt heut' Abend noch mal wieder. Ich kenn da wen. Kostet aber eine kleine Gegenleistung."
"Nur das letzte Urteil ist auf dieser Welt umsonst. Was isst eure Tochter besonders gern? Sie soll schließlich nicht leer ausgehen."
"Den guten, gereiften Käse. Den sonst nur die Ordensritter bekommen. Was soll meine anspruchslose Tochter auch sonst gern essen?" Er lachte erneut auf, winkte mir zu und machte sich wieder an die Arbeit. Ich würde am Abend wieder zu ihm zurückkehren. Mit einer gewissen Hoffnung auf Antworten und vielleicht etwas mehr Wissen über die Tempelfeste. Zunächst wollte ich aber Hannahs Bedürfnis nach Käse stillen.
Ich kehrte in meine schäbige Unterkunft zurück. Nach einem Tag in der Kälte war ich nicht nur durchgefroren, sondern auch spürbar hungrig. Zwar hatte die Wärme von Forns Schmiedeofen kurz geholfen, aber hier am Kamin war es deutlich lauschiger. Ich verleibte mir sogleich drei Schüsseln des guten Bauernbreis ein. Für uns Ordensritter gab es immerhin einen kräftigen Schlag deftiger Soße dazu, damit der fade Beigeschmack übertönt wurde. Dennoch – kulinarisch konnte Zandig nichts bieten. Mindestens in dieser Hinsicht war ich mehr als enttäuscht. Ich konnte es den Bewohnern dennoch nicht übel nehmen. Es war beeindruckend, wie man aus einem Haufen gefrorener Steine und Kiefern solch eine stattliche Stadt gebaut hatte. Bei aller Abneigung und Doppelmoral. Sie lebten; und das war in dieser Welt schon viel wert.
Meine Gastwirtin wies mir den Weg zur Proviantausgabe im nördlichen Teil der Stadt. Vor einem großen Kontor mit mehreren Schaltern standen die Ordensmitglieder und mancher Bürger in langen Schlangen. In einem offenbar immergleichen Ritual legte man seinen leeren Beutel auf den Tresen und bekam ihn daraufhin gefüllt zurück. Manch einer beschwerte sich beim Blick ins Innere, manch einer strahlte auf. Es war schlicht und ergreifend die Willkür der Ausgabe, die bestimmte, was man in den nächsten Tagen speisen würde. Wünsche wurden geäußert und sicher auch entgegengenommen. Doch ob sie beherzigt werden konnten; oder wollten; weiß nur Deyns allewige Güte.
Ich stellte mich an. Lauschte den Gesprächen der ebenso wartenden Sôlaner. Manche wollten gen Süden aufbrechen, manche mussten nach Norden reiten. Sie alle einte, dass ein Auftrag bevorstand. Eine weitere Mission im Namen des Ordens, für den sie alle bis ans Ende der Welt gehen würden. Sei es für die Bekämpfung von wilden Stämmen in Haldar oder Verhandlungen mit den Orden des Südens. Hier in Zandig war unser Herz und Hirn. Es war der Orden des Heiligen Sôlerben in seinem innersten Kern.
Und dieser innerste Kern ließ mich hoffen. Ich legte meine Tasche auf den Tresen, wie alle anderen auch. Mit einem mürrischen "Guten Hunger" wurde sie gefüllt und zurückgereicht. Ich machte einige Schritte zur Seite und lugte hinein. Kein Käse. Dafür Trockenfleisch und ein paar Laiber Brot. Worüber andere sich sicher gefreut hätten, war für mich ein kleiner Reinfall. Hannah wollte doch Käse. So beging ich eine wohl einmalige Tat in diesem langen Winter. Ich zog das Fleisch aus der Tasche, drehte mich der Masse zu und sagte laut: "Wer tauscht gegen den Käse?"
Sogleich standen mindestens ein Dutzend Ordensbrüder vor mir und boten ihren Käse feil. Der Tausch war schnell gemacht, ein Ordensbruder und ich glücklich.
Gestärkt schritt ich entlang der vielen Straßen. Immer wieder schaute ich hoch zur Feste Londanors. Ihre prächtigen Türme glänzten im Sonnenlicht, später erhoben sie sich vor Sôlerbens Sonne selbst. Ein majestätischer Anblick. Er ließ mich ehrfürchtig werden. Denn ich wollte dort oben einbrechen. Es war eine wahnsinnige Idee. Egal, wie oft ich sie mir vor Augen führte. Aber ich trieb sie weiter voran. Nicht zuletzt auch damit, dass ich der kleinen Hannah ihren Käse reichte. Sogleich machte sie sich glücklich schmatzend daran die ersten Bissen vom gelben Käseeck zu nehmen.
Ihr Vater lächelte ihr von der Seite zu.
"Immerhin habt ihr euer Wort gehalten. Dann werde ich auch meins nicht brechen. Ich hab mich ein wenig umgehört, was hier in den letzten Wochen so gesehen wurde. Versucht es an den südlichen Versorgungsaufzügen in der Nacht. Wenn ihr in die Feste wollt, kommt ihr da rein. Vielleicht nicht sofort, aber mit Geduld bestimmt. Bringt mir nur ein schönes Souvenir von oben mit. Wie wäre es mit einer Antwort auf das Gerücht, das hier seit Wochen umhergeht? Man sagt, dass Ripel die Nordfront nicht selbst anführen will. Das er irgendetwas anderes macht. Wir haben ihn schon lang nicht mehr gesehen. Ich bin neugierig, wisst ihr. Und verlässliche Quellen sind rar."
Ich nickte dem Schmied dankbar zu. Es waren weniger Informationen, als ich mir erhofft hatte. Aber ich konnte mit ihnen etwas anfangen. Ich wusste wo ich zu sein hatte, um in die Tempelfeste zu kommen. Eine leise Vermutung beschlich mich, dass es kein allzu guter Plan wäre, aber .. das war mir schon längst klar geworden.
Genau so klar, war mir aber auch, dass dieser Mann sicher nicht nur Schmied war. Und ich mich mal wieder auf einen Handel der Schatten eingelassen hatte.
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"Nicer Cock, Schussi" - Christian, 06.12.2019
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XXI – Die Tempelfeste
Nach dem Abschluss meiner kleinen Verabredung mit dem zwielichtigen Schmied, verließ ich seine Schmiede zeitnah. Schnellen Schrittes passierte ich die erste Eckkreuzung, lief über eine weitere Straße. Dann überkam es mich. Dieses flaue Gefühl im Magen. Als wäre ich nicht allein, als .. würde mich jemand beobachten. Abrupt blieb ich auf der Straße stehen. Der Mond erhob sich da gerade langsam über den gigantischen Mauern Zandigs. Er warf sein Licht schräg über die Dächer der Stadt, direkt in all die kleinen Gassen und Wege. Ich blickte mich langsam, vorsichtig um. Wandte den Kopf einmal quer in alle Richtungen. Aber da war nichts. Rein gar nichts. Nur das gespenstische Krähen eines Raben in der Ferne.
Ich holte tief Luft. Die kalte Nachtluft belebte mich, ebenso wie sie mich Erschaudern ließ. Ich stieß eine wabernde Wolke meines eigenen Atems in das Dunkel hinein. Es kam mir gespenstisch vor. Ich war mir sicher, dass mir jemand gefolgt sein musste. Oder etwas. Doch .. nichts. Nichts. Leere. Es war fast schon zu leer. Vielleicht wurde ich auch nur langsam paranoid? Drehte völlig ab. Es nützte nichts, ich setzte meinen Weg wieder fort. Entlang der Mauerstücke versuchte ich mein Ziel ausfindig zu machen. In dieser Nacht würde ich sicher keinen Eingang finden, aber immerhin die ein oder andere Entdeckung machen.
Am südlichen Endstück der vierzig Meter hohen Zandiger Mauer waren gewaltige Holzkonstruktionen errichtet worden. In kettengezogenen Gehäusen wurden Menschen und Vorräte hinauf auf den Berg Londanor bewegt. Große Konstrukte aus Zahnrädern und Schrauben ließen Gewichte hinabsinken und die Fracht hinaufsteigen. Einziges Problem war unbemerkt auf die Mauer zu kommen, um mich in einem dieser Aufzüge ebenfalls nach oben bringen zu lassen. Entweder über die Treppenhäuser im Inneren der steinernen Bauwerke oder über die eigens auf der Innenseite errichteten kleineren Seilzüge würde es auf die Mauer hinauf gehen. Jedes unerlaubte Eintreten stellte in Zandig ein eigenes Verbrechen dar. Keines würde leicht oder gütig bestraft werden. Dafür waren wir eben Sôlaner.
Gegenüber der Mauer lagen einige hochgebaute Kauf- und Lagerhäuser. Ihre Fassaden aus Fachwerk und glattem Stein reichten aber nicht einmal annähernd an die Höhe der Mauer heran. Ich würde Morgen einen Blick in sie hineinwerfen, gleich während der ersten Sonnenstrahlen. Vielleicht könnte ich durch die Fenster eine halbwegs gute Aussicht erhaschen und die ein oder andere Erkenntnis gewinnen. Von hier unten blieb mir nur die Ansicht auf die unteren Aufzüge, die Eingangstüren und auf einige Lagerbestände. Drei Wachen standen neben einem Kohlenfeuer und unterhielten sich. Einer von ihnen schien ständig mit seiner Pfeife beschäftigt zu sein, während ein anderer sich über die Rückenleiden in der Rüstung beklagte.
Ich drehte einige Runden in ausreichender Entfernung, konnte aber trotz des hellen Mondscheins nichts Genaueres erkennen. Die Dunkelheit vereinnahmte das langsam einschlafende Zandig. Ich entschloss mich wieder in meine Herberge zurückzukehren. Auf meinem Gang durch die Stadt schlug dabei das Wetter schlagartig um. Und zwar ganz anders als ich erwartete. Regen prasselte auf die Dächer der Stadt hernieder. Der Schnee würde verschwunden, der erste Regenschauer markierte das Ende des Winters. Die Felder würden bald frei von Frost und Schnee sein, die ersten Samen würden ausgebracht werden und bald wäre dies ein lebenswertes Plätzchen dank Sôlerbens schützenden Sonnenstrahlen. So bekundete es zumindest die abergläubische Bevölkerung der umliegenden Dörfer auf meiner Reise her.
Ich kam zwar pitschnass in meiner Abstellkammer an, war aber irgendwie auch froh. Weniger Schnee bedeutete weniger Kälte. Ein paar Grad mehr auf dem Thermometer machten hier draußen schon eine Menge aus. Insbesondere wenn man so eine wahnsinnige Affinität zur Wärme hat, wie ich. Ich legte meine Ausrüstung ab und wischte sie mit einem Tuch trocken. Für ein Bad hätte ich in die gemeinsame Waschkammer mit meinen Brüdern gemusst. Ich wollte aber weder ihnen noch mir die Unnanehmlichkeit meiner Anwesenheit bereiten. Einen eigenen Waschraum für Frauen gab es einfach nicht; auch das war eine Eigenheit von Zandig. Offiziell gilt schließlich die Keuschheit im Orden. Lüsterne oder begierige Blicke bekommen wir wenigen weiblichen Ordensritter jedoch überall ab. Es gibt kein Entrinnen, besonders nicht vor dem widerlichen Zischen und Pfeifen der männlichen Kameraden.
Ich zog es daher vor mich ebenfalls nur kurz abzutrocknen. Durchaus erschöpft legte ich mich in die schaukelnde Hängematte, die mich in Windeseile in das Reich der Träume abgleiten ließ. In dieser Nacht ereilte mich eine schaurige Zusammenstellung der Geschehnisse aus der letzten Nacht. Nur war es irgendwie anders, dieses Mal .. war ich nicht allein. Ich hatte Diener an meiner Seite, die mir seltsam vertraut vorkamen. Mit ihnen zerstörte ich in ungebändigtem Hass meine Heimat. Diese Welt. Und dann alles Leben. Es war bedrückend. Schrecklich. Grausam. Ich merkte, wie ich mich im Schlaf drehte und wendete. Ich versuchte mit aller Kraft standhaft zu bleibe. Wollte im Traum verbleiben. Wollte es bis zum Ende durchstehen und verstehen, was dahintersteht. Trotz meiner Bemühungen wachte ich irgendwann auf. Die Sonne würde zu dieser Zeit noch ein ganzes Weilchen hinter dem Horizont verborgen bleiben.
Meine Finger waren in die Enden meines Stofflakens gekrallt, als sich meine Augen öffneten. Ich brauchte einen Augenblick, um meine verkrampften Hände zu lösen und durchschnaufen zu können. Mein Körper fühlte sich feuchter an, als vom gestrigen Regen. Ich konnte selbst spüren, wie mein eigener Körpergeruch an mir aufstieg. Ich beschreibe ihn lieber nicht. Er trieb mich jedoch dazu bereits in den frühen Morgenstunden die Waschkammer aufzusuchen. Trotz meiner eigentlichen Abneigung vor unwillkommenem Besuch. Ich klemmte daher erst einen Stuhl, dann einen Besen unter den Türgriff. Dann erhitzte ich das Wasser. Während die Kohlen vor sich hin knisterten, vernahm ich das erste Rütteln an der Tür. Gefolgt vom ersten Ruf. "Ey, aufmachen. Ich will auch!"
Es war eine Männerstimme, die noch recht schlaftrunken klang. Ich versuchte ihn höflich abzuweisen. "Verzeiht bitte, Bruder. Aber ich brauche hier noch einen Augenblick. Wärt ihr so gut und wartet?"
Es brachte nicht viel. "Der Waschraum ist für alle da! Aufmachen, ich hab mich erst gestern Abend gewaschen." Es folgte dümmliches Gelächter. Dann eben auf die andere Tour.
"Wenn ihr es auch nur wagt, diese Türklinke noch einmal zu betätigen, zeige ich euch den größten Punkt des männlichen Schmerzes. Wartet nur ab." Vor der Tür kehrte nach einem kurzen Grummeln Stille ein. Holz quietschte. Es musste die Bank direkt vor dem Waschraum gewesen sein. Deyn sei Dank wartete er. Hoffentlich würde er auch allen anderen sagen, dass sie besser geduldig blieben, bis ich hier fertig war.
In aller Ruhe schrubbte ich den Schweiß von meinem Körper. Sogar ein wenig Seife war noch da. Sie roch zwar nach nichts, aber allemal besser als eine reine Katzenwäsche. Dank des warmen Wassers fühlte ich mich bald aufgewärmt und erfrischt. Das Beste: Ich stank nicht mehr, wie ein Waschbär nach einem ausgiebigen Bad im Moor. Ich legte meine Kleider wieder an, nahm Besen und Stuhl weg und öffnete die Tür. Auf der Bank hatte sich mittlerweile ein zweiter Ordensritter eingefunden, der neben dem klopfenden Bruder herumdöste. Ich blickte sie beide einmal mit strengem Blick an. Meine grausige Bissnarbe an der Wange ließ ich herausstechen, sodass sie direkt in ihrem Blickfeld lag. Keiner sagte auch nur ein Wort. Ich zog vorbei.
Nach einem kurzen Frühstück verschlug es mich wieder an den südlichen Mauerabschnitt. Ins Licht der aufgehenden Sonne getaucht wirkte der Zandiger Ostwall noch einmal anders. Heroischer oder sagenhafter? Auch die Mauer dieser heiligen Stadt funkelte auf, als wäre sie mindesten doppelt so hoch, wie sie es eigentlich war. Es wirkte beeindruckend, zugleich aber auch beängstigend. Da wollte ich hoch. Einmal oben würde es kein Zurück mehr geben.
Ich musste noch ein Weilchen warten, bis die Kaufhäuser vor der Mauer öffneten. Als die Ladentüren endlich aufgeschlossen waren, stieg ich direkt in den dritten Stock hinauf. Ich musste einige veraltete Kleider und Antiquitäten beiseite schieben, um überhaupt an das Fenster zu gelangen. Mit dem Ärmel wischte ich ein kreisrundes Guckloch in das von innen verstaubte und von außen verdreckte Glas. Auf der Mauer lief eine Patrouille entlang. Zwei gerüstete Wachen gingen auf und ab. Ab und auf. Vor der Kohlenpfanne auf dem Weg unter mir fand ein Wachwechsel statt, sodass die Wärter der Nacht durch ein neues Trio ausgetauscht wurden. Ich erkannte auch, wie einige Listen den Besitzer wechselten. Sie würden vermutlich die Warenlieferungen der kommenden Stunden enthalten. Ich hatte einmal gelesen, dass die Zandiger recht vorsichtig mit den Versorgungspaketen der Tempelfeste waren. Und eben dieser Umstand spielte mir alles andere, als in die Karten.
Beinahe eine ganze Stunde blieb ich am Fenster stehen. Als der Besitzer des Ladens und seine Gattin immer mal wieder nach mir sahen, schnappte ich mir schnell ein paar alte Kleider und hielt sie an meine Rüstung. Ich musste sie erst ein wenig davon überzeugen, dass ich ihre Hilfe nicht brauchte. Schließlich ließen sie von mir ab, dafür erhielten sie einige meiner letzten Münzen im Austausch gegen ein kleines, grünes Tuch. Wieder auf der Straße angekommen, schaute ich den umherfahrenden Kutschen und Ochsenzügen nach. Ich passte die erstbeste Möglichkeit ab, um mit einem der Lieferjungen ins Gespräch zu kommen, die hier ihre Waren abgaben.
"Bursche, möge Deyn dich begrüßen. Magst du mir auf die Sprünge helfen, wann die nächste große Lieferung hier ansteht?"
Sichtlich irritiert drehte er sich zu mir um. Der Junge wickelte die Leine seines Zugochsens um dessen Horn und blickte mich an. "Deyn zum Gruß, wisst ihr das nicht? Steht doch auf der Liste. Fragt eben eure Sôlaner. Was habt ihr überhaupt für einen merkwürdigen Dialekt?"
"Ich habe es mir ein wenig mit den anderen verscherzt. Sie wollen mich testen, ob ich es allein herausfinden kann. Du lässt mich doch nicht hängen oder?" Ich versuchte ihn ein wenig mitleidig anzuschauen, selbst wenn ich offenkundig log. Möge Deyn mir vergeben.
"Und was springt für mich dabei raus?" Er schüttelte den Kopf und machte eine merkwürdige Handgeste, die mir vollständig unbekannt war.
"Das ich dich nicht bei deinem Meister melde? Das ich dich stattdessen für deine zuvorkommende Arbeitsweise bei ihm lobe?" Ich senkte meinen Kopf ein wenig. Mit einem Lächeln würde diese Stadt gleich viel sympathischer sein.
".. in zwei Tagen, abends. Sie bringen neuen Trockenfisch und eine Säule. Sagts Meister Wolpertinger aber zügig, sonst zählt das wieder nicht. Mein Name ist Rohlst." Er buchstabierte. "R – O – H – L – S – T, Rohlst!" Ich nickte ihm dankbar zu, bevor er wieder die Leine ergriff und weiter an seine Arbeit ging.
Ich würde es also in zwei Tagen versuchen. Dann, wenn besonders viel Ware in die Aufzüge gestellt wurde, hatte ich eine bessere Chance. Zum einen würde ich mich besser verstecken können. Zum anderen würden sie die Fracht vermutlich nach und nach ausladen, was mir eine Gelegenheit zum geschwinden Ausstieg aus dem Aufzug gab. Am heutigen Tag musste ich damit aber noch die Füße stillhalten. Am Abend würde ich mir noch einmal ihre Besetzung und Routen ansehen. Zunächst wäre es aber verschwendete Zeit gewesen, wenn ich weiter hier rumstand. Ich schritt daher durch das mittlerweile weitgehend schneefreie Zandig.
Die weiße Masse hatte zuvor so einige unschöne Stellen verborgen. Viele Dächer waren undicht oder nur notdürftig geflickt. Die Straßen waren löchrig. Manche Wände hatten seit Jahrzehnten keine neue Farbe mehr gesehen. Wenn alles mit Schnee bedeckt war, schienen die allgegenwärtigen Schäden egal zu sein. Man sah diese kleinen Makel ja schließlich nicht. Als wären sie verschwunden, nie da gewesen.
Heute fielen mir aber selbst an den Fassaden der Kirchen große Beschädigungen auf. Aus den einst anmutigen Marmorsäulen waren Stücke abgeplatzt, das Holz war aufgequollen und die Feuchtigkeit hielt in jede Ritze und jeden Winkel Einzug. Freilich machte es nichts aus. Eine Kirche war auch nach schrecklichster Zerstörung noch eine Kirche. Sie mag anders wirken, aber ihrem eigentlichen Zweck war sie weiterhin dienlich. Ein Haus Deyn Cadors. Eine Obhutsstätte für Glauben und Hoffnung. Ein Ort des Ablegens für Trauer und Verzweiflung. Genau solch einen Ort brauchte ich.
Das Gotteshaus meiner Wahl war längst nicht mehr in seiner einstigen Pracht erhalten geblieben. Aber genau deswegen gefiel es mir so gut. Die Farbe der hölzernen Türbögen war abgesplittert und selbst auf den Bänken erkannte man deutlich die beliebtesten Sitzplätze. Über die Jahre wurden Holz und Lack abgetragen. Gläubige alles aller Welt mussten hier zu Deyn Cador gebetet haben. Sie sendeten ihre Hoffnungen und Schrecken vor einem Altar aus goldenen Stäben und Ketten gen Himmelsreich. Wie ein glänzendes Mosaik wurden sie zusammengefügt und vor eine große Version der Heiligen Schrift gespannt. Es sah fast so aus, als würden sie unser allewiges Buch versperren. Man konnte aber auch annehmen, dass sie es beschützen und verteidigen wollten.
In den verglasten Fenstern wurden Bildnisse des Propheten Jakobus dargestellt. In einem Bild dachte ich eine alte Höhle zu erkennen, in der er einst mit seiner Gattin Martha war. Es war dieselbe Grotte in der wir einst wandelten. Diese Steine ließen mich nichts anderes glauben. Was vor vielen Jahrhunderten eine Stätte des innigsten Glaubens war, wurde durch das Chaos verschandelt und missbraucht. Doch nicht nur das Chaos wütete seinerzeit, auch der ungebändigte Hass der Menschen. Mord und Grausamkeit regierten. Sie ließen dieses Bildnis auch zu dem werden, was es heute ist. Zu einer tragischen Geschichte deren wahren Ausgang kaum jemand kennt. Vielleicht ist es besser so. Vielleicht sollte die Wahrheit immer obsiegen. Aber ob wir dann noch in dieser Form bestehen können?
Ich legte meine Hände um das Kreuz und schaute gen Altar. Mit gesenkter Stimme sprach ich ein Gebet vor mir her.
So lasse jegliche Sünde von mir abfallen.
Nimm mir all die Last von den Schultern.
Hilf dabei meine Frevel zu beseitigen.
Halte mich auf dem Pfad der rechten Ordnung.
Geleite mich entlang des Lebens.
Weise mir den Weg in dein Himmelsreich.
Denn ich bin naiv.
Ich begehe Fehler, die du nie begehen würdest.
Stets im ewigen Streben nehme ich manchmal den falschen Weg.
Denn ich bin naiv.
Ich suche nach dem Licht,
stolpere aber manchmal in tiefste Dunkelheit.
Oftmals finde ich nicht allein wieder hinaus.
Wenn meine Angst zu groß wird,
schreie ich ins Dunkel hinaus.
Ich bete dafür, dass du mir antwortest.
Das du an meiner Seite bleibst und mich beschützt.
Nimm mir meine Sünde,
schneide mir die Last vom Körper
und reinige meine Sünde von Freveln.
Denn alleine werde ich es nicht schaffen,
das Chaos in mir bezwingen.
Bringe Licht in all das Dunkel,
errette meine Seele. Damit die Ordnung obsiegen kann.
Damit mein Leben nur dir gewidmet war.
Amen.
Ich ließ die Hände vom Kreuz absinken und mich auf die Bank zurückfallen. Entspannt starrte ich auf das pompöse Bauwerk aus Gold über dem Altar. Es schimmerte, als wollte es hier raus. Wäre nicht für diesen Zweck bestimmt. Plötzlich vernahm ich hinter mir Schritte. Ein älterer Herr trat aus dem linken Kirchenschiff in meine Richtung. Er trug eine Priesterrobe des Sôlerben, wirkte deutlich in die Jahre gekommen. Seine sanfte Stimme erklang in den wiederhallenden Räumlichkeiten der Kirche.
"Ein interessantes Gebet. Darf ich euch fragen woher es stammt? Die restlichen Ordensritter ziehen sonst eher martialische Bekundungen vor." Er trat an die Bank an meiner Seite heran. Die Hände legte er auf der Lehne ab. Dann lächelte er wohlig zu mir herüber. "Ich darf doch fragen, oder?"
Ich nickte langsam. "Ich schätze, dass es eine Eigenkreation ist. Da draußen habe ich viel Zeit mit meinen Gedanken. Viel Zeit, um mir einen viel zu großen Kopf zu machen. Manchmal versuche ich so ein wenig Luft zu bekommen."
Er setzte sich einige der abgescharbten Sitzplätze entfernt von mir hin. Seine lange Kutte strich er glatt, damit er die Beine überschlagen konnte. "Ihr macht alle viel durch. Es ist keine einfache Aufgabe für den Orden durch Leändrien zu ziehen. Noch viel schwerer ist es Leben zu nehmen oder darüber zu richten. Wenn ihr gestattet, höre ich euch eine Weile zu. Wir verkehren hier meist in schweigsamer Unkenntnis. Hören nur zu. Geben Ratschläge. So schweigsam sind wir dann nun also doch wieder nicht." Der Priester lächelte herzlich in meine Richtung. "Aber ein offenes Ohr können wir stets bieten."
Ich blickte wieder nach vorn. Mein Blick wanderte entlang der großen Ketten, die vor der Heiligen Schrift zu einem großen Knoten verkamen. Auch ihn hatte man einst willkürlich gesetzt, auch ihn würde man lösen können. "Euch ist es sicher nicht fremd, dass wir manchmal Regeln brechen müssen, um die Ordnung zu wahren. Um unsere Ziele zu erfüllen. Manchmal auch, um uns selbst treu zu bleiben. Was aber, wenn ich Regeln brechen will, um meine eigene Überzeugung zu hintergehen? Ich werde diese Entscheidung nie rückgängig machen können. Einmal getroffen, bleibt sie getroffen. Wir können die Zeit nicht umkehren. Wir müssen mit den Konsequenzen leben. Und selbst wenn wir Buße tun, wäscht es oftmals nicht einmal das eigene Gewissen rein."
Er nickte langsam, wandte seinen Blick ebenso nach vorn. "Niemand hat behauptet, dass unser Leben einfach wäre. Wir bekommen nur unser letztes Urteil geschenkt. Oftmals wünscht man sich aber, dass man gerade dies nicht bekommt." Ich erkannte in meinen Augenwinkeln, wie er sein Lächeln behielt. Er fuhr sich durch den kargen Bart, zog die Mundwinkel an. "Ihr seid in einer schwierigen Situation, wie ich feststelle. Die Wahl ist, ob ihr eurem Gewissen folgt und dafür die Konsequenz erntet oder ob ihr euch selbst hintergeht und eine andere Konsequenz erfahrt. Ich werde euch die Antwort nicht abnehmen können. Niemand kann das. Ihr solltet nur bedenken, dass ihr die Konsequenzen vielleicht in jedem Fall bereut. Euer Kopf wird euch für eine Entscheidung aber stets danken."
Ich musste leicht lachen. "Ihr habt mir die Wahl kein Stücken einfacher gemacht. Ich dachte eigentlich, dass ich mich längst entschieden hätte. Aber jeden Tag aufs Neue kommen mehr Zweifel auf. Es fühlt sich an, als müsste ich mich jeden Tag erneut durchringen. Manch einer hat mich als willens- oder entscheidungsstark beschrieben, aber ..". Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Ich? Entscheidungsfähig? Nur wenn es nicht um mich ging. Nur wenn ich die Entscheidungen für oder über andere treffen musste. Deyn, was für eine Scheinheiligkeit.
"Man könnte mich auch gleich Heuchlerin nennen."
Der Priester faltete die Hände, lehnte sich vorn auf die Knie und schaute gen Boden. "In der Heiligen Schrift steht nicht zuletzt auch, dass Deyn Cador es wegen unseres Heuchelns so schwer mit uns hat. Erinnert euch an die Geschichte des Waldjungen am Alagón. Deyn Cador gab ihm das, was er sich am meisten gewünscht hatte. Zuckersüße Honigbonbons, die er mit seinen Freunden teilen würde. Dafür müsste er seine Freunden nur von Deyn Cador erzählen, damit sie zum Glauben finden. Der Junge aber aß alle seine Honigbonbons auf einen Schlag selber auf. In seiner Güte gab Deyn Cador ihm weitere Hände voll, auf dass er sie dieses Mal weiterreichen würde. Erneut versprach der Junge mit seinen Freunden zu teilen. Stattdessen schlug er sich den Bauch voll und vergrub den Rest der himmlischen Gaben. Seinen Freunden sagte er, dass sie nur an Deyn Cador glauben müssen und ebenso belohnt werden."
Er holte kurz Luft, blickte wieder nach oben und fuhr fort. "Seine Freunde wünschten sich auf sein Anraten daraufhin ebenso Honigbonbons. Unter der Bedingung, dass sie mit dem Waldjungen teilen würden. Denn ohne ihn, gäbe es überhaupt keine Honigbonbons. Am nächsten Tag bekam der Waldjunge einen Anteil der Bonbons der anderen Kinder, obgleich er wieder nicht geteilt hatte. So ging es Tage und Wochen weiter, bis der Junge auf einem riesigen Berg aus Bonbons saß. Wieder bat Deyn ihn um einen Gefallen. Und zwar sollte er den Verzweifelten helfen zu Deyn zu finden. Doch in seiner Gier verweigerte der Junge sich wieder. Erst dann wurde er für seine Missetaten vom Herrn bestraft.
Oder in anderen Worten, edle Reckin des Glaubens: Solange ihr der Ordnung treu dient, lässt Deyn Cador euch gewähren. Verstoßt ihr aber gegen seine Güte und Ansicht dieser Welt, wird er euch bestrafen. Ihr seid längst zu dem Schluss gekommen, den ich hier nicht aussprechen darf. Ein Rat, den ich euch auch ans Herz lege. Ich bin mir sicher, dass ihr die richtige Entscheidung treffen werdet. Für euch. Und Deyn Cador."
Mit einem aufheiternden Lächeln ließ er mich sitzen. Die Ordnung ist nicht die Gerechtigkeit. Deyns Welt ist nicht in Gesetzbüchern kodifiziert oder festgeschrieben, nein. Ich sollte es am besten wissen. Ich war dabei. Unser Gott tötet und zerstört gnadenlos, wenn es sein muss. Wenn es für seine Zwecke ist, kann man gar gegen seine eigenen Anhänger vorgehen. Eine Heuchlerin für einen Heuchler, hm?
Ich vertrieb mir den restlichen Tag, indem ich ein wenig durch Zandig wanderte. Zur Mittagszeit kehrte ich wieder in die Herberge ein, um wieder denselben Brei mit derselben Soße zu speisen. Danach zog es mich vor die Tore, wo ich mich etwas in den Wäldern umsah. Zum Gebet am Nachmittag schlugen die Kirchglocken der Stadt in einstudiertem Takt. Ich war wieder zurück und richtete mich mitsamt einer Decke in der Nähe der südlichen Aufzüge ein. Eingemummelt hatte ich mir mein Ziel gesetzt. Ich würde den besten oder sichersten Weg auf die Mauer auskundschaften. Hierfür blieb ich stundenlag sitzen. Manchmal passierte nichts, viel öfter aber langweilte ich mich gleichsam mit den Wachsoldaten. Ich konnte ihre Gespräche aus der Ferne noch verschwommen wahrnehmen. Wusste irgendwann über ihre Vorlieben und Ränge Bescheid, konnte Einsatzorte und Interessen abschätzen. Viel wichtiger war aber, dass ich mitbekam, dass dieselben beiden Männer auch am morgigen Abend die untere Tür bewachen würden.
Obwohl ich vor mich hinzitterte, wollte ich nicht gehen. Ich musste irgendwie einen Weg ins Innere finden. Einen Weg, den ich auch Morgen nehmen könnte. Schnell und geschwind. Idealerweise leise und ohne viel Aufsehen. Wäre ich einmal auf der Mauer, könnte ich mich gut verstecken. Oben in der Feste würde mich niemand mehr nach meinem Passierschein fragen, wenn ich denn überhaupt angesprochen würde. Dafür waren die Kontrollen hier unten zu streng. Und die Sôlaner an ihrer Zahl zu viele.
Ich beobachtete, wie die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Und der Mond irgendwann hinter selbigem Aufstieg. Die beiden gelangweilten Wächter drehten ihre Runden, erst unter den letzten Sonnen-, dann unter den ersten Mondstrahlen. Ich litt gewissermaßen mit ihnen. Ohne sie käme ich aber nicht hinein. Eine Unregelmäßigkeit, eine kleine Unachtsamkeit. Es musste doch etwas geben. Aber es schien, als würden sie schlicht nach Protokoll ihren Dienst abhalten. Im Gleichschritt marschieren, vor der Türe warten und wieder marschieren. Ich war kurz davor endlich aufzubrechen und mich in mein wohlverdientes Bett zu stürzen. Irgendetwas hielt mich aber noch einige Minuten auf dem Platz. Entscheidende Minuten.
Mit einem langen Schlüssel öffnete einer der beiden die große Tür und verschwand nur einen Moment dahinter. Als er wieder vor die Tür trat, ließ er sie einen Spalt weit offenstehen, wartete aber mit seinem Kameraden davor. Er zog eine kleine Holzpfeife hervor. Zerkleinerte Tabakblätter wurden eingefüllt und die Flamme entzündet. Schon bald stieg ein leicht süßlicher Geruch von den beiden auf. Sie sahen sich ein wenig um und machten sich daran ihre nächste Runde zu drehen.
"Die Tür?" fragte der Linke. Ich hielt die Luft an. Wollte es nicht glauben. Sie würden sie schließen und ich würde nur zusehen können. Meine Chance würde einfach mit einem Klicken des Schlosses vergehen.
"Steht offen." antwortete ihm der Rechte. Mein Herz pochte auf. Erst war es die Anspannung, dann eine merkwürdige Erleichterung. Obwohl ich noch nichts geschafft hatte. Aber da war sie. Ich musste sie ergreifen, diese Möglichkeit. Selbst wenn ich dafür Tag und Nacht auf der Mauer warten müsste. Wenn nicht jetzt, wann dann? Jetzt.
Die beiden entfernten sich mit langsamen Gang. Die Pfeife reichten sie sich hin und her, jeder bekam zwei Züge. Dann wurde getauscht. Ich klammerte mich an meine graue Decke und sprang auf. So leise, wie es in einer Vollplattenrüstung eben möglich ist, schritt ich über die Straße. Geradewegs auf die Tür zu. Die Stimmen der Wachen raunten in weiter Entfernung, panisch blickte ich zur Seite. Einer von ihnen blieb gerade gestehen, sah erst nach links. Dann nach rechts. Mir rutschte das Herz in die Hose. Noch wenige Schritte. Ich setzte Fuß vor Fuß. Biss mir auf die Lippe und hoffte einfach, dass mir dieser Augenblick noch blieb. Denn wenn nicht, war ich geliefert. Ich kniff bei meinem letzten Schritt die Augen zusammen.
Da drehte er sich gerade um. Reckte den Kopf nach hinten und versuchte im Schein der lodernden Fackeln etwas zu erkennen. "Ist was?" fragte der Linke. Ich verschwand im Dunkeln des Raumes, presste meinen Körper an die Wand, um keinen Schatten zu werfen. "Nur die Tür." bekundete der Rechte. Ich hatte es geschafft. Gerade so. Mein Herz polterte, wie eine rumpelnde Karawane auf dem steinernen Wüstenboden. Deyn beschütze mich. Ich atmete tief aus.
Mein Blick wanderte das hölzerne Treppengerüst im Inneren der Mauer hinauf. Im wabernden Fackelschein wurden die dicken Stufen sichtbar. Ihr langer Schatten spiegelte sich an der Wand. Vorsichtig trat ich an das Geländer heran und blickte nach oben. Höher als jeder Turm anderer Städte ragte alleine die Mauer Zandigs in den Himmel. Von unten war fast keine Ende zu sehen. Als ob mich die kalte Dunkelheit der Sterne von oben herab anlächeln würde. Zu sich holen wollte. Ich ballte meine Hände zu Fäusten zusammen und begann die Treppen hinaufzusteigen.
Vor Anspannung nahm ich jeweils zwei Treppenstufen gleichzeitig. Mit wuchtigen Schritten machte ich Meter um Meter nach oben gut. Mehrfach wechselte ich die Seite, hielt immer wieder an. Lauschte. Blicke nach oben. Und betete dafür, dass dort oben gerade niemand wartete. Wenn ich hier keinen Fehler mache, könnte es funktionieren. Meine Schneidezähne bohrten sich mit steigender Anspannung weiter, tiefer in meine Unterlippe. Ich konnte mich nicht zurückhalten, atmete schwer. Dann endlich nahm ich die letzten beiden Treppenstufen. Ich blickte von oben über Zandig. Sah die weiten Fichtenwälder auf der einen Seite vor mir liegen. Auf der anderen lag das nächtliche Zandig im Schatten der Londanor Tempelfeste.
Der Luftzug hoch oben auf dem Gemäuer öffnete mir wieder die Augen. Ich fühlte mich ein wenig wacher, wusste aber, dass ich mir besser ein geeignetes Versteck suchen musste. In der Ferne kamen zwei Fackeln über die Mauer in meine Richtung marschiert. Hinter mir lagen die beiden großen Aufzüge. Mit ihren Holzkäfigen, Ketten und Zahnrädern wirkten sie aus der Nähe noch viel beeindruckender. Ich verstand nicht, wie sie überhaupt funktionieren sollten, aber sie würden mich nach oben bringen. Vor ihnen waren allerlei Kisten und Fässer aufeinander gestapelt worden. Es nützte wirklich nichts. Ich rüttelte an den großen Kisten. Suchte mir die Schwerste raus und öffnete ihren Deckel – Steinquader. Kein gutes Versteck. Ich zog an einer zweiten Kiste und fand wieder nur Steine. Bis zum Rand nach oben gestapelt glänzten die grauen Ziegel im Mondlicht.
Ein weiterer Deckel wurde an die Seite geschoben. Einige braungraue Säcke lagerten auf dem Boden der sonst leeren Kiste. Ich schüttelte den Kopf, fasste dann aber meinen Entschluss. Es gab kein Zurück mehr. Rein da. Mit einem Schwung landete ich auf der festen Masse, die sich schon bald als Mehl herausstellte. Meine Decke legte ich unter mir aus, dann schloss ich den Deckel. Nur ein kleines Loch zum Atmen ließ ich offen. Es hieß alles oder nichts.
Ich schloss meine Augen. Denn in dieser Nacht und am folgenden Tag würde ich nur Warten können. Ich hatte noch meine kleine Feldflasche und die Brotlaiber von der Essensausgabe bei mir. Verhungern würde ich nicht. Und ein wenig Schlaf würde ich auch brauchen. Trotz meiner ungemütlichen Lage in einer Holzkiste auf mehreren Mehlsäcken hoch oben auf dem Wall Zandigs überstand ich meine recht kurze Nacht einigermaßen gut. Ich war selbst ein wenig erstaunt, als ich nach einer ereignislosen Nacht von den ersten Sonnenstrahlen geweckt wurde.
Durch den kleinen Spalt im Deckel der Kiste sowie die hauchfeinen Lücken der Holzbretter kitzelte mich das Licht. Ich rieb mir die Augen, kam langsam wieder zu mir. Angespannt drückte ich meine Nase an das Holz, um vielleicht doch einen kleinen Blick nach draußen zu erhaschen. Außer verschwommenen Schatten erkannte ich aber nichts. Meine Warterei würde sich noch ein wenig ziehen. Eine entsprechende Geduld musste ich hier an den Tag legen, um dafür belohnt zu werden. In der Zwischenzeit konnte ich mir nur einige wenige Schluck Wasser und ein paar Happen Brot einverleiben. Eine Notdurft konnte ich mir nicht erlauben, es wäre viel zu auffällig und gefährlich. Ich musste an mir halten.
Ich konnte die Zeit nicht einschätzen, hatte keinen blassen Schimmer über Sonnenstand oder Uhrzeit. Ich wusste nicht einmal wie lange ich nun in dieser Kiste herumlag. Einzig die ersten Stimmen weckten gleichzeitig eine tiefsitzende Hoffnung und ureigene Angst in mir. Würden sie mich finden? Zunächst hörte ich nur Gelächter und einfache Gespräche. Es waren Beschwerden über das Schleppen der Kisten und die aufwändige Wartung der Aufzugsgetriebe. Sie sprachen darüber, dass noch ein Mann fehlte und man ohne ihn nicht anfangen wolle. Kurz darauf schienen sie endlich vollzählig zu sein. Es begann neben mir zu rappeln. Das angestrengte Stöhnen mehrerer Männer, die eine vollbeladene Kiste schoben. Erst über den aalglatten Steinboden, dann eine Rampe hinauf in den Korb des Aufzugs.
Einem mühseligen Schnaufen folgte knarzendes Holz. Als die Kiste veräumt war, fluchten sie über den Inhalt. Und machten sich direkt danach an die nächste Kiste. Immer mehr Lichtstrahlen fielen in mein hölzernes Versteck. Die Kisten um mich herum verschwanden langsam auf dem Aufzug. "Hoch damit." bekundete einer der Männer. Schon bald begannen Zahnräder ineinander zu knacken. Das laute Gehämmer von aufeinanderschlagendem Eisen erfüllte die Luft. Wieder knarzte Holz.
Es ruckelte plötzlich. Mehrere Männer packten meine Kiste an und schoben sie. Ich hielt die Luft an, um keine unnötigen Geräusche zu verursachen. Kraftvoll wurde ich Stück für Stück weiterbefördert. Mit einem lauten Krachen schlugen wir an die Rampe. Panik stieg in mir auf. Ich weitete meine Augen, mein Herz pochte bis in den Hals hinauf. Mein Kistendeckel war ein gutes Stück nach vorn verrutscht, als die Kiste auf die Rampe traf. Über mir erkannte ich die hochstehende Sonne. Das war es gewesen. Sie würden mich entdecken. Ich würde auffliegen. Ich dachte an so vieles. Aber nicht daran, dass sie den Kistendeckel genervt wieder gerade rückten. Ohne auch nur einen einzigen Blick ins Innere zu riskieren. Deyn, du bist wirklich auf meiner Seite. Es kann nicht anders sein.
In den kommenden Minuten drangen immer weniger Lichtspalten in mein hölzernes Gefährt. Weitere Kisten wurden an mein Versteck gestellt und schon bald hörte ich erneut die erfüllenden Laute. Zahnräder knackten ineinander. Aufeinanderschlagende Eisen erklungen. Holz ächzte unter der Last. Nur alles viel, viel lauter. Der zweite Aufzug setzte sich in Bewegung, mit dem Ziel Londanor Tempelfeste. Und ich saß mittendrin.
Das Zurren von Seilen und das Rattern von Zahnrädern erfüllten die Fahrt. Die Luft wurde immer kälter, je höher wir kamen. Ich hielt es nicht mehr aus und schob den Deckel vorsichtig beiseite. Zurückhaltend reckte ich meinen Kopf aus der Kiste. Meinen Blick wandte ich einmal im Aufzug herum. Ich stellte schnell fest, dass ich die einzige Person auf diesem Lastenkahn in die Höhe gewesen war. Erleichtert streckte ich mich, stellte mich auf die Mehlsäcke und genoss den Ausblick aus der Höhe.
Vor mir erhoben sich die ewigen Wälder Kurmarks. Gigantische Wälder deren Durchquerung mehrere Tage dauern musste. In der Ferne wurden die Küsten des Zandiger Meeresfingers sichtbar, dessen Hafen einziger Anlaufpunkt für Händler in diesem fernen Norden war. Am Boden wurden die Häuser Zandigs bald zu kleinen Varianten ihrer ursprünglichen Pracht, wenn man sie denn so beschreiben mag. Die Menschen wurden zu Marionetten und kurz darauf zu kleinen Punkten. Ein eisiger Wind zog mir um den Körper. Er blies meine Haare zur Seite und erinnerte mich daran, dass wir bald oben sein musste. Geschwind stieg ich wieder in meine Kiste zurück, zog den Deckel an seine ursprüngliche Position und wartete auf meine Ankunft.
Mit einem gewaltig grollenden Rumpeln hakte sich der Aufzug in einer Art Halteplattform ein. Die Ketten ertönten nicht mehr, stattdessen beherrschte der pfeifende Zug des Windes diese Höhen. Ich vernahm ein Seufzen außerhalb des Aufzugs, kann mich aber auch getäuscht haben. Bald schon ging das Ziehen und Knarzen wieder los. Kiste um Kiste verließ den Aufzug. Stets spürte ich einen großen zeitlichen Abstand zwischen dem Entladen der einzelnen Waren. Als eine weitere Kiste von meiner Seite wich, nutzte ich den Moment.
Ein letztes Mal schob ich den Deckel beiseite und überprüfte meine Umgebung. Hinter mir lag der Abgrund, vor mir ein in Stein gehauener Gang mit mehreren Abzweigungen. Von Sôlanern war keine Spur. Alles oder Nichts.
Ich sprang mit einem lauten Klimpern aus der Kiste, zog den Deckel wieder gerade und verließ eilig die Plattform. Zu meiner Linken standen einige Holzbretter entlang eines halboffenen Ganges. Eine wunderschöne Balustrade bot einen einmaligen Ausblick in die Ferne der Kurmark. Zur Rechten waren gerade mehrere Ordensmitglieder mit dem Schieben der Kisten beschäftigt. Die anderen Gänge wirkten verlassen grau. Ich entschied mich in Richtung der Balustrade zu schreiten. Sie würde mir eine Ausrede bieten können, würde ich jetzt entdeckt werden.
Festen Schrittes stellte ich mich an den steinernen Abgrund. Nur geschützt durch eine hüfthohe Mauer konnte ich direkt auf die Stadt schauen. Alles wirkte klein. Nein, eher winzig. Fast schon, als würde Deyn Cador höchstselbst auf uns Menschen niederschauen. Mir wurde schwindelig. Ich stolperte zwei, drei Schritte zurück. Es dauerte einen Augenblick bis ich wieder bei mir war. Ich fasste mir an den Kopf, strich meine Haare zur Seite und schob die große Holztür an der Seite auf. Alles oder nichts.
Eine Hand hielt ich ständig an der inneren Mauer. Ich bewegte mich halb geduckt fort, schaute erst zwei Mal um jede Ecke. Ich wollte niemandem begegnen. Nur weiter hinein. Weg von den Aufzügen. Und am besten mit niemandem sprechen. Gang um Gang lief ich. In einem Labyrinth vom dem ich weder die Ein- noch die Ausgänge kannte. Ich hatte eine ungefähre Ahnung zu wem ich wollte. Aber keinen blassen Schimmer, wie ich dort hingelangen geschweige denn rechtmäßig hineinkommen sollte. Ich hatte nur eine Möglichkeit. Eine. Allerdings fühlte sich bereits der Weg dorthin wie eine Odyssee an. Letztlich war aber jeder Schritt seitdem ich aus Neu Corethon abgereist bin, ein Teil einer viel größeren Prüfung. Das hier würde hoffentlich nicht der letzte Abschnitt werden.
Auf den massiven Stein folgten rote Teppiche und später weiße Banner des Sôlerben. Auf einfache Fackelhalterungen folgten goldene Lampenhalter. Auf große Holztüren folgten massive Steinbögen deren Türgriffe aus vergoldetem Metall gefertigt waren. Deyn im Himmel – das war die Londanor Tempelfeste. Ich verlief mich völlig. Immer wieder kehrte ich in dieselben Räume zurück, nahm dieselben Gänge und fand einfach nichts. Es war eine Suche, die kein Ende nahm. Ich verlor jegliches Gefühl über Raum und Zeit. Meine Orientierung war am Ende.
Ich blieb stehen. Eine Weggabelung. Über mir hing ein Kronleuchter von unermesslichem Wert. Er muss soviel gekostet haben, wie unsere ganze Priorei auf Neu Corethon. Er funkelte in Formen und Farben, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. In alle Richtungen wiesen die Banner des Sôlerben. Und ich konnte nicht unterscheiden, ob ich schon einmal hier gewesen war oder ob ich diese Gänge noch nie zuvor entlanggelaufen war.
Da klimperte es hinter mir. Ich zuckte regelrecht zusammen. Mit einer Hand an der Wand und geducktem Körperbau stand ich nah einer Abzweigung. In meinem Rücken ertönten Schritte. Ich wollte noch rasch um die Ecke verschwinden, aber sie mussten mich längst gesehen haben. Ab diesem Punkt gab es wirklich kein Zurück mehr. Ich drehte mich langsam um, versuchte Fassung zu bewahren und schaute direkt in das Gesicht eines jungen Ordensbruders.
Seine Haut sah so weich aus, wie die eines Kindes. Kein einziges Barthaar zeichnete sein Gesicht. Kurzgeschorenes, blondes Haar bedeckte seinen umherwippenden Kopf. "Oh. Deyn begrüße euch. Warum steht ihr denn so verkrümmt hier im Gang, Schwester? Ist euch unwohl?"
Ich schluckte. Ich spürte, wie sich Schweißperlen auf meiner Stirn bildeten. Seine Augen musterten mich langsam. Meine Unsicherheit schien ihm nicht zu entgehen, bevor ich überhaupt auch nur ein Wort gesprochen hatte. "Ich.. äh, ja. Die Höhe. Die Höhe." Ich bangte.
Er lächelte auf. Blickte nachsehend und mitfühlend drein. "Ich verstehe, mir ging es auch lang so. Kein Grund sich deswegen so zu bücken. Ihr werdet euch daran gewöhnen, keine Sorge. Kann ich euch vielleicht helfen? Ich kenne mich recht gut aus, nach all den Jahren hier oben."
Ich strich mir die lange Haarsträhne hinter das Ohr. Versuchte mir ein Lächeln aufzuzwingen. "Ich glaube, dass ich mich ein wenig verlaufen habe. Könntet ihr mir den Weg zur Kathedrale zeigen?" Ich legte meinen Kopf noch etwas schief. Blinzelte ihn verstohlen an. Holte all das an weiblichem Charme aus mir raus, was ich besaß. Es war wirklich nicht viel. Aber es schien zu wirken.
Nickend ging er voran. "Ihr wart schon fast da, nur noch ein Gänge weiter. Kommt mit."
Und so führte er mich um ein paar weitere Ecken, schob zwei Türen auf und schon standen wir in ihr. Der Kathedrale von Londanor. Mit einem Winken ließ er mich wieder allein. Ohne weitere Fragen. Ich war da. Ich war hier. Londanor. Die Hallen des gleißenden Lichts auf Athalon. So nannte man diesen Ort auch. Er hatte sich diese Bezeichnung mehr als verdient.
In den Seitenwänden dieser anmutigen Kathedrale prangten fialgekrönte Pfeiler mit exorbitant hohen Fenstern. Das Sonnenlicht spiegelte sich in der gläsernen Front wieder, malte wunderschöne Bilder in den Innenraum. Ein herrliches Farbmuster präsentierte sich vor meinen Augen. Egal, wo ich hinschaute. Ich bekam den Mund vor lauter Staunen nicht mehr zu.
In den Wänden befanden sich tausende und abertausende feingemeißelte Skulpturen. Jeden Heiligen, jedes Artefakt und jeden Helden des Deynismus fand man hier gleich mehrfach. In einer Detailliertheit, wie sie nur Deyn selbst an den Tag legen konnte, waren hier die Bildnisse des Glaubens in Stein manifestiert worden. Hinter mir lagen die drei großen Türportale mit ihren Bronzetüren. In jeder von ihnen war die verbildlichte Symbolisierung der Zwölf Heiligen mit dem geschwungenen Phönix im Zentrum eingearbeitet. Ich kam aus meiner Begeisterung nicht mehr heraus. Mehrfach drehte ich mich; genoss diese Herrlichkeit. Das hier muss jeder Mensch einmal gesehen haben. Es war so unglaublich und fantastisch, dass all meine Sorgen in diesem Augenblick verfolgen. Als hätte es sie für diesen einen Moment nie gegeben.
Ich ließ mich vor dem großen Altarbau mit seinen Goldsakramenten, heroischen Darstellungen und meterhohen Kerzen nieder. Ich fiel auf beide Knie und legte die Hände um mein Kreuz. Ich wollte in diesem Moment Deyn Cador nahe sein. Ich musste ihm meinen Dank aussprechen. Immer nur flehe ich um Hilfe, Erlösung und Beistand. Nach diesem Erlebnis musste ich meine Treue bekunden. Ich konnte schlichtweg nicht anders.
Herr,
mein großer Herr,
mein Herr und Beschützer,
Deyn Cador,
ich danke dir für deinen Beistand und deine Treue.
Messe uns nicht an unseren schlechten Taten,
sondern blicke auf das Licht, das wir ausstrahlen.
Vergib uns unsere Sünden, wie auch unsere Versuchungen.
Bleib an unserer Seite, selbst wenn wir nicht bestehen.
Denn wir sind dir so dankbar für alles,
dass du uns gegeben hast.
Dank deiner väterlichen Fürsorge können wir das Licht der Welt erblicken.
Dank deiner ewigen Güte wachsen wir in das Leben hinein.
Dank deiner schützenden Hand erfahren wir Liebe und Zuneigung im Leben.
Dank deiner Führung bleiben wir der Ordnung erhalten.
Dank deines Beistands kehren wir irgendwann in dein Reich ein.
Wir sind dir so dankbar für deine Gaben.
Wir sind dir so dankbar für uns.
Bitte lass uns noch ein wenig länger bestehen.
Bitte zeige uns noch ein wenig mehr die Schönheit dieser Welt.
Lass uns nicht alleine bleiben,
denn nur gemeinsam sind wir eins.
Ich danke dir für deinen Beistand und deine Treue.
Messe mich nicht an meinen schlechten Taten,
sondern blicke auf das Licht, das ich ausstrahle.
Vergib mir meine Sünden, wie auch meine Versuchungen.
Denn dafür kämpfe ich weiter an deiner Seite.
Für dich.
Für diese Welt.
Für die Ordnung.
Allewig in treuer Furcht.
Amen.
Erleichtert erhob ich mich. Noch ein Weilchen ließ ich die Tempelfeste auf mich wirken. Nur noch ein wenig mehr wollte ich genießen, was man hier geschaffen hatte. Bevor ich Sir Walter Ripel höchstpersönlich aufsuchen würde. Möge Sôlerben mit ihm sein.
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"Nicer Cock, Schussi" - Christian, 06.12.2019
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XXII – Alles oder Nichts
Die sagenumwobenen Hallen Londanors schienen ihre Wirkung hinterlassen zu haben. Ich fühlte mich auf einmal noch ehrfürchtiger, grübelte noch tiefer über mein Handeln. Immer wieder kam ich zum selben Schluss. Immer wieder dachte ich, dass es falsch war. Aber immer wieder befand ich es am Ende für richtig. Es waren dieselben Zweifel, die ich schon am Aschsee und bei meiner Fahrt hinauf auf diesen heiligen Berg hatte. Sie würden mich ablenken können, aber niemals aufhalten. Fast, als würde mich eine unsichtbare Hand in meinem Rücken nach vorn schubsen, wenn ich anhielt. Eine Hand, die mich beschützte, mich aber auch weiter vorwärts drängt. Der Blick nach hinten war grotesk und unbefriedigend. Deswegen schauen wir alle immer nur nach vorn. Marschieren ohne Rücksicht auf die Vergangenheit weiter, bis sie uns endlich einholt.
Ich blinzelte ein letztes Mal über das anmutige Bildnis der Kathedrale. Dann erhob ich mich. Am rechten Kirchenschiff verließ ich die Haupthalle, kam in einen Seitengang und folgte diesem in Richtung Osten. Immer tiefer drang ich in den Berg ein, der längst zu einem Bauwerk der Menschheit geworden war. In mühevoller Kleinarbeit wurden vor vielen Jahrhunderte Steine und Felsen vorsichtig abgetragen. Es wurden Gänge gegraben, die heute als unverwüstlich gelten. Ja, nahezu als gottgegeben. Sie wurden mit feinen Stoffen ausgekleidet, mit edlen Metallen verziert und durch Sôlerbens irdische Diener geschützt. Selbst als ich stumm an mehreren Ordensbrüdern vorbeischritt, wurde mir jedes Mal flau im Magen. Ohne das mir auch nur ein Blick zugeworfen wurde. Ohne das auch nur ein Wort gesagt wurde. Es fühlte sich so falsch an. Ich betrog schließlich meinesgleichen.
Würde auch nur einer von ihnen zu kritisch hinterfragen, was ich hier suchte, wäre das das Aus für mich. Ich konnte nur innerlich hoffen, dass man hier von einer grundsätzlichen Rechtmäßigkeit ausging. Die Anwesenheit anderer so wichtig wäre, dass man sie nicht in Frage stellen würde. Werde ich mit meiner leisen Hoffnung recht behalten? Ich konnte es nicht voraussehen, vielleicht war das auch besser so.
Kesslers Kompass zeigte mir nur die ungefähre Richtung an. Das Wirrwarr der Gänge musste ich selbst bezwingen. Ich durchschritt Gänge und Räume, sogar einen kleinen Innenhof hatte man in den Fels geschlagen. Ich fand einen Speiseraum, in dem reihenweise Tische aus edlen Nadelhölzern standen. Aus der angrenzenden Küche strömte der Duft von geschmortem Wildbret zu gedünsteten Kartoffeln. Die beiden Köche schienen keine Ordensritter zu sein, sondern eigens für die Verpflegung der hohen Sôlaner angeheuert worden zu sein. Sie schwangen ihre Kochlöffel so kunstvoll, wie andere es mit Schwertern tun. Die Tische waren zu dieser Uhrzeit nur wenig gefüllt. Dennoch erkannte ich hier hochrangige Mitglieder, die anderswo selten gemeinsam so gesammelt speisen. Dort ein Großkomtur, hier ein Vikar. Am Ende des Raumes meinte ich sogar einen Abtpräses zu erkennen.
Ich schluckte tief. Musternd blickte ich durch den Raum, wurde aber nicht einmal beachtet. Zu sehr waren sie alle in ihre Gespräche, Unterredungen und Diskussionen vertieft. Ich machte mir einen zu großen Kopf, aber jede Unachtsamkeit würde sich rächen. Schon oft bin ich auf die Nase gefallen. Immer öfter, weil ich meine Aufmerksamkeit anderen Dingen geschenkt habe, als meinem Ziel. Ich wollte mich nicht zu tief hineinsteigern, aber die Gedankenspiele zu unterbrechen ist eine Kunst für sich. Eine, die ich mitnichten beherrsche. Das sollte der Finder dieses Buches mittlerweile festgestellt haben, nicht? Kopfschüttelnd wandte ich mich von der großen Kammer ab. Zwei weitere Gänge führten mich auf einen großen Balkon.
Dieser Balkon war aber keineswegs das, wofür ich ihn hielt. Vielmehr war es ein von allen Seiten in hohe Felswände gehüllter Innenhof. Einzig über mir erhob sich der strahlend blaue Himmel. Ein laues Lüftchen zog von oben die Steine herab und wirbelte einige Blätter der hier stehenden Bäume auf. Hatte man wirklich eigens Erde und Bäume hier hinauf geschafft?
Bänke luden zum Verweilen ein, kleine Kohlenpfannen schienen auch im Winter für ausreichend Wärme zu sorgen. Es war äußerst surreal. Dort unten hungerten die Menschen. Und hier oben? Schmaus, Protz und unablässige Dekadenz. Ich hielt die Bonningtons schon mehrfach für abgehoben, aber hier in den Höhen des Ostwalls wurde mir so einiges klar. Sie konnten diese Tore schlichtweg nicht für alle öffnen. Diese Tempelfeste war ausschließlich für einen ausgewählten Kreis von Personen bestimmt. Und daran sollte sich ja nichts ändern. Was wäre wenn diese Doppelmoral, die alle sonst nur dem Adel unterstellten, auch im Orden herauskäme? Und dann ausgerechnet im Sôlaner Orden? Sicherlich würden Wort und Tat Deyn Cadors leiden. Die Wahrheit war bitter. Schmerzhaft bitter. So würde sie sich nicht das letzte Mal an diesem Tag anfühlen.
Hinter dem Innenhof stieg ich eine Wendeltreppe hinauf. Als ich an der Hälfte der massiven Stufen angekommen war, kamen mir gleich zwei Priesterinnen entgegen. Ich preschte mich an die Wand, damit sie ungestört an mir vorbeigehen konnten. Mein Herz klopfte. Ich atmete schwerer, setzte ein freundliches Lächeln auf. Freundlich grüßend stiegen sie an mir vorbei. Ohne auch nur mit der Augenbraue zu zucken. Ohne ein Wort des Misstrauens zu äußern. Ich machte mir wirklich zu viele Gedanken, hm?
Im nächsten Stockwerk angekommen, stand ich vor einer großen hölzernen Tür. Sie war mit mehreren goldgestreiften Ringen markiert. Sogar die beiden Türgriffe waren aus einem wertvollen Metall hergestellt worden. Ich holte tief Luft, drückte die Klinke hinunter und sah in die dahinterliegenden Hallen. Halboffene Schlafquartiere befanden sich zu meiner linken und rechten Seite. Die Türen standen meist offen, kleine gläserne Fenster ermöglichten einen Ausblick auf die endlosen Weiten der Kurmark. An guten Tagen könnte man von hier aus bestimmt bis Haldar oder Tasperin sehen. Ein pfeifender Wind zog durch das Stockwerk, in denen mehrere Hausmädchen gerade mit dem Herrichten von Betten und Tischen beschäftigt waren.
Sie begrüßten mich, indem sie ihre Kleidchen anhoben und einen Knicks machten. Danach griffen sie sofort die nächsten Laken und klopften sie mit einem schwungvollen Wurf aus. Ich sah mich in dem kunstvoll dekorierten Räumen ein wenig um. Federbetten auf teuren Gestellen waren neben aufwändig geschnitzten Kommoden und lederbezogenen Sesseln aufgestellt worden. An der Wand hingen Gemälde. Mal von der Landschaft der Kurmark, mal von den brennenden Hinterlassenschaften der Inquisition. Im Gang begann dahingegen die Ahnengalerie der Hochmeister der Sôlaner. Kleine Messingplättchen gaben die Jahre ihres Wirkens, ihre Namen und ihren Todesort wieder.
Mit der Hand fuhr ich über die Plakette des ersten Sôlaner Hochmeisters, Sir Egmont Robnik. Mit einem beeindruckenden Haupthaar beseelt stand der langhaarige Schönling vor einem flammenden Sonnenuntergang. In der Hand hielt er einen riesigen Schreitkolben, mit dem er wahrscheinlich mit Leichtigkeit gleich zwei Männer gleichzeitig zerlegen konnte. Die Hochmeister waren wohl seit unseren Anfängen wahre Monster von Männern. Sie mussten es auch sein, um diesen Orden unter Kontrolle zu halten. Nur strahlende Figuren von Rang und Namen hatten überhaupt eine Chance auf eine höhere Position, geschweige denn auf den Ordensmeister.
Ich biss meine Kiefer aufeinander. Mein Blick wanderte die lange Reihe von Bildern und Namen entlang. Dann entschied ich mich weiterzugehen. Ich folgte dem Gang, öffnete die nächste Tür und kam auf einen großen Flur. Dutzende Türen gingen im Schein der Fackeln in alle möglichen Richtungen. Ich fragte mich wirklich, wie sich hier alle ohne Hinweise oder Karte zurechtfinden konnten. Natürlich erschwerte dies auch potenziellen Eindringlingen, wie mir, die Wegfindung. Aber gerade Gäste würden sich ständig verlaufen. Mir blieb nichts anderes übrig, als jede einzelne Tür einmal zu öffnen. Ich musste schließlich herausfinden, was sich dahinter verbarg. Nur so kam ich voran.
Wenigstens den Anstand des Klopfens wollte ich mir hier bewahren. Mit einem lauten Poltern schlug ich gegen jede Tür, wartete dann einen Augenblick auf eine Antwort. Die ersten drei Türen blieben nicht nur still, sie waren auch noch verschlossen. Auch von der anschließenden vierten Tür konnte ich keinen Laut vernehmen. Dafür ließ sich immerhin öffnen. Hinter ihr fand ich einen Raum mit mehreren Schreibtischen und einer großen Druckmaschine. Eimerweise wurden Farbe und Papiere in der Ecke gestapelt. Ich blätterte ein wenig durch die Stapel der Druckerzeugnisse, in denen ich vor allem Pamphlete und Abschriften von Messen entdeckte. Auf der Druckerplatte selbst war noch die letzte gedruckte Seite abzulesen. Die Buchstaben waren seither offenbar nicht bewegt worden.
Bürger Zandigs,
Bürger der Kurmark,
unser ehrenwerter Hochmeister Sir Ripel lässt verkünden:
Ein jeder, der das Leid durch die wilden Haldaren nicht länger ertragen kann, möge sich beim Sôlaner Orden melden. Kämpft gemeinsam mit euren Brüdern und Schwestern gegen das Heidentum. Lasst uns die Flamme Sôlerbens gegen die Ketzerei richten und sie in glühender Wut endgültig ausrotten.
Nur mit eurem Beistand werden Familien wieder in Frieden leben können, Kinder wieder glücklich aufwachsen und die Felder frei von Plünderungen bleiben. Bleiben wir jedoch untätig werden diese Mörder und Vergewaltiger wieder über die Ländereien Deyn Cadors herfallen. Ihr könnt dies weder wollen, noch zulassen.
Meldet euch noch heute, damit wir ein besseres Morgen durch die Auslöschung der Heiden erreichen!
So wirbt der Orden nun also seine Nachfolger an? Junge Burschen voller Elan kann man sicher mit solchen Verlockungen anwerben. Sie werden jedoch schnell merken, dass der Kampf für die Sôlaner ein anderer ist. Jahrelange Ausbildungen, großer Verzicht und ewige Gebete. Der Dank dafür ist, dass die Schlechten in die erste Reihe des Kampfes gestellt werden. Viele von ihnen werden fallen, um die Wilden auszulöschen. Wir werden siegreich zurückkehren, aber was ist der Preis dafür? Ein Leben? Tausende Leben? Oder gar noch viel mehr.
Ich ließ die Tür wieder ins Schloss fallen, setzte meine Suche fort. Hinter den nächsten Türen lagen nur wieder Schlafgemächer. Eines schien für hochrangige Mitglieder gemacht zu sein. Über dem großen Doppelbett waren mehrere Stoffbahnen zu einem wohligen Nachthimmel geformt worden. Ein großes Bärenfell versprach warme Füße und von der Flauschigkeit der Decken will ich hier gar nicht anfangen. Daneben lagen die Zimmer für die Begleiter, eines mit drei und ein anderes mit vier Betten. Was man wohl getan haben muss, um hier einquartiert zu werden?
Ich durchsuchte noch ein paar weitere Räume, fand aber nichts Nützliches. Aus einer Tür ertönte nach meinem Klopfen ein mürrischer Ruf. Mit einem leisen "Verzeihung" ließ ich von diesem Raum ab und ging weiter. Zu meiner Überraschung kam niemand nachsehen, lediglich ein weiteres Grölen ertönte hinter der hölzernen Tür. Nach anderthalb Dutzend Türen kam ich in einer Wachstube an. In einem Waffenständer hingen mehrere Armbrüste und Streitkolben. Auf dem Tisch lagen allerlei Papiere, in der Ecke stand gar ein Bierfass mit mehreren halbgefüllten Krügen. Ich beugte mich über die Dokumente, schob sie erst zur Seite und ordnete sie dann neu. Ganz oben lag ein Druck eben der Meldung, die ich zuvor an der Druckmaschine gefunden hatte. Darunter gab es einige Anweisungen über Lagerbestände und Wachgänge. Ganz unten jedoch fand ich etwas von Bedeutung. Einen Plan der Räumlichkeiten der Londanor Tempelfeste. "Als besonderes Schutzobjekt stets am Manne aufzubewahren" stand in fetten Lettern geschrieben. So viel dazu.
Ich schlug die mittlerweile vergilte Karte vor mir auf. Sie beinhaltete nur wenige Worte, die in krakeliger Handschrift auf dem handgezeichneten Plan verteilt waren. Die Kathedrale war am unteren Ende und deutlich markiert. Darüber befanden sich die Zeichnungen dreier Stockwerke, die jeweils mit "I.", "II." und "III." versehen waren. Während ich im ersten Stockwerk den Speisesaal fand, erkannte ich im zweiten Stockwerk sogleich den Gang mit seinen endlosen Türen. Es war damit ein Leichtes den Raum zu finden, in dem ich mich gerade befand.
Neben dem dritten Stockwerk war die Anmerkung "Betreten nur, wenn nötig" geschrieben worden. Von dort aus führte eine Treppe in weitere, deutlich kleinere Räumlichkeiten. Hier waren nicht einmal Zahlen oder Symbole angebracht worden, sie wurden lediglich mit einem roten Stift sauber durchgestrichen. Manchmal ist das Schweigen eine Antwort für sich. So auch hier. Dieser rote Strich markierte die vielleicht wichtigsten Räume der gesamten Tempelfeste.
Dank meiner Karte fand ich relativ schnell die Treppe hinauf in das dritte Stockwerk. Ich folgte der steilen Wendeltreppe hinauf und sah mich am Treppenaufgang um. Ich musste quer durch zwei größere Hallen, um an der Seite in die abgelegenen, letzten Ecken dieser Tempelfeste vorzudringen. Ich holte noch einmal tief Luft. Alles oder nichts.
Bereits in der ersten säulengetragenen Halle standen fünf Ordensmitglieder, die sich hitzig über ein Thema unterhielten. Manch einer würde sagen, dass sie debattierten. Ich würde aber behaupten, dass sie sich stritten. Feurige Argumente wurden ausgetauscht, die Hitzköpfe ignorierten alles um sich herum. Hin und wieder konnte ich heilfroh darüber sein, dass wir Sôlaner oftmals solche Streithähne sind. Eilig zog ich an ihnen vorbei und stand in der zweiten Halle.
An den Säulen waren kleine Bildnisse der Heiligen angebracht. In den Wänden erkannte ich steinerne Mahnmale vergangener Zeiten. Waffen, Burgen oder auch Büsten standen hier als Relikte ihrer selbst. Wer auch immer sie angefertigt hatte, musste entweder über großes handwerkliches Geschick verfügt haben oder gar vor dem Original gestanden haben. Wer aber konnte wissen, wie genau Sturmklinge auszusehen hatte? Oder auch das Zepter der Bereinigung? Jetzt, wo sie hier als steinernes Abbild vor mir lagen, schien ihre Darstellung dahingegen äußerst klar zu sein. Als gäbe es keine andere Wahl, dass es diese legendäre Artefakte sind. Oder bildete ich mir das alles nur ein?
Bevor ich mich wagte die letzte Tür in das oberste Stockwerk zu öffnen, nahm ich noch einen letzten kräftigen Schluck Wasser und einen Bissen Brot. Ich hatte keine Lust darauf wegen eines grummelnden Magens entdeckt zu werden oder in eine missliche Lage zu geraten. Dafür war ich zu alt, zu erfahren. Mir liegt das höhnische Lachen meiner Ausbilder immer noch in den Ohren, als sie mich einmal wegen solch einer Dummheit gefunden hatten. Hier durfte ich keine Fehler machen, denn das bedeutete das sichere Ende.
Ich atmete tief durch, umgriff den Türknauf und zog das hölzerne Wandstück auf. Vor mir lag eine letzte Treppe, die geradewegs nach oben führte. Ich erkannte kaum ihr Ende, bestimmt fünfzehn Meter weit führte mich der Aufstieg in die Höhe. Das obere Ende des steinernen Ganges wurde durch ein gegenwärtig hochgelassenes Metallgatter abgesichert. War hier etwa noch jemand? Selbst wenn, dürfte ich mich dadurch irritieren lassen? Abhalten lassen? Niemals.
Vorsichtig klopfte ich an die erste der sieben Türen hinter dem Gatter. Sie lag direkt zu meiner Linken. Stille. Ich trat ein und entdeckte einen großen Besprechungsraum. Um einen wuchtigen Tisch aus Nussbaum waren ein Dutzend hochtragende Stühle platziert. Ihr weißer Samt glänzte ein wenig im hereinfallenden Sonnenlicht der gegenüber der Tür liegenden Fenster. Auf dem Tisch befand sich eine große Karte von Leändrien. Die Kurmark war bunt hervorgehoben worden, im scheinenden Weißgelb der glühenden Sonne Sôlerbens. Überall waren kleine Figuren sorgsam platziert worden. Türme stellten Burgen dar, Reiter eine kleine Einheit und mehrere Fußsoldaten eine große Truppe. Zandig war durch einen goldenen Stern markiert worden, die Grenze zu den Haldaren durch aneinandergereihte Metallplatten. Auf Seiten der Wilden wurden Bildnisse von Hunden oder Wölfen für die einzelnen Stämme und Klans verwendet.
Ich stellte mich für einen Augenblick an das Fenster. Durch die verglaste Front konnte ich die hohen Gipfel des Zandiger Ostwalls erkennen. Schnee fiel hier oben noch immer, selbst als in der Stadt bereits regnete. Die weißen Spitzen waren ein eindrucksvolles Symbol der wahren Fähigkeiten der Sôlaner. Man unterschätzt besser nicht den Fanatismus des Glaubens, schätze ich. Durch ihn werden wir angetrieben, um selbst die größten Schrecken dieser Welt bezwingen zu können. Durch ihn können wir sogar uns selbst verraten.
Wachsamen Auges öffnete ich die Tür zum zweiten Raum auf der linken Seite. Mein vorheriges Klopfen war ignoriert worden. Ich hielt die Luft an, als ich die Tür erst einen Spalt weit, dann vollständig, öffnete. Im Inneren befand sich ein großer Schreibtisch mit drei davorstehenden Stühlen. An der Wand hinter dem Schreibtisch hingen drei Banner des Sôlerben sowie zwei gekreuzte Schwerter. Ich ging eilig um den Tisch herum, betrachtete die darauf liegenden Pistolen. Solche Waffen benutzen wir eigentlich nicht im Orden, außer ..
Ja, ohne Zweifel. Dies war ein Zimmer von Sir Saltzbrandt. Wenn nicht sogar das Privatgemach des Sir Victor Saltzbrandt. Er war bekannt dafür niemals unvorbereitet zu sein. Das Auge und Ohr Zandigs in einer Person. Der Strippenzieher im Hintergrund. Hier war ich für den Moment falsch. Ich wollte zu Sir Ripel, zu seinem Zimmer. Dort würde ich hoffentlich fündig werden. So schnell, wie ich gekommen war, verließ ich den Raum auch wieder. Die schwere Tür blieb einen Spalt weit offenstehen, als ich mit meiner Hand schon wieder an der nächsten Pforte klopfte. Auch hier empfing mich nur das leise Pfeifen des Windes.
Entschlossen trat ich ein. Eine Waffenkammer. Dutzende Rüstungen, Klingen und Streitkolben standen in speziellen Halterungen an der Wand. Selbst in der Mitte des Raumes hatte man mehrere Kisten mit Armbrustbolzen abgestellt. Was einerseits sicher beeindruckend wirken mag, ließ mich aber völlig kalt. Denn am Ende dieses Gemäuers erkannte ich den blitzenden Stahl, das schimmernde Celestium einer einzigartigen Waffe. Einer Klinge, die alleine wegen ihrer Größe berüchtigt und gefürchtet war. Eines Schwertes, das nur ein Mann zu führen wagte. Sir Walter Ripels Ultragroßschwert Hifumi lag in seiner hölzernen Halterung seelenruhig da.
Dank seiner Klinge führte er die Sôlaner hunderte, wenn nicht tausende Male heldenhaft in die Schlacht. Seinem lachenden Kampfruf und seinem Schwert folgten wir. Ohne Angst. In treuer Pflicht. Mit dem Mut des Sôlerben selbst. Und hier lag es seelenruhig vor mir, von einer leichten Schicht Staub benetzt. Ich schluckte schwer und machte einen Schritt auf diese legendäre Waffe zu. Mit ausgestreckten Fingern fuhr ich erst über ihren Griff, dann langsam entlang der Klinge bis hin zu ihrer Spitze. Staub sammelte sich an meinen Fingern, als läge sie hier schon eine ganze Weile. Freilich keine Waffe, die man spazieren trägt. Ich wandte mich schnell wieder um, nachdem ich meine Begeisterung verdrängt hatte. Wenn Hifumi hier war, dann würde im nächsten Raum sicher das Gemach von Sir Ripel sein.
Ich trat aus der Waffenkammer heraus. Gegenüber des Aufgangs lag sie. Eine bernsteinbesetzte Tür, deren wirkliche Pracht mir erst jetzt auffiel. Gesäumt von den restlichen sechs Räumen dieses verbotenen Ganges lag sie ruhig und gemächlich in ihrem steinernen Rahmen. Und doch strahlte sie eine unausgesprochene Präsenz einer ruhmreichen Vergangenheit und blühenden Zukunft zugleich aus. Ich machte mir nicht einmal mehr die Mühe zu Klopfen. Selbst wenn jemand im Inneren dieses Raumes war, musste ich hinein. Ohne einen Plan oder eine Fluchtmöglichkeit legte ich beide Hände an den glänzenden Türgriff. Alles oder nichts.
"Eure Hände dahin, wo wir sie sehen können. Sofort hoch damit. Weg von der Tür." ertönte es lautstark hinter mir. Wütende Rufe hallten den Gang entlang. "Wirds bald?! Hoch damit, sonst durchlöchern wir euch!"
Ich kniff die Augen zusammen. Hob meine Hände langsam über meinen Kopf. Nichts. Nichts. Und wieder nichts. Verflucht.
"Langsam umdrehen. Drei Schritte zur Treppe."
Ich biss mir auf die Lippe, öffnete meine Augen wieder und drehte mich langsam um. Am Ende des Ganges standen mindestens vier Sôlaner mit Armbrüsten in der Hand, auf der Treppe warteten sicher mehr. Eins, zwei, drei. Drei Schritte machte ich auf sie zu. Dann blieb ich stehen.
Die Armbrustschützen kamen mir ebenfalls mehrere Schritte entgegen, hielten ihre Waffen angespannt in die Höhe. Meine Zähne bohrten sich in meine Lippe ein. Ich spürte Frustration, Wut und Trauer in mir emporsteigen. Ich konnte nicht einmal mehr unterscheiden, was schlimmer war, was tiefer wiegte oder mich mehr belastete.
Ich war besiegt worden. Aufgeflogen. Das war das Ende. Eingeläutet durch den Schlag eines Armbrustkolbens gegen meinen Schädel. In wenigen Sekunden, die sich aber wie Stunden anfühlten, ging ich zu Boden. Mein Kopf ließ mich wissen, was gerade passierte. Meine Augen blieben offen, sahen den Boden immer näher rasen. Bis ich mit voller Wucht auf dem steinernen Untergrund aufschlug und bewusstlos wurde.
Ich wachte wieder auf. Mein Schädel brummte. Ein stetes Surren benebelte mich. Als ich versuchte einen Schritt nach vorn zu wagen, spürte ich kalte Eisen an Hand- und Fußgelenken. Das Klimpern von Ketten vermittelte mir ein bekanntes Geräusch. Ich war an der Wand festgemacht worden. Unfähig zu fliehen. Eine nasskalte Zelle war mein neues Heim geworden. Vor mir lagen ein paar einfache Lumpen herum, daneben standen ein Teller Brot und eine Schüssel mit Wasser.
In der Ecke tropfte es herunter. Plitsch. Platsch. Tropfen um Tropfen fiel in eine kleine Pfütze hinein, in der sich vorsichtig das Licht der Sonne wiederspiegelte. Vor mir war eine große Metalltür aus Gitterstäben in die Steinwand gelassen. Dahinter erkannte ich weitere Gitter und irgendwann auch den blauen Himmel. Ich war gescheitert. Das war es gewesen. Gefangengenommen und entdeckt. Was sie mit mir anstellen würden, wäre ein allzu gerechtes Urteil. Das, was ich für meine Taten schon lange verdient hatte.
Wer handelt, wird sich der Konsequenz schuldig machen. Ich habe meine Wahl getroffen. Ich habe sie nicht bereut. Ich bereue sie noch immer nicht. Leben muss ich einzig mit der Schuld, die mir nachgesagt wird. Und all dem, was noch kommen mag.
Ich schaute an mir herunter, erblickte, dass ich noch meinen Wappenrock und ein Unterkleid am Leib trug. Die Sonne meiner eigenen Kameraden lächelte mich an. Und doch bin ich durch und wegen dieser Sonne in Gefangenschaft. Ich schnaufte tief durch. Ließ die Ketten rasseln, zappelte ein wenig. Es half aber alles nichts. Man hatte sichergestellt, dass ich nicht fliehen könnte. Alles andere wäre auch töricht gewesen.
Selbst wenn ich eine Flucht gewagt hätte, wohin wäre ich gelaufen? Hätte mich nicht die nächste Tür, das nächste Gitter, der nächste Wächter aufgehalten? Wer war ich schon ohne Waffe und Rüstung? Immer noch dieselbe Person, wie auch sonst. Aber kampflos. Wehrlos. Und nicht zu vergessen – aus Sicht der Sôlaner auch ehrlos.
Ich hing einige Stunden in vollem Bewusstsein an der Wand. Unschlüssig war ich mir, wie lange ich zuvor bewusstlos gewesen sein muss. Waren es nur wenige Minuten, Stunden oder gar Tage gewesen? Sie hatten mir ordentlich auf den Schädel geschlagen. Nicht zu unterschätzen war auch mein Sturz auf den kalten Steinboden, der nichts im Vergleich zur eiskalten und gefühlt gefrorenen Wand an meinem Rücken war. Ich fuhr mir mit der Zunge über meine Lippen. Nur noch eine kleine Kuhle war auf meiner Unterlippe zu spüren, die ich mir vorher wieder aufgebissen hatte.
Ich ließ mich in den Ketten hängen. Meine Handgelenke schmerzten, meine Fußgelenke litten. Das Eisen bohrte sich in meinen Körper, aber ich hatte keine Motivation mehr zu stehen. Es war verloren. Ich war verloren. Hatte versagt. Was nun kommen würde? Ich fand es schon bald heraus.
Es sollte noch mindestens ein oder zwei Stunden dauern, bis die Ketten gelockert wurden. Ich konnte mich gerade noch abfedern und auf die Lumpen unter mir werfen, sonst wäre ich geradewegs wieder mit dem Kopf zuerst aufgekommen. Der Schreck meines eigenen Falls ließ mich wieder wachwerden. Gierig griff ich die Schüssel, trank sie in zwei Zügen leer. Das Wasser fühlte sich kalt an, füllte aber meinen leeren Magen. Danach schob ich mir ein paar Bissen der trostlosen Mahlzeit in den Mund. Selbst dieses kalte und steinharte Brot besänftigte meinen Magen, wenn auch nur für den Augenblick. Ich war entkräftet, schien schon einige Zeit hier zu sein. So genau konnte ich das aber nicht einmal selbst ausmachen.
Es wurde kurz Dunkel im Raum. Vor die vergitterte Tür trat ein maskierter, großer Mann. Er schloss die Tür auf, trat ein und zog sie wieder hinter sich zu. Der in die Kutte des Ordens gekleidete und mit einer schwarzen Stoffmaske geschützte Ordensbruder stellte sich vor mir auf. An seinem Gürtel trog er mehrere Werkzeuge der peinlichen Künste. Ich erkannte eine Peitsche, ein Brandeisen und einen Metallkolben. Das würde aber sicher nicht alles sein. Ich schluckte vor Anspannung. Nein, vor Angst. Aber selbst in diesem Moment sah ich ihn noch als Ordensbruder an? Deyn steh mir bei.
"Ketten spannen." verordnete die Gestalt mit kratziger, aber bestimmter Stimme. Ein erfahrener Befehlston versteckte sich in seiner Aussprache, das hier war ein gebürtiger Kurmarker. Und das bedeutete keine besonders gute Aussicht auf eine allzu freundliche Befragung.
Mit einem Rattern wurden die Ketten wieder straff angezogen. Ich wurde vom Boden hinaufgewuchtet, unfähig etwas dagegen zu unternehmen. Meine Gliedmaßen streckten sich wieder, mein Rücken wurde gegen die kalte Wand gedrückt. Der Peiniger des Ordens schaute mich unter seiner Haube an und begann zu sprechen.
"Ich stelle euch fortan Fragen, die ihr beantwortet. Wenn ihr sie unzureichend oder falsch beantwortet, werden wir eure Schmerzempfindlichkeit herausfordern. Fangen wir sogleich an. Name?"
Ich ließ mich so lose hängen, wie die Ketten es mir gewährten. Mit bestimmtem Blick versuchte ich durch die Maske hindurchzusehen, vielleicht die Augen der Gestalt vor mir zu erkennen. Doch alles vergebens. "Amélie. Amélie da Broussard." Mehr brachte meine leise, schmerzende Stimme nicht mehr hervor.
"Seid ihr Mitglied des Sôlaner Ordens?"
Ich nickte.
"Unzureichende Antworten werden sanktioniert." Von seinem Gürtel löste er die Peitsche. Ich war bereits wieder im Begriff meinen Mund zu öffnen, ihm alles mitzuteilen, als das Leder durch die Luft surrte. Mein rechter Arm wurde von der scharfkantigen Spitze getroffen. Blut begann von meinem Arm auf den kalten Steinboden zu tropfen. Ein stechender, brennender Schmerz durchzog erst meinen Arm und wanderte daraufhin in meinen restlichen Körper. Ich presste die Zähne aufeinander, kniff die Augen zu und versuchte meine Antwort trotz der erbärmlichen Schmerzen herauszukriegen.
"Ja, ja bin ich." keuchte ich irgendwie hervor.
Der Folterknecht nickte auf. "Rang und Ordensniederlassung. Dieses Mal aber gleich."
Ich seufzte aus. Was konnte ich anderes tun, als antworten? Mich von ihm zu einem Fleischhaufen verarbeiten lassen? Er würde es ohnehin tun, aber vielleicht .. vielleicht würde mein Wissen mich zumindest über den heutigen Tag bringen. Dann könnte ich mir etwas überlegen, wie ich hier lebend rauskomme. Ich durfte nur die Hoffnung nicht aufgeben, niemals. Denn wenn die Verzweiflung ausnahmslos die verbliebene Hoffnung vertreibt, ward die letzte Schlacht verloren.
"Protektorin, Neu Corethon auf den Westwind-Inseln, Unbekannte Lande."
"Was erzählt ihr da für einen Wahn?" Ein weiteres Mal rauschte die Peitsche durch die Luft. Dieses Mal riss sie mir die Haut vom rechten Oberschenkel. Ein langer blutiger Streifen blieb zurück, gemeinsam mit einem ziehenden und gleichsam betäubenden Schmerz. Ich kniff die Augen zusammen. Konnte ihn nicht mehr anblicken. Dennoch versuchte ich mich gedanklich auf seine Fragen zu konzentrieren. Noch mehr Schläge wollte ich nicht abbekommen. Dabei wusste ich bereits ganz genau, dass es kein Entrinnen mehr gab. Es würde nicht die letzten Pein gewesen sein, garantiert nicht. Wäre da doch nicht dieser grausame Schmerz. Erst kommt er mir nur jede Nacht in den Träumen und jetzt .. jetzt auch hier. Ich wusste einfach nicht weiter. Am liebsten hätte ich direkt losgeweint und alles aus mir rausgelassen. Aber selbst dafür war ich zu schwach. Was für ein erbärmliches Häuflein Elend dort gehangen haben muss. Und ich nenne mich Sôlaner?
"Es stimmt. Es ist die Wahrheit. Neu Corethon, dort drüben. Seit bald zehn Jahren. Mehr als die Wahrheit .. kann ich nicht antworten."
Er ging nicht einmal auf meine Antwort ein. Stattdessen legte er sofort die nächste Frage nach, die mit seiner kratzigen Stimme im Raum verklang. "Herkunft?"
Ich atmete einmal tief aus. Angestrengt versuchte ich den Schmerz zu unterdrücken, während weitere Blutstropfen auf dem Boden aufschlugen. "Patrien, ich war ... Waisenkind".
Das dritte Mal flog die Peitsche durch die Luft. Krachend traf sie meinen bereits verwundeten Arm. Ein Stück Haut riss ab, ein Schwall Blut platschte auf den Stein. Ich biss mir heftig auf die Lippen, kämpfte mit einem Schrei. Trotz des innigen und brutalen Schmerzes hielt ich irgendwie an mir. Für einen Augenblick entfloh mir zwar alle Luft, im nächsten konnte ich aber kreischend ein paar Worte rausbringen. "Wofür war das jetzt?"
Nüchtern entgegnete er mir seine Antwort. Es war reiner Hohn und Spott. Vergeltung. Ich konnte es ihm ja nicht einmal übel nehmen. Verflucht, Amélie. "Bestrafung für die Tat. Nicht die Letzte. Weshalb seid ihr hier?"
Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Ich musste rot angelaufen sein, aber wem sei das in dieser Situation zu verübeln. Es machte ohnehin keinen Unterschied mehr, wie man mich wahrnahm. Schließlich war ich nur eine gefesselte Verbrecherin an der Wand.
"Sir Ripel, die Wahrheit. Er kennt sie. Ich muss ihn sehen. Mit ihm sprechen." Ich keuchte aus. "Er hat etwas, was wir brauchen. Für die .. diese Welt."
Ich biss vorsorglich meine Zähne zusammen, zog meine Zunge ein. Ich sollte Recht behalten. Mein bisher unversehrtes Bein wurde von der Peitsche übel erwischt. Ein pulsierender Schmerz zog durch meinen Körper und ließ mich erschaudern. Ich musste nicht einmal mehr hinabschauen, um das Blut zu erkennen. Trotzdem blieb es nicht dabei. Zwei weitere Schläge des Folterinstruments trafen meinen Körper. Jedes Mal riss die Peitsche mir die Haut vom Leib, kratzte mein Fleisch auf und ließ weiteres Blut gen Boden prasseln. Ich hielt verbissen durch. Blieb bei Bewusstsein. Irgendwie. Ich hatte es nicht verdient ohne Schmerz aus dieser Welt zu scheiden.
"Habt ihr Ripel bereits getroffen?" Was für eine ausgesprochen spezifische Frage. Sie brach mit allem, was bisher passierte. Ich beantwortete sie mit einem stillen "Ja", sowie einem Nicken.
"Wo?"
"In den Kreuzzügen, Szemää. Und tief unten, im Abgrund dieser Welt."
Mein Peiniger ließ seine Peitsche auf den Boden fallen. Ich blinzelte kurz auf, sah, wie er den metallenen Kolben in beide Hände nahm und Schwung holten. Verbissen kniff ich die Augen wieder zu und erwartete nur den Aufprall. Das eiskalte Kopfstück des Stabes traf mit unglaublicher Wucht auf meinen Oberschenkel. Mein Knochen brach und verformte sich, sofort setzte eine gefühllose Taubheit ein. Der Schmerz drang mir dagegen direkt wieder in den Schädel. Es fühlte sich an, als müsste ich mich vor Pein übergeben. Ich würgte und würgte, doch nichts kam. Lächzend schnaufte ich auf. Versuchte mein Bein zu bewegen, aber spürte nichts. Nicht einmal meine Zehen konnte ich bewegen. Verdammt. Verflucht, verdammt.
In diesem Moment erinnerte ich mich an ein altes Kinderlied aus meiner Zeit bei den Nonnen in Patrien. Vielleicht war es eine weit entfernte Erinnerung, die mich vor weiterem Leid bewahren wollte? Ich musste unweigerlich daran denken. Sogar der Liedtext tauchte klarer denn je vor mir auf. Dabei hatte ich ihn damals nie richtig mitsingen können.
Wenn die Sonne aufgeht,
kommen wir hinaus.
Wir heben die Hände in die Höh',
wenn die Sonne aufgeht.
Am frühen Morgen danken wir Deyn,
für die sichere Nacht.
Am frühen Mittag danken wir Deyn,
für das leckere Mal.
Am frühen Abend danken wir Deyn,
für den schönen Tag.
Wenn die Sonne untergeht, gehen wir hinein.
Wir legen die Hände auf die Decke,
wenn die Sonne untergeht.
Im Frühling danken wir Deyn,
für die schönen Farben.
Im Sommer danken wir Deyn,
für all die viele Sonne.
Im Herbst danken wir Deyn,
für die kühlen Abende.
Im Winter danken wir Deyn,
für die lauschige Zusammenkunft.
Wenn die Sonne aufgeht,
holt Deyn sich zu uns
Doch passt Deyn auch auf uns auf,
wenn die Sonne untergeht.
Wir danken Deyn,
wenn wir klein sind und er auf uns aufpasst.
Wir danken Deyn,
wenn wir größer werden und er uns Laufen hilft.
Wir danken Deyn,
wenn wir Leben und er uns führt.
Wir danken Deyn,
wenn wir alt sind und zu ihm dürfen.
Wenn die Sonne aufgeht,
gehen wir hinaus in Deyns Welt.
Wenn die Sonne untergeht,
kommen wir zurück ins sein Reich.
Wenn die Sonne aufgeht,
kommen wir hinaus.
Wir heben die Hände in die Höh',
wenn die Sonne aufgeht.
Denn wir sind alle Kinder Deyn Cadors.
Denn wir sind alle Kinder Deyn Cadors.
Ich wurde durch eine schellende Backpfeife wieder aus meiner Erinnerung gerissen. Sofort wurde mir die nächste Frage entgegengeschmissen. "Gegen wen hat Ripel gekämpft?" Schnaufend versuchte ich irgendeine Antwort rauszudrücken. Nichts zu sagen, würde nur noch mehr Schläge und Leid verursachen. Und noch einmal würde mein leidender Verstand mich nicht retten können. Ich hatte ohnehin nichts mehr zu verlieren. Sollen sie doch alles wissen und selbst daran scheitern zu verstehen. Oder zu handeln.
"Verfluchte Dämonen, Taghoob und einen riesigen Steinkoloss. Meterhoch, zerstörerisch." Ich spuckte einen Schwall Blut aus, hoffte dabei seine Füße nicht getroffen und seinen Zorn weiter entflammt zu haben. "Hat den Koloss besiegt, andere gerettet."
Erneut traf mich der metallene Schlägel. Die Knochen in meinem rechten Arm splitterten und ließen mich eine altbekannte Taubheit wiedererleben. Ich blieb irgendwie bei Bewusstsein, ließ nur meine Augen geschlossen. Meine Atmung wurde schwerer, jede noch so unfreiwillige Bewegung tat gleich doppelt weh. Ich war bereits weit über den Punkt hinaus, an dem ich noch alle einzelnen Schmerzen wahrnahm. Mein ganzer Körper fühlte sich an, als würde ich .. als würde ich sterben.
Was auch immer das hier werden würde, konnte nicht gut für mich enden. Niemals konnte es das. Nie wieder.
"Was ist mit Michael Bonnington passiert?" Ich hielt einen Moment die Luft an. All diese Fragen. Woher? Wo war die Verbindung? Wie konnte jemand außer uns den Zusammenhang kennen? Offenkundig war hier jemand am Werk, der die Fäden schon längst zusammengezogen hatte. War ich nur her, um Bestätigung zu geben? Waren wir längst aufgeflogen und konnten dieses so kostbare Geheimnis nicht bewahren?
"Verschollen." krächzte ich irgendwie heraus. Blut rann aus meinem Mund, tropfte auf meine wundersam kleine Oberweite und lief mir über den Bauch.
"Nicht die offizielle Version." kam zurück.
Ich lächelte auf, so weit es mein Körper eben noch zuließ. Es war längst zu spät. Viel zu spät. "Tot. Zerstückelt, erstochen und brutal ermordet. Wahnsinnig."
Zur Belohnung gab es einen zweiten Schlag auf meinen rechten Arm. Die Knochen mussten sich in ein Mosaik verwandelt haben, dass nicht einmal mehr der geschickteste Arzt Leändriens wieder zusammensetzen konnte. Adé, schöne Welt. Deine Grausamkeit habe ich verachtet, deine Liebenswürdigkeit geschätzt. Jetzt war aber alles vorbei. Ich würde einsam in einer grauen Zelle verrecken.
"Nun zur vielleicht wichtigsten Frage: Was ist mit Franz Gerber geschehen?" Natürlich geht es darum. Es ging immer nur um ihn. Nie um mich oder uns anderen. Was ist nur mit Franz geschehen. Was soll mit ihm passiert sein? Er ist verschwunden. Hat sich für Deyn Cador geopfert und seine Stelle im Götterplan eingenommen? Ich wusste, dass mir bekannt war, was Franz getan hatte. Ich konnte es aber nicht begreifen. Niemals verstehen. Wie eine verschlossene Erinnerung in meinem Hinterkopf ruht dieses Geheimnis tief in mir drin. Den Schlüssel hat Deyn selbst genommen, um größeres Unheil zu verhindern. Hoffentlich würde er niemals erlauben, dass ich verstehe. Nicht zu Lebzeiten.
"Franz ist .."
"Franz ist ..."
"Franz ist .... verschollen. Für immer verschwunden. War auf einmal weg. Hat sich für Deyn selbst geopfert. Hat dort seinen Platz gefunden. Seine Funktion erfüllt."
Mit einem Ruck zog ich meine Augen auf. Ich sah klar, als ob der Raum von grellem Licht erfüllt wurde. Ich blickte meinem Scharfrichter durch die Maske in die Augen. Mein Schmerz war plötzlich verflogen, als wäre er nie dagewesen.
Mein Blut verfärbte sich mit einem Ruck. Aus roter Flüssigkeit würde grünlicher Schlamm, der auf dem Boden einging. Meine Knochen schoben sich von selbst wieder in ihre angespannten Positionen, wuchsen wie die eines Kleinkindes wieder zusammen. Meine Wunden zogen das just verlorene Blut wieder ein, klammerten sich langsam, wie von Zauberhand, wieder zu. Eine frische Hautschicht bildete sich binnen Sekunden über den Öffnungen, aus denen gerade eben noch Blut strömte.
All das Leid verging. Und mein Körper erstrahlte in der davorgewesenen Unversehrtheit. So relativ unversehrt, wie ich eben sein durfte. Trotz aller Narben und Male.
Ich konnte fühlen, wie meine Augen gelblich aufleuchteten. Mich jegliche Wesen und die Schatten der Nacht erkennen ließen. Wie ich zu neuer Kraft kam und .. Fleisch roch.
Mein Peiniger ließ seine leidige Waffe auf den Boden klirren. Mit beiden Händen zog er seine Maske ab, packte mich mit seiner kräftigen Hand am Kinn und blickte mir tief in die Augen. Sein Gesicht war stark vernarbt, kahl und strahlte eine kalte und berechnende Atmosphäre aus. Ich verstand langsam in wessen Augen ich hier blickte.
"Dann stimmt es also wirklich. Vergebt mir mein Verhalten, aber ich musste sichergehen. Löst ihre Ketten, lasst sie sich ankleiden."
Mit einem Ruck wurden die Ketten gelöst und ich fiel wieder auf den Boden. Ohne auch nur daran zu denken Peitsche oder Schlagstock mitzunehmen, verließ mein Peiniger den Raum. Sogleich traten zwei Sôlaner mit einer großen Kiste in den Raum. Sie stellten ihre hölzerne Fracht vor mir ab, lösten meine Ketten und ließen mich mit wenigen Worten wieder allein.
"Kleidet euch an. Er erwartet euch."
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"Nicer Cock, Schussi" - Christian, 06.12.2019
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10.01.2021, 02:53 AM
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 30.01.2021, 03:24 AM von Feuerfrosch.)
XXIII – Sir Walter Ripel
28.04.1352
Ich fuhr mir zögerlich über meine gerade zugewachsene Haut. Vorsichtig rieb ich meine Finger über die erhobenen und mittlerweile verkrusteten Stellen meines unter einer Schicht aus Schmutz und Dreck/ versteckten Arms. Gerade eben noch hatte mir eine Peitsche an eben jenen Gliedern klaffende Wunden aufgerissen, die dank eines jahrealten Lasters einfach wieder verschwunden waren. Ein elendiger Schmerz hatte mich durchfahren, der nun nach wenigen Minuten "geheilt" war. Einfach weg, wie durch .. das Chaos höchstselbst. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Körper aus, nicht nur wegen der grässlichen Kälte. Nein, ich ekelte mich vor mir niemand geringerem, als mir selbst. Was war nur aus mir geworden? Wie konnte ich all das nur zulassen?
Sie wussten es. Sie wussten alles, von Anfang an. Es war völlig naiv zu glauben, dass Zandig niemals von unseren Aktivitäten erfahren würde. Zu viel ging auf Neu Corethon vor sich, als das man diese Insel hätte unbeachtet lassen können. Ich kam mir vor, wie eine vorgeführte Marionette in einem allzu tragischen Puppenspiel. Meine Rolle war längst festgeschrieben, jede meiner Handlungen vorhersehbar und auch das Ende war bereits bestimmt worden. So hast du dich also immer gefühlt, alter Freund? Kein Wunder, wenn deine Seele verbitterte und der Wahn dich langsam in seinen Klauen festhielt.
Ich biss mir auf die Unterlippe, nur um zu realisieren, dass der Schmerz es nicht wert sein würde. Irgendwann werde ich ein letztes Mal das widerliche grüne Blut meines Körpers mit seinem grässlich eisernen Geschmack in meinem Mund spüren; und mir bis dahin nicht einmal mehr selbst in den Spiegel schauen können.
Schon jetzt kostet mich jeder Anblick meines eigenen Ichs eine Überwindung. Wenn möglich wagte ich es gar nicht erst in das reflektierende Silber zu blicken. Wer diese Frau da auf der anderen Seite war, wurde mir erst seit dieser Reise wirklich bewusst. Und ihr wahres Selbst werde ich irgendwann kennenlernen.
Wir alle werden es.
Eines verhängnisvollen Tages, wenn ich das Leid endlich beenden kann.
Ich kniete mich vor der zu meinen Füßen stehenden Holzkiste nieder. Schwerfällig zog ich den mit metallenen Schnallen festgezurrten Deckel hoch und ließ ihn auf den Boden knallen. Ein leises Poltern hallte durch die steinernen Tunnel hinter mir. Im Inneren der Kiste befanden sich, feinsäuberlich in einzelne Leinentücher gewickelt, meine Habseligkeiten. Jeden einzelnen Gegenstand hatte man aus seinem ursprünglichen Aufbewahrungsort oder Versteck geholt, inspiziert und sauber bereitgelegt. Man durfte wohl wirklich kein Risiko mit mir eingehen, schätze ich. Wem könnte ich das auch verübeln?
Beherzt verteilte ich meine Rüstungsteile, Kleidung, Pelze, Messer, Schwerter und sonstigen Dinge auf dem nasskalten Steinboden um mich. Einzeln suchte ich mir erst meine Kleidungsstücke herbei, steckte meine Gliedmaßen hinein und zog die Lederbänder fest. Jedes weitere Stück Stoff auf meiner Haut überraschte mich auf ein Neues mit einer ungeahnten Kälte, bevor mir langsam wieder warm wurde. Deyn sei Dank befand sich vor der Tür eine knisternde Kohlenpfanne, an der ich mich ein wenig aufwärmen konnte. Erst danach vermochte ich meine Rüstung anzulegen. Den krönenen Abschluss bildeten meine beiden Schwertscheiden. Selbst Heldenmut hatte man mir zurückgegeben. Welch Ironie, wenn ich es so recht überdenke.
Eigentlich wäre es Anlass für ein wenig Hoffnung gewesen, vielleicht gar Freude. Ich konnte mich aber nicht dazu durchringen, oder vielmehr ... aufraffen? Ich war wenigstens nicht mehr halbnackt an die Wand gekettet, wurde nicht mehr mit einer Peitsche zerissen während ich nebenher erfror. Nur ein Narr würde erwarten, dass hier noch irgendetwas zu meinem Vorteil ausgehen könnte. Eigentlich profitierten hier, ausgerechnet in der Tempelfeste, nur diejenigen, die ihre eigenen Ziele neben dem Wohle des Ordens verfolgen. Aber auch dies kann ich meinen Befehlshabern kaum verübeln. Ich hätte es schließlich nicht anders gemacht.
Selbst in Zeiten größter Not und Verachtung kann ich ihnen nicht widersprechen oder entgegentreten. Nein, je mehr die Gräuel des Ordens ans Tageslicht treten, desto mehr verteidige ich ihn. Ich bin und bleibe ein Narr. Eine Heuchlerin für einen Heuchler.
Mit diesem Gedanken trat ich vor die halbgeöffnete Türe. Grelles Sonnenlicht schien mir in die Augen. Es funkelte irgendwo am Horizont, sogar so stark, dass ich mir die Augen mit der Hand bedecken musste. Anscheinend hatte ich einige Zeit in dieser Zelle gehangen. Das Licht bekam mir nicht gut, fast als hätte ich verlernt in der Freiheit zu schreiten? Oder es dank der an mir lastenden Bestimmung// niemals gedurft. Erschöpft, aber immerhin gerüstet, kamen mir zwei besonders große Ordensritter entgegen. Wir mussten nicht miteinander sprechen, damit ich verstand, dass sie auf mich aufpassen würden. Sowohl zu meinem Schutz, als auch zum Schutz aller anderen. Deyn steh mir bei.
Ihre weißen Wappenröcke mit ihren rotgoldenen Schulterbändern, dazu ein überlanges Kettenhemd und dieser silbern aufglänzende Rundschild ließen Fragen an ihrer Person gar nicht erst aufkommen. Vor mir befanden sich zwei Mitglieder der Sonnengarde. Eigentlich einmal als Leibgarde unseres Erzbischofes angelegt, wird sie heute zu ganz anderen Zwecken genutzt. Oft wird man sie an der Seite der Inquisitoren sehen, wenn sie sich einmal wieder einen Magier vorknöpfen. Gerade in Zandig findet man sie jedoch nur hier oben, in der Londanor Tempelfeste. Selbst mir war nicht wirklich klar, weshalb sie ausgerechnet die bestgeschützte Festung ganz Leändriens noch besser sichern müssen. Nach ihrem beinahe theatralischen Auftritt vor mir, ist mir aber auch diese Erkenntnis offenbart worden. Sie schützen die Tempelfeste nicht vor Angriffen von außen. Sondern von innen. Vor den Sôlanern selbst, wenn diese sich gegen ihre Heimat wenden sollten. Vor Verrätern, Saboteuren und Gestalten, wie mir. Kein Wunder also, dass es so lange geheimgehalten werden konnte. Dieses verfluchte Geheimnis, dass die Welt eines Tages erschüttern wird. Während wir alle nur machtlos dastehen und den Flammen beim Überspringen zusehen.
Selbst wenn ich versucht hätte mir den Weg durch diese Tunnel und Gänge zu merken, wäre es mir sicher nicht gelungen. Mein Kopf dröhnte und mein Magen knurrte, in meiner Kehle kratzte der Durst vergangener Tage und Stunden während meine Arme beim Laufen schlapp herabhingen. Kurzum: Mir ging es sichtlich nicht gut. Ach, hatte ich bereits erwähnt, dass meine Augen immer noch gelb leuchteten? Zahlreiche Blicke der passierenden Sôlaner galten nicht den beiden hünenhaften Gestalten vor mir sondern einzig meinen glühenden Augen. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Aber solch ein Wunder wurde mir bedauerlicherweise nicht gewährt. Es war ein Lauf der Scham und Schande. Unerträglich und doch notwendig, schließlich ist nur eine Person für dieses ganze Dilemma verantwortlich – Amélie da Broussard. Mit anderen Worten: Ich.
Und als ob das noch nicht genug wäre, konnte ich weder den Schein von Fackeln noch das Sonnenlicht richtig erkennen. Jeder Lichtstrahl, jede Lichtquelle, tat schonungslos weh. Ein flackerndes Brennen lag auf meinen tränenden Augen. Selbst mit zusammengepresstem Kiefer und beiden Händen vor dem Gesicht konnte ich meinen Blick nur auf den Boden gerichtet halten. Nur dort war das Laufen erträglich. Nur dort waren die stärksten Lichtquellen meine eigenen Augen. Der gelbe Schein stechendes Schmerzes in meinem Gesicht hätte jeden besonnenen Menschen sofort zu meiner Verbrennung getrieben. Zum Glück befand ich mich im Zentrum des Magiebanns.
Mit meinem nach unten gerichteten Blick bogen wir um eine weitere Ecke dieser schier endlosen steinernen Tunnel, als meine Nase plötzlich den Geruch von gebratenem Fleisch aufnahm. Zu meiner Freude war es kein Menschenfleisch, sondern ein in dem großen Speisesaal schmorendes Wildschwein! Selbst mit dem zuckenden Schmerz im Gesicht, konnte ich bei dieser Fährte nicht mehr an mir halten. Meine Füße liefen wie von selbst los, quetschten mich zwischen den beiden Sonnengardisten durch und ließen mich auf den erstbesten Teller stürzen. Natürlich spürte ich sogleich vier kräftige Arme an meinen Schultern. Glücklicherweise ließen diese aber nach nur einem Augenblick wieder ab, als ihnen das Objekt meiner Begierde bewusst wurde. Während sie sich schulterzuckend ebenfalls einen Teller griffen, häufte mir der Koch mit vielsagendem Blick den Teller voll. Ein gigantischer Berg köstlichster Speisen türmte sich vor mir auf, damit aber nicht genug. Kommentarlos langte der in gelb-gräuliche Gewänder gehüllte Bedienstete über den Tresen und nahm einen zweiten Teller. Mit einem geübten Schwung schlug er ihn voll mit dickflüssigem Hirsebrei und stellte ihn neben meinem ersten Teller ab. Zufrieden lächelnd warf er meinen Begleitern einen Blick zu. Als ich mich an einer der hölzernen Bänke niederließ, standen bereits vier kupfernde Becher darauf bereit. Drei waren mit kostbarem Wein gefüllt, einer mit warmer Milch.
Während ich anfing mir unaufhörlich große Fleischstücke in den Mund zu schieben, diese mit einem Gemisch aus Hirse und gestampfter Kartoffel runterzuschlucken, setzte ich bereits die Milch an. Mein Körper wurde in kürzester Zeit mit wunderbar duftendem und köstlich schmeckendem Essen belohnt, dass ich lediglich, wie ein Tier, in mir herunterwürgte. Ich schien es nicht einmal mehr zu merken, als ich sogar die Speisereste meiner beiden Wachen noch aufaß, bevor ich den Wein in einem Zug zum Abschluss herunterspülte. Meine Augen kniff ich durchgehend zu einem kleinen Spalt zusammen. So gelang es mir irgendwie das Brennen zum größten Teil zu unterdrücken, selbst wenn der stechende Schmerz weiter an meinem Verstand nagte.
Mein Magen drückte sich während meines ausgiebigen Mahls an die metallene Brustplatte, aber das war mir in diesem Moment wirklich egal. Als ich endlich fertig war, schloss ich die Augen. Ich versuchte an nichts zu denken und mir keine Vorwürfe zu machen. Nur kurz. Durchschnaufen, denn was gleich folgen würde, bedurfte meiner ganzen Energie und Aufmerksamkeit.
Ich wurde durch einen quietschenden Laut von Holz wieder aus meinem Halbschlaf geweckt. Ein letzter tiefer Atemzug kehrte in meinen Körper ein und verließ ihn nur einen Augenblick später. Ich riss meine Augen auf und konnte wieder ohne Einschränkungen sehen. Die Sonnenstrahlen fielen durch die verglasten Fenster in die Kammer. Sie bereiteten keine Schmerzen mehr, als wären meine verfluchten Kräfte verschwunden. So schnell vergangen, wie sie kamen, hm?
Auf der Holzbank am anderen Ende des Tisches, direkt gegenüber meiner leergetrunkenen Becher und nahezu vollständig reingeleckten Teller, saß ein dritter Sonnengardist. Unter seinem wuscheligen weißen Bart verbarg sich irgendwo sein streng dreinblickender Mund. Er war deutlich in die Jahre gekommen, wirkte aber trotzdem irgendwie .. kämpferisch. Nicht einmal die tiefen Augenringe unter den seeblauen Augen ließen irgendwelche Zweifel an seiner Kompetenz aufkommen.
Er fing, ohne Vorstellung oder Begrüßung, an zu sprechen. Merklich dämpfte er die Lautstärke, damit unser Gespräch nicht an falsche Ohren gelangte. Seine kratzig-raue Stimme und seinen herben Kurmarker Dialekt musste ich gerade deswegen erst einmal zu verstehen lernen.
"Das verfluchte Kind aus Neu Corethon, hm? Oder sollte ich sagen – eines davon? Wenn wir Sir Saltzbrandt glauben schenken, sogar das Wichtigste. In Saltzbrandts Augen bedeutet Wichtigkeit, nunja, leider stets auch Erpressbarkeit, Manipulierbarkeit. Die Liste könnt ihr beliebig weiterführen."
Meine Bewacher machten nicht die kleinste Andeutung irgendwie am Gespräch teilhaben zu wollen. Sie ließen ihren Ordensbruder einfach weiterreden.
"Jedenfalls eine beeindruckende Vorstellung so weit hineinzukommen. Vielleicht hätten wir wetten sollen? Aber dann hätte nur Saltzbrandt gewonnen."
Ich warf ihm einige fragende Blicke zu. Noch immer etwas von mir selbst verwirrt sowie von den schmerzenden Augen betrübt, brauchte ich eine Weile, bis ich eine Antwort zusammenbrachte. Am liebsten hätte ich mich in die Hängematte geschwungen und tagelang geschlafen.
"Und das erzählt ihr mir weil?"
Ich versuchte halbwegs unauffällig die rotgoldenen Schulterbänder meines Gegenübers mit denen meiner Bewacher zu vergleichen. In der Hoffnung so den Rang des Sonnengardisten erahnen zu können. Mein trauriger Versuch wurde jedoch schnell entdeckt.
"Sonnenoberst Bannler, die kläglichen Augenspiele könnt ihr euch sparen. Ohnehin schaut euch jeder in die Augen, damit keiner diese erbärmliche Narbe anstarren muss. Aber dann war da ja noch dieses Problem mit dem Leuchten."
Er winkte ein wenig mit seiner Hand hin und her, dann räusperte er sich.
"Saltzbrandt hat mich gebeten, mit euch zu sprechen. Schließlich werden wir auf die ein oder andere Art und Weise miteinander zu tun haben, sobald ihr bei ihm wart.
Was hat er noch gesagt, mhh.."
Mit einem schnellen Handgriff schob er die linke/ Hand unter seine Brustplatte. Mit zwei überkreuzten Fingern zog er einen säuberlich zusammengefalteten Zettel herbei, den er sogleich auf dem Tisch auseinanderklappte und auslegte.
"Ach ja, genau. Absolutes Stillschweigen. Über alles. Ihr habt das bisher schon recht gut hinbekommen, daher haltet nur besser weiter euren Mund. Und eines Tages, nunja, ihr wisst ja, was ihr zu tun habt."
Ich schluckte. Schwer. Wirklich schwer. Alles blieb mir wie ein Kloß im Hals stecken, als mir sein stechender Blick erst richtig bewusst wurde. Am liebsten wäre ich in die Kathedrale gerannt und hätte gebetet. Viel lieber hätte ich einfach nur geweint, wäre weggelaufen und feige geflohen. Aber Amélie, es gibt kein Zurück mehr. Als ob es je eines gegeben hätte. Die Welt wird nie wieder, wie sie einst war. Wir haben Entscheidungen getroffen und Konsequenzen erlebt. Jetzt stehen wir vor den Scherben unseres einstigen Lebens und müssen sie mühselig beieinander halten.
"So gefällt mir das."
Bannler erhob sich seufzend, winkte seine beiden Gardebrüder mit sich. Mit einem sanften Stupser gegen die Schulter verdeutlichten sie auch mir, dass es an der Zeit war, zu folgen.
Mit aufeinandergepressten Lippen schritt ich den drei großen Herren schweigend hinterher. Ich kannte die Gänge und Wege, die wir entlanggingen. Ich wusste ganz genau, wo sie mich hinbringen würden. Wir liefen durch die beiden großen Hallen mit den zahlreichen Türen. Stiegen ein Stockwerk hinauf, um dann durch die Gemächer zu schreiten und irgendwann wieder bei weiteren Hallen anzukommen. Vorbei an den Darstellungen der Artefakte und Heiligen Stätte gelangten wir an die schnurgerade nach oben führende Treppe. Vor mir lag wieder das geöffnete Gatter. Dahinter der Ort, an dem mein Versuch alles unbemerkt abzuwickeln, so tragisch gescheitert war.
Bannler drehte sich auf der vorletzten Treppenstufe vor mir um. "Ihr kennt den Weg ja schon, nicht wahr? Dieses Mal stellen wir aber sicher, dass eure Anwesenheit ein wenig mehr Sinn hat."
Er grinste verstohlen auf und deutete mir mit einer überschwänglichen Handgeste den Weg nach oben.
"Die Tür wurde euch bereits geöffnet, werte Dame. Einfach den Gang entlang."
Ich stieß kopfschüttelnd einen Seufzer aus. Letzlich tat ich aber wie geheißen, schließlich gab es keine andere Möglichkeit mehr. Auf dem trostlosen Gang stand eine einzige Tür offen. Bereits vom Gatter aus konnte ich hören, dass Sir Saltzbrandt nicht alleine in seinem Gemach war. Ich trat daher vorsichtig an den Türrahmen heran, zog einen letzten Schwall Luft tief ein und hob die Hand. Gerade als ich das erste Klopfgeräusch an den Türrahmen setzen wollte, wurde ich bereits von Saltzbrandt in den Raum gebeten. Der kahle, vernarbte Sôlaner saß hinter seinem Schreibtisch und schien gerade irgendwelche Wartungen an einer seiner Pistolen durchzuführen. Er schenkte mir nicht den Hauch einer Beachtung, sondern hielt seine Schusswaffe in der einen und ein gräuliches Tuch in der anderen Hand.
Auf der anderen Seite des Schreibtisches stand ein junger Priester. Mit gesenktem Kopf trat ich ein, schloss die Türe hinter mir und versuchte einen möglichst souveränen Blick aufzusetzen. Mühsig verneigte ich mich vor den beiden Anwesenden und begutachtete den Priester. Ein faltenfreies, junges Gesicht und diese eindrucksvoll sanfte Stimme aus dem Süden Tasperins. Ich hatte ihn irgendwo schon einmal getroffen, ja. War es in Weissenstein gewesen? Doch, dort musste es gewesen sein. Während ich offensichtlich nach einer Verbindung zwischen uns suchte, begann er bereits zu sprechen.
"Da seid ihr endlich, nun sind wir gewissermaßen wieder vereinigt. Ich freue mich euch zu sehen, nachdem ihr solche Umwege genommen habt. Ihr habt mich durchaus ziemlich lange warten lassen, Amélie da Broussard.
Umso erstaunlicher ist es, dass ihr hier seid. Und dann in solch einer Verfassung. Sir Saltzbrandt hat euch schließlich erst vor ein paar Stunden ziemlich zugesetzt. Und siehe da."
Er richtete beide Hände in meine Richtung.
"Ihr seid wohlauf. Ein Wunder, nicht? Oder genau das Gegenteil. Keine Sorge, ich habe euch schon länger im Auge und auch keine richtige Antwort darauf."
Ich schenkte meine Aufmerksamkeit kurz Victor Saltzbrandt, der mit seinem feinen Seidentuch gerade dabei war den Lauf einer Steinschlosspistole zu reinigen. Langsam strich er über jedes Einzelteil, um danach in die kleinen Rillen und Lücken hineinzublasen, um auch jedes noch so kleine Staubkorn zu entfernen. Mit einem mit Öl benetzten Tuch polierte er anschließend Griff, Schaft und Abzug der Pistole zu einem unglaublichen Reinheitsgrad. Ohne unserem Gespräch dabei nur einen Funken seiner Aufmerksamkeit zu schenken.
"Seitdem ihr diese arme Seele vor Weidtland von Bord geworfen habt, kamen die Berichte wieder zu mir. Ab dann habe ich euch auch manchmal selbst im Auge behalten müssen, wie ihr gemerkt habt."
Ich seufzte ein wenig vor mich hin. Mit einer schwungvollen Armbewegung strich er sich die Ärmel über die Ellenbogen. Am rechten Arm funkelte mich ein pechschwarzer Karneolamreif an. Das Zeichen der Mortumbruderschaft. Mit einer zweiten Armbewegung bot er mir den anderen Stuhl in Saltzbrandts Schreibgemach an, bevor er selbst Platz nahm. Ich ließ mich klimpernd nieder. Enttäuscht von mir selbst. Ungewiss, was noch kommen mochte.
"Ich bin weniger für das Feld geeignet, aber anscheinend habe ich mich ganz gut geschlagen. Nunja, ihr habt nicht einmal bei Mayer und Meier Verdacht geschöpft oder? Ich glaube euer werter Prior Bonnington und ihr glaubt bis heute, dass die beiden nur zu eurer Unterstützung da waren!"
Er lachte leise auf, hob dann nahezu verpöhnend die Hand vor den Mund.
"Entschuldigt bitte. Unterschätzt jedenfalls niemals die Bruderschaft. Wir sammeln schließlich all das Wissen, was den restlichen Orden verborgen bleibt. Bisher wart ihr recht gut darin solch verborgenes Wissen anzusammeln und nicht zuletzt auch zu behalten. Wir vertrauen daher auch weiter auf eure Diskretion."
Saltzbrandt blickte einmal kurz von seiner Pistole auf, bevor er diese rumpelnd auf dem Tisch ablegte. Vorsichtig zog er eine zweite Pulverwaffe aus einem Brustholster. Mit denselben einstudierten Routinen begann er eine ebenso intensive Reinigung der nächsten Pistole, während er endlich die Stimme erhob.
"Es war durchaus naiv von euch zu glauben, dass mir etwas nicht auffällt. Diese Unbekannten Lande beherbergen Geheimnisse unglaublichen Ausmaßes. Aber die Seelen, die wir dorthin schicken, um sie für uns zu lüften leider auch. Sie sind gebrochen, ungeeignet oder völlig wahnsinnig. Und dann gibt es da noch ein paar glänzende Perlen. Und diese haben sich für ein paar Jahre ausgerechnet unter einem Bonnington gesammelt."
Ich konnte eine gewisse Abscheu in seiner Stimme wahrnehmen, ein fast unmerkliches Zischen entglitt ihm. Dann hob er seinen eisigen Blick und starrte mich einen Bruchteil einer Sekunde vernichtend an.
Der Mortum-Bruder setzte Saltzbrandts Einwurf fort. "Wir haben euch immer im Auge behalten. Stets geschaut, was ihr gerade wieder treibt und welche Kämpfe ihr ausfechten müsst. Vieles davon mag euch belanglos erscheinen, aber nur so ergab sich das große Bild. Wir kennen euch. Vielleicht besser, als ihr euch selbst kennt. Gerade bei euch können wir uns sicher sein. Ihr seid wunderbar geeignet, Amélie da Broussard. Ihr versteht, was auf dem Spiel steht. Ihr könnt Entscheidungen fällen und mit den Konsequenzen leben. Ihr habt gelernt die Wahl zu treffen, sei es in der größten Not oder wohlüberlegt. Und dann ist da diese ausgesprochene Loyalität, die selbst Folter und den eigenen Tod übersteigt. Ihr habt es bewiesen, werte Streiterin des Sôlerben. Ihr habt es wirklich bewiesen. Und gerade deswegen bauen wir auf euch. Ihr werdet sicherlich nicht glücklich werden."
Ein so unfassbar falsches und gelogenes Lächeln seiner innigsten Zufriedenheit stellte sich auf dem Gesicht des Mortum-Bruders ein. Ich ballte meine Fäuste, biss meine Kiefer aufeinander und war drauf und dran ihm meine ausgeholte Faust in sein widerwärtig aalglattes Gesicht zu hauen.
Aber ich konnte nicht.
Ich konnte und konnte und konnte nicht.
Es wäre einfach nur unfassbar dumm gewesen. Ich bin ein Narr. Ich bin eine Heuchlerin. Aber .. mir liegt zu viel am Leben, auch wenn ich manchmal anderes denke.
Ich kann und werde nicht umdrehen; da hat er leider absolut recht.
Saltzbrandt räusperte sich, der Spion des Renbold verstummte sofort.
"Ihr werdet nicht glücklich werden. Ich bezweifle, dass ihr am Ende als Sieger hervorgeht, wo auch immer euer Ende liegen mag. Aber ihr wisst selbst, dass wir Figuren in einem Spiel sind, dass diese Welt schon längst übersteigt. Zu lange lasse ich mir Berichte über euch kommen, zu oft musste ich mir auch von ihm etwas über die Neu Corethoner anhören."
Saltzbrandt streckte seinen Arm aus und zeigte mit erhobenem Finger an die Rückwand des Raumes. Direkt zu den Gemächern des Sir Walter Ripel.
"Ihr habt euch einen Ruf erarbeitet. Ihr tragt nicht besonders viel Glanz, eine außerordentliche Würde oder einen Schwall an Orden. Aber gerade das macht euch so nützlich. Hört einfach zu und entscheidet euch. Ich muss euch nicht mitteilen, was ich mit euch anstelle, wenn ihr ablehnt. Doch wäre es sicher ein Beitrag zur Forschung herauszufinden, ob euer Blut auch den Flammen des Sôlerben trotzt. Oder vor allem – wie lange."
Saltzbrandt tauchte das Tuch wieder in das Öl und begann mit dem vorsichtigen Polieren der zweiten Schusswaffe. Aus seiner Stimme klang gleichzeitig eine gewisse Faszination und Kühnheit, auf der anderen Seite ein ausgeprägtes Desinteresse. Viele Gerüchte stellen ihn als eiskalten Taktiker und Planer dar, dem selbst die Leichen seiner eigenen Gefolgschaft völlig egal sind. Aber er ist so viel mehr als das. So viel kälter. So viel berechnender. So viel genialer.
Ich schluckte. Mein Blick glitt an ihm vorbei, prallte direkt gegen die hinter ihm an der Wand angebrachten Sonnenbanner Sôlerbens. Ich wollte wirklich nicht erleben, wie sich Verbrennen anfühlt. Aber anscheinend kann ich Entscheidungen treffen; nur war diese hier längst gefällt worden. Auch ohne mein Beisein oder Einverständnis.
Die sanfte Stimme des Mortum-Bruders erfüllte wieder den Raum. In der Hand hielt er eine ausgerollte Schriftrolle, deren oberes und unteres Ende mit einem hölzernen Endstück verbunden waren.
"Lasst mich noch einmal zusammenfassen, Ordensritterin des Sôlerben Amélie da Broussard. Ihr wurdet am 28.05.1317 im Königreich Patrien des Heiligen Sorridianischen Reiches geboren. Getauft in der Nonnenschaft Patria unter Deyn Cador, die euch euren Namen nach .."
Er stockte kurz, blickte mich einmal ungläubig an, um dann weiter vorzulesen.
"..nach eurem Vater benannten? In einer Nonnenschaft? Nunja, weiter im Text: Beitritt beim Orden des Heiligen Mikael zu Patrien in Kinderjahren, anschließend Ausbildung und Prüfungen. Der Sorridianische Bürger- und der Tasperinische Angriffskrieg von 1337 kamen. Ihr habt mittendrin versagt, erstes Blut gespürt und suchtet das Exil in den Unbekannten Landen. Nicht aus Strafe sondern eigenen Schuldgefühlen, bemerkenswert. Dann zeichnen sich eure Spuren des Wirkens immer irgendwo in der Nähe von Magie, Artefakten und den Bonningtons.
Würden wir eine Anklage gegen euch fertigen, müssten wir euch wegen Blasphemie, Anbetung Skrettjahs oder ihrer Dämonen, schwarzer Magie, Widerstand gegen die deyngewollte Ordnung und noch ein paar Dingen anklagen und auf der Stelle hinrichten. Bedenkt – das waren nur die kirchlichen Verbrechen. Von den anderen will ich gar nicht erst anfangen."
Ich blickte zögerlich zu ihm auf. Mir stand die Trauer ins Gesicht geschrieben. Ich rang nach Luft, während meine Sicht zu einem Tunnel verkam. Ich hätte mich am liebsten übergeben, wäre weggelaufen und irgendwo in die Wälder geflüchtet. Es gab aber keine Flucht. Es gab kein verdammtes Zurück. Es gab nur das Hier und Jetzt. Diese längst getroffene Entscheidung, die auf eine Wahl hinauslief: Sterben und alles wegwerfen oder leben und weiterkämpfen. Wer würde sich schon freiwillig für die erste Variante entscheiden?
"Was .. Was wollt ihr von mir, damit ich weitermachen kann? Wie lautet die Wahl, die ich treffen muss?"
Saltzbrandt legte einen einzelnen, versiegelten Brief auf den Tisch. Er schob ihn mir herüber. Das rote Wachssiegel trug seinen Stempel und schien bereits einige Wochen alt zu sein.
"Das hier. Akzeptiert den Inhalt und ihr werdet von allen Sünden gereinigt. Zumindest insoweit es mir möglich ist. Euren Verstand müsst ihr selbst erhalten, aber auch das werdet ihr schaffen."
Ich fing an zu zittern. Vorsichtig streckte ich meine Finger entgegen des Briefes aus. Angespannt zog ich ihn an mich heran und hob ihn mit wackeliger Hand hoch. Er roch nach kaltem Tabak und verbranntem Papier, vielleicht sogar Spuren von Schwarzpulver. Ich brach das rote Siegel knackend unter den strengen Blicken Saltzbrandts und des Mortum-Bruders auf. Im Inneren des Umschlags steckte ein schneeweißes Stück Papier, dass ich beinahe ehrfürchtig herauszog. Es sollte schließlich so etwas, wie meine Zukunft enthalten. Falls ich so etwas noch habe. Stück für Stück faltete ich das Papier auseinander und begann zu lesen.
Der Inhalt war lang, aber sauber geschrieben. Auf dem Briefpapier des Sôlaner Ordens von Zandig hatte sich Saltzbrandt höchstpersönlich alle Mühe gemacht einen möglichst einseitigen Befehl niederzuschreiben. Eine Wahl, die ich nicht ausschlagen konnte.
Anderswo bezeichnet man es als Erpressung, Bedrohung, Verbrechen.
Aber hier war es .. meine Zukunft.
Ich las die Zeilen zwei mal, bevor ich wiederholt schwer schluckte.
"Seid .. seid ihr euch sicher?" krächzte ich hervor.
Saltzbrandt begann zu Nicken. "Ihr habt ihm vorhin nicht zugehört. Außerdem gilt diese Frage selbst als Beleidigung gegen mich. Euch sei hiermit ausnahmsweise und einmalig vergeben. Ein weiteres Mal verbüßen wir in der Steinkammer. Ihr haltet ja ein paar Schläge mehr aus, als ein gewöhnlicher Ketzer aus dem Norden."
Nicht ein Zucken seiner Gesichtsmuskeln ließ seine Stimmung bei dieser bissigen und verachtenden Bemerkung erkennen. Als wäre es das Normalste auf dieser Welt, als würde er den ganzen Tag nichts anderes machen, warnte er mich vor langem, qualvollen Leid. Einmal.
"Ihr wisst, werte Amélie, über Saltzbrandt sagt man schließlich, dass er manchmal mehr weiß, als Sôlerben selbst." betonte der Mortum-Bruder.
"Gut. Einverstanden. Wie könnte ich es auch nicht sein?" entgegnete ich mit einem leichten Seufzer. Es war nicht das erste Mal, dass ich einen Pakt einging, dem ich nicht zustimmen wollte. Und weiß Deyn nicht das letzte Mal.
Mit einem Klicken ließ Saltzbrandt beide Pistolen in seinen Pistolentaschen verschwinden. Er erhob sich aus seinem großen Stuhl und durchbohrte mich mit seinem berechnenden schnurgeraden Blick. "Dann folgt mir. Zeit für eine Unterredung mit ihm."
Auf dem Mund des Mortum-Bruders zeichnete sich wieder ein finsteres Schmunzeln ab.
"Ihr wisst schon, dass sie auch.. "
Bevor er seinen Satz beenden kann, unterbrach ihn der Stellvertreter Sir Ripels mit scharfer Zunge. "Natürlich weiß ich das."
Eilig schritt er zur Tür und bat mich mit sich.
Gemeinsam traten wir aus seiner Kammer heraus und kamen in den merklich kühleren Gang. Am Treppenaufgang standen meine drei Begleitern und unterhielten sich. Sonnenoberst Bannler schaute zu mir herüber, ließ mich mit seinem tollkühnen Lächeln wissen, dass er verstanden hatte, welche Entscheidung ich getroffen hatte.
Und das hier würde meine kleine Belohnung für einen weiteren Teil meiner Seele sein. So wahr mir der allmächtige Deyn Cador beistehe.
Mein Blick galt danach voll und ganz der bernsteinbesetzten Tür des Sir Walter Ripel. Nur mit dem einzigen Unterschied, dass ich dieses Mal hineindurfte. Und mich niemand aufhalten konnte. Der Preis dafür war so hoch, dass ich vermutlich noch lange Zeit darüber nachdenken müsste. Er war so immens, dass er mein Leben für immer auf den Kopf stellte. Aber was an dieser Reise war nicht mindestens ebenso kostspielig? Ich ballte meine Hände zu Fäusten und folgte Victor Saltzbrandt. Hinein in das Schlafzimmer des wohl mächtigsten Kriegers ganz Leändriens, wenn nicht gar ganz Athalons.
Saltzbrandt steckte seine Hand in seine Hostentasche, zog einen gewaltigen Schlüsselbund heraus und hatte im ersten Versuch den richtigen Schlüssel griffbereit. Kratzend steckte er ihn in das Schloss, öffnete die Tür und drückte die Klinke herunter. Schwung-, wie bedeutungsvoll ließ er die Tür aufgehen. Dann trat er vor mir hinein.
Neben einem goldumrahmten Bett befanden sich lediglich eine große Lampe, ein Rüstungsständer, ein oppulenter Schrank sowie ein mächtiger Schreibtisch in dem viel zu groß geratenen Raum. Zwischen jedem Möbelstück mussten bestimmt 10 bis 15 Schritte gelegen haben, selbst wenn es für Ripel nur die Hälfte gewesen wäre.
Prägend waren jedoch nicht die zerschlissenen Banner an der Wand oder die vollkommen zekratzte und trotzdem noch strahlend weiße Rüstung Ripels. Auch nicht die zahlreichen ungeöffneten Briefe oder Papiere auf dem Schreibtisch, sondern einzig und allein die dicke Staubschicht, die über allem lag. Das einst glänzende Gold der dekadenten Möbel war längst verkommen. Lange hatte hier niemand mehr sauber gemacht. Noch viel länger hatte hier niemand mehr gelebt.
Das Zimmer war seit Jahren verlassen. So wie ich es vermutet und erwartet hatte. Ich konnte weder einen Ausdruck von Enttäuschung noch Überraschung über die Lippen bringen, schließlich wäre all das nur eine vorgeschobene Lüge gewesen. Ich wusste längst, was hier passiert war. Konrad von Ehrlichshausen hatte es mir auf unserer Abfahrt erzählt. Er war in Tränen ausgebrochen, als er nur darüber nachdachte. Dennoch vertraute er mir dieses Geheimnis an, dass die Welt erschüttern kann. Verzeiht mir, aber es wird die Welt erschüttern. Und deswegen halten wir es so geheim. Niemand darf davon erfahren. Niemals.
Insgeheim wissen wir aber alle, dass wir es irgendwann nicht mehr behüten können.
Saltzbrandt machte einige Schritte in das Zimmer hinein, stellte sich vor Sir Ripels Rüstung. Seine Schritte hinterließen deutlich sichtbare Fußspuren auf dem steinernen Untergrund. Er hob beide Hände an und legte sie auf die Brustplatte seines Anführers, seines Hochmeisters und nicht zuletzt auch seines Freundes.
Als er zu erzählen begann, glaubte ich einen leichten Bruch in seiner Stimme zu hören. Als würde etwas in ihm hochkommen, was er lange verschlossen gehalten hatte. Etwas, das nicht bestimmt war wieder herauszubrechen. Ihm gelang es auf wundersame Art und Weise eben dieses Gefühl wieder dahin zu verbannen, wo er es eingekerkert hatte. Aber auch er war ein Mensch. Nur ein Mensch mit all seinen Vor- und Nachteilen, Emotionen, Verbindungen und Geschichten.
"Mir ist es gelungen die Wahrheit über viele Jahre geheim zu halten. Nur ein paar Handvoll Sôlaner wissen, was mit ihm geschehen ist. Nur ein gutes Dutzend Außenstehende mussten über sein Schicksal erfahren, allein die Hälfte von ihnen sind Erzbischöfe."
Victor Saltzbrandt holte tief Luft. Er blickte gedankenverloren auf Ripels Rüstung und führte seine Erzählung weiter.
"Er kam nie zu spät, denn das war in seinen Augen ehrlos und feige. Ein scheinender Ritter für die gute Sache. So sah und sieht ihn die Welt auch noch heute. Aber an diesem einen Morgen kam er nicht. Es war so ungewöhnlich, dass ich selbst nach ihm gesehen habe. Ich hatte es eigentlich nicht für möglich gehalten, dass Sir Ripel zu einer Sitzung mit dem Erzbischof zu spät käme; und das ganz ohne Kreuzzug oder Krieg."
"Ich klopfte an seine Kammer an. Doch war außer Stille und einem gedankenverlorenen Husten nichts wahrzunehmen. Er hat noch nie verschlafen. In seinem ganzen Leben nicht. Ich .. zögerte. Aber dann sah ich nach. Ein Anblick, den ich bis heute nicht vergessen kann. Wäre ich doch früher gekommen. Oder schneller gewesen. Für nichts spüre ich Reue. Für rein gar nichts. Außer diese Momente des Zögerns."
"Er lag blutüberströmt in seinem Bett. Er wirkte, als wäre er in einem völligen Delirium. Ich ließ zwei Heiler und Diener kommen, die ihm die Rüstung abnahmen und nach seinen Wunden sahen. Sie kümmerten sich Tag und Nacht um ihn, aber .."
Er schüttelte sachte den Kopf, ließ ab von der Rüstung und wankte auf Ripels Schreibtisch zu. Zwei Schritte von dem majestätisch geschnitzten und mit Blattgold verzierten Fichtenstück entfernt, blieb er stehen.
"Natürlich habe ich mich um die Bediensteten gekümmert. Selbstverständlich habe ich das. In den Stunden nachdem ich ihn fand, hat er mir alles über euch und eure Geschicke erzählt. Und von einem völlig wirren Kampf gesprochen. Etwas, das nicht sein konnte und nicht sein durfte. Schließlich tranken wir am vorigen Abend noch gemeinsam etwas. Aber auf der anderen Seite fand ich ihn in diesem Zustand. Also muss es wahr sein. Es konnte nicht anders."
Saltzbrandt griff einen Brief und das Siegel von Sir Ripel, hob beides in die Luft und drehte sich wieder zu mir.
"Ich habe in seinem Namen weitergemacht. Ich führe diesen Orden schon so lange alleine an, ich dachte, dass ich ohne ihn zurecht käme. Aber Führung und Entscheidung ist nicht alles. Er ist unser leuchtendes Schwert da draußen. Er war an der Front und brachte die Hoffnung. Ein Sôlaner Orden ohne Sir Walter Ripel? Wer kann sich das in dieser Welt noch vorstellen, frage ich euch?"
Vorsichtig legte er beide Objekte wieder auf den Tisch, faltete die Hände ineinander. Er ließ seinen eiskalten, berechnenden Blick auf mir ruhen. Ich fühlte mich eingeschüchtert. Gleichzeitig wusste ich aber, dass ich mich weder entziehen konnte, noch durfte. Ich musste hierbleiben. Ihm zuhören.
"Sir Ripel, Walter, hat mir alles der Reihe nach erzählt. Geordnet nach Wichtigkeit. Nicht nur über euch, so wichtig seid ihr nun auch wieder nicht. Über all das geheime Wissen, das er über die Jahre gesammelt hat. Intrigen, Kriegspläne, chaotische Sagen und heldenhafte Mythen. Vieles davon sollte sich weitaus später als wichtig herausstellen. Als hätte er geahnt, dass es eines Tages passieren würde. Stets war er vorbereitet. Und doch ..."
Saltzbrandt zuckte mit den Schultern.
"Er hat mir nicht berichtet, was wirklich passiert ist. Ihr seid wohlmöglich die einzige Person, die mir eine ehrliche Antwort geben kann. Dies ist auch die einzige Bitte, die ich an euch habe und haben werde. Erzählt mir, was in dieser verhängnisvollen Nacht wirklich passiert ist."
Mit einem durchaus hoffnungsvollen Blick schritt er an mir vorbei. Er blieb am leuchtenden Fenster stehen, in dem der kreischende Phönix des Sôlerben eingearbeitet war und blickte hinaus auf die Spitze des heiligen Bergs Londanor.
Ich schaute ihm vorsichtig hinterher. Meine Arme verschränkte ich aus irgendeinem Grund vor der Brust. Dann fing ich an.
"Ich werde viele Teile zusammenfassen, die ihr mir ohnehin kaum glauben könnt. Ich halte mich an unsere Abmachung, werde euch also keine Lügen oder schlechten Ausreden vorsetzen. Wenn ihr mich als wahnsinnig, abgehoben oder dem Chaos verfallen anseht, werde ich dagegen nichts tun können. Dies ist aber die Wahrheit. Die verfluchte Wahrheit, die uns alle zerstört hat. Die uns eine Heimat genommen hat, in die wir nie wieder zurückkehren dürfen."
"In dieser Nacht fielen die Sterne auf die Welt hernieder. Das Chaos versuchte in das Himmelsreich einzudringen. Das Mannsweib bedrohte die bloße Existenz Deyn Cadors. Es kam zum Kampf der Giganten. Gott gegen Gott. Chaos gegen Ordnung. Licht gegen Dunkelheit.
Und wir ..
Und wir ..
Und wir versuchten das Chaos aufzuhalten."
Ich schüttelte den Kopf vor diesem puren Wahnsinn. Es war das, was noch in meinem Kopf hängen blieb. Lückenhafte Erinnerungen, Bruchstücke meiner Erlebnisse fügten sich aneinander, um im nächsten Moment wieder zu zerbrechen. Ich konnte nicht mehr sagen, was genau vor sich ging. Aber diese vage Erinnerung blieb mir. Sie blieb uns, nach all den Gesprächen darüber. Und hier musste ich sie irgendwie zusammenfügen.
"Wir waren nicht allein, als wir die Himmelspforte hinabstiegen. Unsere Wegbegleiter kehrten an unsere Seite zurück, während wir unsere größten Schrecken erneut erleben mussten. Das Chaos baute sie als Schild vor unserem Eindringen vor uns auf. Sie versuchten gleichzeitig Körper und Geist zu zerstören. Oft genug schafften sie es auch, wäre da nicht das ewige Schild Deyns gewesen. Ich .. hätte nicht gedacht, dass wir erfolgreich sein würden. Nie hätte ich es geglaubt."
Ich strich mir über die Arme. Mit jedem Wort wurde ich nervöser, konnte immer weniger glauben, was ich dort gerade von mir gab. Was ich erlebt haben sollte. Aber es waren nun mal meine Erinnerungen. Ich glaubte zu wissen, was passiert war. Dachte, dass ich dabeigewesen war. Es war reinster Wahn, in den ich versuchte einen Sinn zu bringen.
"Wir flehten um die Hilfe von Sir Ripel, als wir am schwächsten waren. Ohne ihn hätten wir diesen Kampf nicht lebend überstanden, gewiss nicht. Ein fünfzehn bis zwanzig Meter hoher Steingolem war unser Gegner. Angefertigt für die Ewigkeit und so beständig, wie manches Reich auf Athalon. Ich kann mich nicht mehr wirklich erinnern, weshalb wir genau dort waren. Aber .. er hat uns gedankenlos den Rücken freigehalten. Sich auf diesen einmaligen Kampf gefreut. Er zog sein Schwert und schwang es wieder und wieder gegen diese brutale Bestie des Chaos. Unablässig und unnachgiebig.
Selbst als ihn ein fataler Treffer, der jeden von uns in Einzelteile gesprengt hätte, in die Wand schleuderte, stand er wieder auf. Sein Körper war mit Blut überlaufen und seine Wunden sahen schlimmer aus, als manche zugerichtete Leiche. Und dann .. er schwang Hifumi ein letztes Mal. Und traf. Diese massive, abgrundtief böse Bestie, ging vor seinen Füßen zugrunde. Und wir konnten den Weg an Deyns Seite fortsetzen. Dank ihm."
Ich schnappte Luft, kämpfte mit den Tränen.
"Hätte ich nur ahnen können, was er wirklich erleiden musste. Gegen welchen Schrecken er kämpft und .. welches Schicksal ihn trotz seines Sieges erwarten würde, hätte .."
"Ihr konntet nichts tun."
Saltzbrandt unterbrach mich mit einer gestochen scharfen Aussprache. Fast, als würde er ein Schwert vor meine Nase halten, das nur aus Worten bestand.
"Ihr konntet nichts für ihn tun. Er hat diesen Kampf genossen. Sehr sogar. Aber ihr konntet nichts für ihn tun. Umso mehr müsst ihr eure Rolle nun wahrnehmen. Jeder bekommt seinen eigenen Zeitpunkt, sein eigenes Schicksal. Ihr. Und auch ich. Kommt her. Sprechen wir ein Gebet. Danach .. Genaueres."
Der Stellvertreter des Hochmeisters kniete sich vor dem Bett des eigentlichen Hochmeisters nieder. Ich trat an seine Seite und ging einen Schritt quer hinter ihm auf die Knie. Während er seine Hände zu einem festen Konstrukt zusammenlegte, umgriff ich mein altes, hölzernes Deynkreuz. Dann sprachen wir im Gleichtakt, wie von den Himmelswesen geleitet, Worte an unseren Herren, die wir nie wieder wiederholen würden.
So wir hier knien,
so wir hier liegen in Staub und Dreck,
so wahr wir hier uns Dir widmen,
erhöre unsere lauten Stimmen inmitten der Dunkelheit.
Wir sprechen zur Dir, Deyn Cador.
Damit Du uns das Geleit deiner Ordnung auferlegst.
Damit Du uns führst und leitest.
Damit Du uns niemals alleine lässt.
Wir sprechen zu Dir, Deyn Cador.
Damit Du diese treue Seele akzeptierst,
damit Du ihre Taten auch durch uns möglich machst,
damit Du sein Erbe fortsetzt.
So wir hier knien,
so erzittern wir in Ehrfrucht.
Wir werden getrieben von Trauer und Anerkennung,
von Angst und Hoffnung.
Lasse das Gute auf dieser Welt obsiegen,
denn nur so können wir Dein Reich fortführen.
Gebe uns die nötige Kraft,
um das Unvollendete zu vollenden,
den Unbeholfenen zu helfen,
die Führungslosen zu führen
und all den Heimatlosen eine Heimat zu geben.
So wir hier knien,
so wir hier liegen in Staub und Dreck,
so wahr wir hier uns Dir widmen,
erhöre unsere lauten Stimmen inmitten der Dunkelheit.
Wir sprechen zur Dir, Deyn Cador.
Damit Du uns das Geleit deiner Ordnung auferlegst.
Damit Du uns führst und leitest.
Damit Du uns niemals alleine lässt.
So lasse auch ihn niemals allein,
denn er war einer Deiner treusten Diener.
Nimm ihn auf in Dein herrliches Licht,
denn nichts wird jemals so sehr strahlen.
Amen.
Nach unserem Gebet in diesem staubigen Kämmerchen, blickte ich zu Victor Saltzbrandt herüber.
"Es ist wirklich das Schlimmste, was unserem Orden je passieren konnte. Der Tod von Sir Walter Ripel."
Er warf mir einen eiskalten Blick zurück.
"Das Schlimmste, was der ganzen Kurmark je passieren konnte. Und damit der gesamten Menschheit. Der siebte Eismond 1347, noch immer verfluche ich diesen Tag. Jede Nacht.
Setzen wir fort, was er begonnen hat. Kommt jetzt."
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"Nicer Cock, Schussi" - Christian, 06.12.2019
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20.01.2021, 09:37 AM
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 30.01.2021, 05:28 AM von Feuerfrosch.)
XXIV – Deyns Kinder
29.04.1352
Eigentlich hatte ich von Victor Saltzbrandt erwartet, dass er unablässig und ohne Pause seine Anliegen abarbeitet. Eiskalt und ohne auf sein Gegenüber zu achten. So, wie man es ihm eben immer nachsagt. So, wie es alle von ihm erwarten. Doch sprach er zu meiner Überraschung kein einziges Wort mehr, nachdem wir Sir Ripels Gemach verlassen hatten. Sorgfältig verschloss er wieder die Tür, ließ den Staub erneut Herr des vereinsamten Zimmers werden. Bis diese wahnwitzige Lüge des Ordens irgendwann gelüftet wird. Mit einer ausschwenkenden Handbewegung deutete er auf die Mitglieder der Sonnengarde, die mich grinsend in Empfang nahmen.
Besonders Oberst Bannler schien erfreut zu sein. Mit seiner kräftigen Hand versetzte er mir einen seichten Schlag auf die Schulter, umgriff die darauf lastende Metallplatte und blickte mir tief in die Augen.
"Ihr seid wirklich hässlich. Hat euch das schon mal jemand gesagt?"
"Ausreichend Menschen. Seid vielfach bedankt für eure ausufernde Freundlichkeit."
Ich setzte ein gespieltes Lächeln auf, zog die Mundwinkel bis ins äußerste Eck an und stieß seine Hand von mir.
"Ihr werdet mir immer sympathischer, lasst uns nach unten gehen. Ich zeige euch euer Quartier für die Nacht. Ihr reist Morgen ab, also ruht euch gut aus. Ich hole euch aus dem Zimmer, sobald Sir Saltzbrandt Zeit für euch hat. Danach tut ihr mir sicher noch einen kleinen Gefallen, bevor ihr wieder aufbrechen müsst."
Mit einem äußerst zuversichtlichen Blick wendete sich Bannler von mir ab und übernahm die Führung. Ich schritt leicht versetzt hinter ihm die Treppe hinab, während meine Begleiter den Schluss unseres illustren Trupps bildeten.
Machtlos zuckte ich mit den Schultern. Die steinernen Stufen fühlten sich endlos an, obgleich sie keine zwanzig Meter weit nach unten führten. Jeder einzelne Schritt nagte dennoch an mir. Wie eine schwere Last, aber diese trage ich schließlich nicht erst seit gestern mit mir herum. Sie wird nur von Tag zu Tag, Erlebnis zu Erlebnis, schwerer. Entlang der Statuen und Bildnisse schritten wir durch die erste Halle. Bannler machte am Anfang der zweiten Halle einen Schwenker nach rechts und öffnete kurz darauf bereits eine Seitentür. Mit ausgestrecktem Arm wies er mir den Weg hinein.
"Ein großes Gästezimmer für die sonnengeführte Dame, frisch bezogen und allzeit bewacht. Essen wird euch gebracht, sofern noch Bedarf ist." Er grinste wieder frech auf. Sein grauweißes Barthaar bewegte sich rhythmisch mit jedem gesprochenen Wort mit, aber bei seinem Grinsen waberte es wie eine Welle am Strand dahin.
"Falls ihr den Nachttopf leeren müsst, reißt das Fenster auf. Diese beiden strammen Sonnengardisten bleiben zu eurem Schutze vor der Tür."
Ich betrat den Raum. Hinter mir spürte ich, wie die Tür mit einem eiligen Windzug geschlossen wurde. Das dicke Holz fiel knarzend ins Schloss. Ein metallenes Klackern verriet, dass ich eingeschlossen wurde und hier erst einmal bleiben musste. Ohnehin erschöpft, und mitgenommen nach den Erlebnissen dieses verrückten Tages, konnte ich nicht einmal mehr dagegen ankämpfen. All die Strapazen, mein blutender und schmerzender Körper, der weiterhin an mir gebundene Fluch und dann diese folgenschwere "Entscheidung", sie alle prasselten auf einmal auf mich ein. Krachend ließ ich meine Rüstungsteile ungeordnet auf den Boden fallen. Mit dem Kopf voran stürzte ich beinahe fallend auf das Bett nieder. Wie ein Säugling zog ich mich entkräftet an den Laken nach oben, bis ich irgendwann meinen Kopf auf dem samtbezogenen Kissen liegenließ. Notdürftig zog ich noch irgendwie die Decke über meine Beine bevor ich in einen tiefen Schlaf verfiel.
Und dann saßen wir da. Einfach und seelenruhig. Neben uns knisterte ein kleines Feuer vor sich hin, das er hin und wieder mit einem abgebrochenen Stock anschürte. War es überhaupt ein Stock? Es hätte auch ein Metallstück oder verformtes Relikt der Vergangenheit sein können, ich erkannte es nicht wirklich. Die Flammen versperrten mir ohnehin einen Großteil der Sicht auf meinen alten Bekannten.
Wir waren von einer einnehmenden Dunkelheit umgegeben, und trotzdem bot das Feuer weder wirkliches Licht noch ausreichend Wärme. Er ruhte dort nur, mit einem mitleidigen, fast schon tröstenden, Gesichtsausdruck.
Franz ließ lange Stille walten. Nur die lodernde Flamme sorgte für wenige Töne in unseren Ohren. Ich hob meine Hände an und versuchte wenigstens ein wenig Nutzen aus dem Feuer zu ziehen. Trotz mehrerer Versuche in der Dunkelheit etwas zu erkennen, fand ich mich immer nur wieder in der raffgierigen Nacht wieder. Eine ausgeprägte, ungebändigte Schwärze. Sie verschlang jeden Willen aufzustehen und zu gehen. Sie umgriff uns, hielt uns an Ort und Stelle fest. Hielt vor allem ihn an Ort und Stelle fest.
Er musste hier schon lange sitzen. Trotzdem hat er noch den größten Teil seiner Pflicht zu erfüllen. Was auch immer das für eine grausame Pflicht sein muss, die ihm auferlegt worden ist. Eine, die er sich wohlmöglich nie gewünscht hat. Eine, die er nie haben wollte. Eine, die sein Leben auf den Kopf gestellt und beendet hat.
Irgendwann erhob er seine tiefe Stimme. Er durchbrach damit diese unangenehme Atmosphäre, die mir mit Leichtigkeit eine Gänsehaut auf den Körper legte. Franz Stimme war nicht getrieben von Emotionen oder Gefühlen, sondern bot einzig eine vertraute Ruhe. Sie erinnerte mich fast an das Gefühl, dass mich immer einnahm, als die Nonnen am Kinderbett für mich sangen. Vor langer Zeit nahm ich an, dass die Welt gut wäre. Nichts könnte das Licht Deyn Cadors stören und niemand wäre so naiv, dass er dagegen vorgehen würde. Es war eine behütete Kindheit, in der ich zwar nie Eltern oder familiäre Liebe erfahren durfte, aber trotzdem nicht unglücklich war.
Mann kann schließlich nichts vermissen, was man nicht kennt. Nicht wahr?
Ich fühlte mich an diesem Feuer sicher.
Dank ihm.
Wegen ihm.
Mit ihm.
Mit einem gezielten Stoß seines Stocks ließ er das Konstrukt aus Holzbalken zusammenbrechen. Funken aus Glut und Asche stiegen vor uns auf, erfüllten den schwarzen Himmel dieser tristen Welt.
"Hältst du für richtig, was du gerade tust?"
"Bist du stolz auf dein Handeln?"
"Nimmst du deine Rolle noch ein?"
Ich musste meinen Blick von ihm abwenden. Ich starrte mit zusammengebissenen Kiefern in die Tiefe der Flammen. Ja, ich halte für richtig, was ich tue. Aber ich bin absolut nicht stolz auf mich und meine Taten. Im Gegenteil. Ich verrate diese Welt und ihre Bewohner. Dafür, dass alles so bleibt, wie es ist. Mit welchem Ziel und Zweck? Machterhalt für diejenigen, die gerade unsere Ordnung aufrecht erhalten?
Ist das meine vorbestimmte Rolle? Dann halte ich sie ein. Was aber, wenn ich nicht dazu bestimmt bin. Wenn ich die Entscheidung nicht selbst treffen muss? Was, wenn jemand anders hier die Hebel am Ende richtig stellen muss?
Tja, Franz. Was sollte ich denn sagen? Warum sollte ich dich anlügen? Du hattest es als letztes Wesen auf dieser Welt verdient irgendetwas anderes, als die Wahrheit, aus meinem Mund zu erfahren. Nur deswegen bekamst du diese erbärmliche Antwort.
"Ja."
"Nein."
"Bin ich wirklich nur eine Puppe?"
Kein Wunder, dass du mich nur mit deinem gleichgültigen aber so unfassbar sanftmütigen Lächeln abstrafen konntest.
"Komm wieder, wenn du die richtigen Antworten gefunden hast."
Das Feuer wurde zu einer undurchdringlichen Wand zwischen uns. Selbst als ich aufsprang und herumlaufen oder gar hindurchspringen wollte, stellte sich die chaotische Glut vor uns auf. Sie ließ mich nicht zu dir hindurchdringen sondern zerriss uns.
Ich rang mit dem Atem, als ich wieder zu mir kam. Meine Beine lagen halb verdreht zwischen zwei dicken Wolldecken, mein Gesicht drückte noch immer auf das samtbezogene Stoffkissen. Mein Oberkörper fühlte sich kalt an, doch .. waren meine Hände aus irgendeinem Grund warm. Ich hoffte, dass mein Körper mir nur wieder einen seiner vielen Streiche spielte. Schon lange konnte ich mir nicht mehr selbst vertrauen, noch länger wusste ich nicht, was in mir wütete.
Mit beiden Händen strich ich mir sorgsam durch das wehleidige Gesicht. Nachdem ich es geschafft hatte die Augen zu öffnen und mich in Richtung des Fensters zu drehen, strahlte mir der hochstehende Mond ins Gesicht. Hinter der gläsernen Fassade der Tempelfeste schien es längst Nacht geworden zu sein. Der Mond war bereits über seinen Zenit hinausgewandert und kehrte langsam wieder hinter den Horizont zurück.
Im Raum selbst konnte ich nur dank des wenigen hellgedämpften Lichts dieser fernen Welt überhaupt etwas erkennen. Vorsichtig setzte ich mich auf, zog die Beine gerade und blickte an mir herunter. Meine Augen wanderten auf den steinernen Untergrund und ..
plötzlich überkam mich ein ungeheurer Ekel. Ein sich verdrehender Schmerz stach in meinen Magen. Ich spürte, wie alles in mir hochkam. Vornüber knallte ich mit den Armen zuerst auf dem Boden auf, während ich würgte und nach Luft rang. Krampfhaft zog ich einen letzten Atemzug durch die Nase ein, hoffte nicht meinen gesamten Mageninhalt auf dem Bodeninhalt verteilen zu müssen, während ich panisch mit einer Hand unter dem Bett nach dem Nachttopf suchte. Eine erster Schlag ging offensichtlich daneben, außer Leere und dem kalten Steinboden bekam ich nichts zu fassen. Währenddessen stieg mir mein Erbrochenes in den Mund. Ein widerwärtiger Geruch und abstoßender Geschmack betäubten meine Sinne. Mit einem verzweifelten Schlag nach unten krachte meine Hand auf Metall.
Der Nachttopf! Ich zog ihn nach vorn, bereits im Begriff mich umzudrehen und meinem rebellierenden Körper nachzugeben. Ich hatte auch gar keine andere Wahl mehr. Es war offenkundig keine gute Idee gewesen so gierig zuzulangen.
Ungefähr zwei Drittel meines gestrigen Mahls trafen den Nachttopf, der Rest verteilte sich wahlweise auf dem Boden und dem Bettlaken. Ein fürchterlicher Geruch erfüllte das Zimmer, vor dem ich mir sogar selbst die Nase zuhalten musste. Ich stürzte aus meiner kümmerlichen Position neben dem Bett an das Fenster, schlug die beiden Fensterläden auf und ließ die eiskalte, aber umso frischere Nachtluft in das Zimmer hineinströmen.
Danach zog ich ein paar einfache Laken aus dem Eckschrank, räumte hinter mir selbst auf und bezog das Bett neu. Ich seufzte leise auf, warf den Stapel mit verunreinigtem Stoff in eine Ecke und setzte mich an den Tisch. Diese Nacht hatte mir jeglichen Nerv geraubt, sie war es nicht wert, weiter im Bett verbracht zu werden. Ohnehin hätte ich mit diesem Geschmack auf der Zunge und dem letzten Rest des abscheulichen Geruchs in der Nase keine Ruhe mehr gefunden.
Stattdessen entzündete ich einige Kerzen mit einem Streichholz. Das rötliche Wachs hatte einen leicht süßlichen Geruch, den ich nur zu gerne einatmete. Ich holte mein Notizbuch hervor und begann zu schreiben. Die Erlebnisse der letzten Tage waren wichtig. Vor allem aber waren sie wegweisend. Ich wollte all die wichtigen Details niederfassen und ließ mir ausreichend Zeit. Irgendwann überkam mich der Frost der Nacht so sehr, dass ich mich zusammengekauert in zwei Decken hüllte, aber trotzdem weiterschrieb. Vielleicht würde irgendjemand eines Tages diese Niederschriften hier lesen und verstehen. Hoffentlich erklären sie, warum ich das tat, was ich tat. Warum ich mich so entschieden habe, wie ich es getan habe.
Oder aber sie würden mein Verhängnis werden. Ein Beweisstück, das meine Schuld unwiderruflich feststellt. Das mir jegliche Möglichkeit zur Argumentation nimmt und keines weiteren Zeugen bedarf. Unbestreitbar.
Was auch immer es sein möge, ich wollte es für die Nachwelt festhalten.
Denn Nichts ist ewig. Wir vergehen alle.
Und an diesem dunklen Tage des Endes, gehen wir besser mit reinem Gewissen.
Die Sonne hatte den Mond längst verdrängt, als es an meiner Tür klopfte. Ich verließ meinen kuschligen Platz auf dem Stuhl, striff die Decken ab und tauschte sie gegen Lederkleidung und Rüstung. Vor der Tür wartete Bannler bereits mit zwei neuen Sonnengardisten auf mich. Sie waren nicht ein Stückchen kleiner oder weniger bedrohlich als ihre Vorgänger. Eigentlich waren sie sogar einen halben Kopf größer. Beide zugleich.
Gemeinsam gingen wir zum Speisesaal hinab, wo ich mich mit einem Teller Haferbrei sowie einem kleinen Löffelchen Zucker begnügte. Während des Essens herrschte fast ausschließlich unangenehmes Schweigen am Tisch. Bannler informierte mich nur darüber, dass wir hiernach zu Saltzbrandts Arbeitszimmer zurückkehren würden. Dort hätte der wahre Hochmeister der Sôlaner schließlich noch "ein kleines Geschenk" für mich.
"Ach und.." ,setzte der grauhaarige Hüne fort, "bevor ihr abreist, können wir da noch einmal die Schwerter gegeneinander erheben?"
"Unter einer Bedingung." nuschelte ich während des Herunterschluckens meines Breis zu ihm herüber. Es war eine Unhöflichkeit, die ich sonst eigentlich vermied. Ihm gegenüber erschien es mir aber irgendwie nur gerecht.
"Einverstanden."
"Ihr wollt nicht erst wissen, was für eine Bedingung das sein soll?" Ich schob ihm einen vorsichtigen und abwartenden Blick zu, während der Holzlöffel bereits mit einer neuen Ladung Haferbrei in meinen Mund wanderte.
"Ich hoffe bereits seit einer Woche darauf, eine Bedingung wird mich nicht von meinem Wunsch abbringen." Sein Barthaar erhob sich wieder wellenmäßig, seine gelben Zähne blitzten unter dem Weiß des Gesichtshaares hervor.
"Mmmh." Ich grummelte ein wenig vor mich hin, schluckte dieses mal erst runter und stellte ihm dann meine Bedingung vor. "Falls ich euch zu Boden bringe, nennt ihr mich nie wieder hässlich. Sondern bezeichnet mit ausschließlich als wunderschöne Streiterin der Ordnung."
Ein höhnisches Lachen in ungeahnter Lautstärke drang von Bannler aus durch den gesamten Saal. "Einverstanden, einverstanden" grölte er. "Sehr einverstanden! Aber solange muss ich noch einmal sagen, dass mir schon viele unansehnliche Frauen untergekommen sind, aber ihr... ".
Der Rest ging zu seinem Glück in seinem eigenen hallenden Gelächter unter. Ohnehin wäre es zu schade um meinen Haferbrei gewesen, der sonst in seinem Gesicht gelandet wäre. Wobei ich durchaus gern seinen Gesichtsausdruck gesehen hätte.
Mir wurde es vergönnt in Ruhe meinen Teller leerzukratzen, bevor wir uns gemeinsam erhoben. Die Sôlaner brachten mich über den mittlerweile gefühlt zu vertrauten Weg wieder auf die lange, nach oben führende Treppe. Sie selbst warteten dieses Mal am unteren Ende. Ich strich mir meine unordentlichen Haare halbwegs beiseite, einen Teil steckte ich hinter die Ohren. Anschließend trat ich Stufe um Stufe hinauf, bis ich wieder am anderen Ende des Ganges mit seiner bernsteinbesetzten Tür stand. Die Türe zu Saltzbrands Arbeitszimmer stand einen zwei Hände breiten Spalt offen. Ich trat ein hoffentlich letztes Mal für diesen Aufenthalt an seine Türschwelle heran und hob die Hand zum Klopfen. Wieder gelang es mir nicht mich bemerkbar zu machen, bevor ich bemerkt wurde.
"Kommt endlich herein." entgegnete Saltzbrandt mit schnellen Worten, in einem ausgesprochen harschen Befehlston.
Ich schob die Tür auf, trat ein und schloss sie vorsichtig hinter mir. Mit einer respektvollen Verneigung begrüßte ich meinen Befehlsherrn. Dann nickte ich dem jungen Mortum-Bruder, der sich mit überschlagenen Beinen auf dem zweiten Stuhl am Fenster breit gemacht hatte, zu.
Satzbrandt deutete auf den Stuhl vor seinem breiten Schreibtisch.
"Setzen."
Bevor ich mich überhaupt niedergelassen hatte, begann er schon seine Anweisungen zu geben.
"Amélie da Broussard, ihr werdet hiermit beauftragt die Wahrheit über diese auftauchenden Gegenstände herauszufinden. Handelt im Sinne Deyn Cadors und Sôlerbens. Beschützt unsere Ordnung und fällt entsprechende Urteile, wenn die Notwendigkeit entstehen sollte."
Ich nickte vorsichtig. "Sehr wohl, Sir Saltzbrandt, sehr wohl."
"Wohin werdet ihr als nächstes aufbrechen? Wen werdet ihr noch aufsuchen?"
"Allzu viele Seelen gibt es da nicht mehr. Einerseits natürlich Franz Bruder, Werner Gerber. Wie ihr vielleicht wisst, ist dieser verschollen. Keiner weiß, wo er geblieben ist oder was er treibt. Und dann noch Buji Beg, ein .. Weggefährte aus Szemää. Vom Kreuzzug."
Saltzbrandt blickte zum Mortum-Bruder herüber. "Hattet ihr also wieder mal recht. Diese kleinen Tauschgeschäfte mit euch machen sich durchaus bezahlt, selbst wenn es dem hier nicht bedurft hätte."
Nach einem süffisanten Lächeln des Bruders, starrte Sir Saltzbrandt mich wieder mit seinem durchdringenden, berechnenden Blick an.
"Werner Gerber lassen wir bereits suchen. Dies gestaltet sich, offenkundig, ein wenig schwieriger. Dieser andere Mann soll sich im Süden Leändriens aufhalten, nicht wahr?"
Ich nickte. "Ja, vermutlich in Nostrien oder Sorridia, aller Wahrscheinlichkeit nach auf der Isla de la Riqueza."
"Ihr seid mit Bohemund de Corastella vertraut?"
"Wir kennen uns persönlich. Deutlich länger, als mir manchmal lieb wäre. Aber, ja."
"Nervt mich nicht mit unwichtigen Details. Hört zu."
Er griff unter den Tisch, zog eine Schublade auf und platzierte einen kleinen Stapel Briefe vor mir. "Da ihr ohnehin nach Süden müsst, werdet ihr diese Briefe für mich an ihr jeweiliges Ziel bringen. Sie sind streng vertraulich. Vernichtet sie, wenn die Gefahr der Offenbarung besteht. Der letzte Brief ist für de Corastella an der Jonquera. Er wird euch helfen diesen Buji Beg zu finden, dafür sorge ich. Und ihr vermutlich auch. Währenddessen lasse ich Werner Gerber auffinden. Im obersten Brief ist eine Liste mit Briefkontakten und Ablageorten, die ihr nutzen werdet. Offizielle Schreiben an mich gehen ausschließlich über die benannten Stellen und Personen. Vermeidet die Grenzlande, dort nisten sich gerade Haldaren ein, die wir bald erst ausräuchern werden. In Fallice machen sich derzeit allerlei Gruppierungen wichtig, die alle nur ein Ziel eint: Die Krone selbst in die Hand zu nehmen. Nutzt daher die Seeroute nach Patrien."
Ich stützte mich nach vorn, zog die sorgsam aufeinandergelegten Papiere zu mir und ging die Empfänger von oben nach unten durch. Das rötliche Wachssiegel auf fast jedem Brief war das von Sir Walter Ripel. Sir Saltzbrandt hatte also nicht gelogen – er machte offenkundig im Namen unseres Hochmeisters weiter. Nur zwei Briefe waren mit seinem eigenen Namen versehen. Auf dem obersten Brief war ich der Empfänger. Das darin enthaltene Papier gab die Namen und Anschriften einiger Kontakte und vertrauenswürdiger Personen bekannt. Der letzte Brief galt Bohemund de Corastella, dem Anführer des Ordens des Heiligen Mikael zu Patrien. Oder anders: Meiner alten Heimat.
"Zuletzt erhaltet ihr das hier." Saltzbrandt hob einen vergilbten Zettel hoch. Er schwenkte ihn ein wenig in der Luft umher, bevor er ihn mir anvertraute. Ich nahm ihn fest in beide Hände und begutachtete ihn sorgsam. Erst von einer Seite, als diese aber augenscheinlich leer war, auch von der Rückseite. Doch selbst dort war kein einziges Wort niedergeschrieben. Vorsichtig schielte ich zum Mortum-Bruder herüber, dessen verschwiegenes Lächeln einzig Victor Saltzbrandt galt. Dieser wiederum überreichte mir eine kleine, mit einem Korken versiegelte, Phiole. In ihr befand sich eine silbern glänzende Flüssigkeit.
"Gebt einige Tropfen an jedem Ort auf das Papier. Jeweils drei Finger tief und einen Finger breit versetzt pro Ziel. Ausgehend vom zweiten Knick. Ihr habt eine halbe Stunde zum Lesen, danach verschwindet die Schrift endgültig. Ausführen und berichten."
Er stützte sich mit seinen Ellenbogen auf den Tisch, baute die Hände zu einer Pyramide auf und starrte mich scharf an.
"Drei Finger tief, einen Finger breit. Dreißig Minuten." Ich nickte ihm widerwillig zu. Ich konnte schon ahnen, was sich hinter dieser geheimen Botschaft verbarg. Es würde mich nur noch tiefer in dieses Geflecht des Ordens hereinziehen. Untiefen, die ich lieber niemals ergründet hätte. Und doch sitze ich hier. Direkt vor dem ranghöchsten und wichtigsten Mann neben unserem Erzbischof. Wenn Victor Saltzbrandt wollte, hätte er aber sicher auch diesen einfach umgehen können.
"Gut. Dann werde ich euch vor eurer Abreise ein weiteres Mal belohnen."
Ein letztes Mal griff er in eine der tiefen Holzschubladen seines Schreibtisches. Mit einem lauten Klimpern nahm er einen prallgefüllten Lederbeutel hoch und warf mir diesen zu. Etwas überrascht schreckte ich nach vorne, ließ dabei beinahe die Briefe von meinem Schoß rutschen, konnte aber irgendwie noch alles unbeholfen bei mir halten. Die Briefe verstaute ich anschließend erst unter meiner Brustplatte, bevor ich mich dem Säckchen zuwendete. Es war aus einfachem Hasenleder gefertigt und mit einer plumpen Schnur zugeknotet. Dennoch spürte ich schon von außen, dass der Inhalt hart und schwer war.
Als ich die Schnur aufzog und der Inhalt darunter zum Vorschein kam, musste ich erst einmal fragend zu Saltzbrandt hochschauen. Er bekräftigte meinen Verdacht nur mit einem Nicken. Denn das, was ich zuerst aus diesem ansonsten bis zum Anschlag mit Gulden gefüllten Geldbeutel nahm, war nichts anderes als ein angeschmolzener Verdienstorden des Sôlaner Ordens.
Es war Franz Gerbers Verdienstorden.
Auf einer leicht verkohlten weißen Stoffbahn war ein vergoldetes, rundliches Medaillon mit abgeschürften und teilweise völlig entstellten Verzierungen abgebildet. In dessen Mitte prangte der güldene Phönix mit seinen ausgestreckten Flügeln. In vorsichtiger Handarbeit wurde jeder dieser Verdienstorden hier in Zandig angefertigt. Sie sind an sich gesehen schon ein Vermögen wert, meist werden sie durch ihren Träger behütet und gepflegt. Dieser hier aber war alt. Er war beschädigt und hatte seinen Glanz längst hinter sich gelassen. Das Feuer hatte an ihm genagt, den Stoff versenkt und das Metall verformt. Einzig die ursprüngliche Form ließ direkt erkennen, dass es ein Verdienstorden war.
Etwas, das man sich wirklich verdienen musste.
Etwas, das er sich wirklich verdient hatte.
Und nun war er hier. Einfach auf einem Stapel Münzen platziert. Als hätte Saltzbrandt es gewusst. Als hätte er es all die Jahre abgewartet, bis endlich jemand kommt und ihm dieses Rätsel lüftet.
"Erlaubt ihr mir eine Frage, Sir?" Ich nahm den Orden in beide Hände, umschloss ihn einen Augenblick lang. Ja, ich roch sogar daran. Versuchte irgendetwas zu erfahren. Fast ein wenig verzweifelt und ideenlos.
"Heute ist der einzige Tag an dem ich euch alle Fragen erlaube, Amélie da Broussard." Er hatte bereits wieder ein Papier aufgesetzt und schien nebenher zu schreiben. Selbst wenn er selbst sprach, formulierte er Zeile um Zeile mit der Feder in seiner linken Hand. Nur wenn ich meine Fragen stellte, pausierte er kurz. Er hörte zu, vergönnte sich dann jeweils eine kleine Pause und antwortete überlegt.
"Ab wann wusstet ihr es? Das mit dem verlorenen Tag?"
"Als unser Hochmeister, mein bester Freund, in meinen Armen im Sterben lag." Für einen Augenblick schaute er vom Papier auf. Sein eiskalter Blick galt nur mir. Doch lag in seinen tiefblauen Augen auch ein Hauch von Reue? Nein, es muss Trauer gewesen sein. Etwas, das nie verarbeitet werden konnte. Aber wer bin ich schon solcherlei zu beurteilen?
Ich öffnete meinen Mund, setzte eine neue Frage an. Nur um wieder zu verstummen. Wieder und wieder bekam ich nichts heraus. Was durfte ich mir hier erlauben? Welche Antwort wäre es überhaupt wert ausgesprochen zu werden? Saltzbrandt hat mir bereits so viel verraten. Immer wieder hat er allein mit seinen wenigen Gesten genug Hinweise auf seine Handlungen oder Beweggründe gegeben. Was würde es mir bringen, zu fragen, ob er an einen Sieg glaubt? Weshalb er das alles tut? Ich weiß es doch bereits. Er ist kein Zweifler. Er ist niemand, der nachgibt. Er ist ebenso niemand, der nachgeben könnte. Victor Saltzbrandt hat gelernt ein standhafter Führer zu sein, der die Position des Sôlerben bis zum bitteren Ende mitträgt. Mittragen muss. Ob sie ihm gefällt oder nicht.
"Was .. was waren seine letzten Worte? Die von Sir Ripel?"
Ich schluckte schwer, aber .. das wollte ich hier noch erfahren. Wenigstens das.
">>Pass auf sie auf. Beschütze sie, Victor. Lass sie nicht allein.<<
Er ging mit einem zufriedenen Lächeln von dieser Welt. Er wusste, was ihn an Deyn Cadors Seite erwartet. Er wartet auf uns. Die Hallen des Gleißenden Lichts sind sein neues Zuhause. Ein begehrenswerter Ort, den wir in jedem Fall beschützen müssen. Denn er wollte nicht nur, dass wir alle Sôlaner schützen. Nicht einmal alle Gläubigen, nein, es ging ihm um Deyns Welt. Die in dieses wunderschöne hellweiße und unschuldige Licht getauchte Welt Deyn Cadors in seiner steten Bedrohung vor dem Chaos."
Saltzbrandt seufzte einmal leise aus. Anschließend blickte er zu mir hoch.
"Geht nun. Bannler bringt euch hinab."
Ich erhob mich aus dem tiefen Stuhl, verneigte mich vorsichtig vor unserem Hochmeister und verließ das Zimmer. Ich war gerade im Begriff zur Treppe ins Untergeschoss zurückzukehren, als die Tür hinter mir noch einmal aufging. Der Mortum-Bruder kam lächelnd hinausgetreten. "Auf ein Wort? Seid so gnädig."
Er brauchte nicht lang, bis er mich eingeholt hatte und neben mir stehen blieb.
"Seid unbesorgt, keine Spielchen mehr. Zumindest für den Moment. Ich wollte euch nur noch eines wissen lassen." begann er mit ausufernden Handbewegungen zu erklären. "Eure anfänglichen Vermutungen über diese Kartographen mögen näher an der Wahrheit liegen, als ihr euch vorstellen mögt."
Ich ballte meine linke Hand zur Faust. Ich merkte die Anspannung in mir aufsteigen, doch konnte er in diesem Moment nichts dafür. Es war nicht einmal dieser nichts- und gleichzeitig vielsagende Hinweis. Es war eher, dass er längst vergangene Dinge wieder ausgrub. Informationen, die mir längst egal waren. Probleme, um die sich hoffentlich mittlerweile andere kümmerten.
Seit wann verlasse ich mich auf andere Menschen? Eigentlich verdränge ich doch nur, dass auch dies irgendwann wieder, eines Tages, mein Problem und meine Konsequenz sein wird. Und dafür kann ich nur um eins bitten: Deinen Beistand, Deyn Cador.
"Ich habe so ein Gefühl, dass mir die Kartographen noch eine Weile nicht in die Quere kommen werden."
"Irgendwann laufen alle Fäden wieder zusammen. Ich hoffe natürlich, dass ihr sie bis dahin in der Hand haltet." Mit einem sanften Stupser deutete er mir an, weiterzugehen. Gemeinsam schritten wir schweigend die Treppe herunter, wo Bannler und seine Gefolgschaft warteten.
"Nun denn, ich wünsche euch eine erfolgreiche Reise, werte Sôlanerin." Der Mortum-Bruder nickte mir mit seiner gespielten Freundlichkeit zu, verneigte sich gar ein wenig. Dann wandte er sich um, hob im Gehen die Hand und spazierte davon. "Bis zum nächsten Mal." sprach er in die ansonsten menschenleere Halle hinein.
"Dann lasst uns hinabfahren, mein Pferd holen und euren kleinen Übungskampf ausfechten, Oberst Bannler. Ich darf aufbrechen, nicht wahr?"
Wohlgesonnen erhob sich das Meer aus weißen Barthaaren vor meinen Augen. "Sehr wohl, sehr wohl! Mir nach!" Mit einem lautstarken Lachen setzte sich Bannler an die Spitze unseres kleinen Trupps. Ich folgte ihm wieder, den Schluss bildeten die zwei breitschultrigen Sonnengardisten. Wir liefen bestimmt eine Viertelstunde durch die steinernen Gemäuer mit ihren goldenen Kronleuchtern und Kerzenhaltern. Lichtdurchflutete Gänge, eingerahmt durch wunderbar farbliche Fenster, folgten auf große Hallen und Arbeitszimmer. Selbst eine weitere sorgsam ausgestattete Druckerei hatte man hier oben eingerichtet, offenbar aber weit nach der Errichtung der Londanor Tempelfeste. Die großen Arbeitsmaschinen und Walzen standen zum Teil auf dem Gang. Notdürftig wurden die Wände durchbrochen, damit man das Werkzeug in die Säle selbst bringen konnte, denn die Türen waren schlichtweg zu schmal.
Die steinernen Mauern wurden durch das immerwährende weiße Banner Sôlerbens geziert, dessen flammende Sonne nur manchmal durch den geschwungenen Phönix ersetzt wurde. Ich lief weitgehend uninteressiert hinter Bannler her. Dieser erzählte jedoch mit ausufernden Handgesten und immer wieder erklingendem Gelächter von seiner Vorfreude auf unser bevorstehendes Scharmützel. Dann verkündete er mir, dass er sich persönlich um mein Pferd gekümmert hätte. Yuki sei wirklich formidabel, ein wunderbar muskulöses Pferd, wenngleich nicht geeignet für die Kurmarker Kälte. In dieser Hinsicht waren ich und mein Pferd uns wohl recht ähnlich..
Irgendwann kamen wir endlich an einem der großen hölzernen Aufbauten an. Wie ein Balkon stand der Vorbau am Ende des großen Felsens mit dem Namen Londanor. Ein kalter Wind blies uns um die Nasen, während die Sonne hoch oben am Himmel auf uns herabschien. Bannler stemmte die kräftigen Hände an seine Hüften und wies den Wärtern an, dass sie den Aufzug bereitmachen mögen. Mit einem mechanischen Klirren sowie dem Springen einer Feder setzte sich das Konstrukt in Gang. Es sollte nicht lange dauern bis die Gegengewichte auf den Boden der Mauer gesunken waren. Im Austausch dafür kam eine mäßig beladene Plattform vor uns heraufgefahren. Mit einem metallenen Rumpeln rastete die Holzplattform ein und wurde freigegeben. Bannlers Sonnengardisten packten noch beim Austausch einiger Holzkisten mit an, bevor vier Sôlaner Ordensritter und mehrere Kisten den Rückweg in die Hauptstadt Kurmarks antraten.
Es musste mindestens eine ganze Woche vergangen sein. So viel Zeit musste ich dort oben verbracht haben, auch wenn es mir bedeutend weniger vorkam. Viel habe ich wohl bewusstlos in einer Zelle gehangen, oder vielleicht auch einen großen Teil vergessen und verdrängt. In Zandig war der Schnee mittlerweile völlig vergangen und durch das Zwitschern der Vögel ersetzt worden. Der Frühling stand vor der Tür; und mit ihm eine angenehmere Wärme. Zwar würde es noch eine ganze Weile dauern bis auch der nächtliche Frost gewichen war, aber am Tage trugen die Bewohner wieder kurzärmlige Kleidung ohne Daueraufenthalt an Feuerstellen. Was trotz dieser guten Nachricht viel wichtiger war: Ihr frohmutiges Lächeln schien weitgehend zurückgekehrt zu sein.
Mit meinem neugewonnenen Gefolge machte ich mich auf den Weg zu einer Kaserne des Ordens. Bannler wies zielstrebig den Weg, öffnete eine Seitentür und brachte uns auf einen sandbedeckten Innenhof. Umgeben von mehreren Zäunen und dahinterliegenden Gebäudemauern befand sich ein Übungsplatz. Drei zerschlissene Puppen und mehrere bemalte Heuballen bildeten Ziele für die Bogenschützen. Hinter diesen standen Holzschilder und -schwerter sowie mit Heubündeln umwickelte Kampfstäbe bereit.
Gewissenhaft traten wir jedoch direkt auf den Platz. Bannler ging einige Schritte weiter, bevor er sich umdrehte.
"Ihr wisst gar nicht, wie sehr ich mich hierüber freue! Den ganzen Winter über habe ich auf solch eine Gelegenheit gewartet. Hier ist sie!" Ein herzliches Lachen drang aus dem weißen Schleier seines Bartes.
Die beiden Sonnengardisten lehnten sich an die Holzzäune in meinem Rücken an. Bevor wir überhaupt unsere Waffen gezogen hatten, tuschelten sie kurz und einigten sich dann auf eine Wettsumme. Immerhin eine Gulde war den beiden Ordenskriegern die Aussicht auf diesen Zweikampf wert.
In fast schon alter Routine löste ich den Lederriemen meines Schildes. Ich schob mir den Tragegurt auf den linken Arm und umfasste den hölzernen Griff mit meiner ganzen Hand. Mit der rechten Hand zog ich meine vielleicht etwas in die Jahre gekommene, aber nicht minder gefährliche, Ordensklinge aus ihrer Scheide. Bannler bereitete sich unterdessen ebenfalls vor, indem er sein Schild vor sich schob. Frohmutig lachend nahm er einen glänzenden Anderthalbhänder in die rechte Pranke.
"So schlagen wir diesen Kampf, in alter Tradition für des Ordnung Willen.. "
".. um mit äußerstem Tapfer und glänzendem Mut die wahre Schlacht zu bestehen."
Er legte drei schnelle Schritte vor und stand ohne große Bedenken vor mir. Mit einem eleganten Ausholschwung krachte seine Klinge von der linken Seite heran. Ich schnappte einmal tief nach Luft, bevor es mir gelang mein Schild vor meinen Körper zu ziehen. Sein schwerer Schlag knallte klirrend auf meine sonnenbemalte Verteidigung. Die Wucht hinter seinem Angriff war ungeheuerlich. Sie schob mich fast eine ganze Fußlänge zurück, obwohl ich mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Mein Arm gab mir zu verstehen, dass er von dem schwerwiegenden Aufprall nicht gerade begeistert gewesen war.
Ich schnaufte einen Schwall Luft aus, bevor ich mit einem hohen Schlag von oben zu kontern versuchte. Meine Klinge glitt durch die Luft, wurde aber sogleich von seinem Schwert abgeblockt. Bannler hatte die Zähne aufeinandergepresst, soviel konnte ich dem übermäßig behaarten Gesicht im Bruchteil einer Sekunde ablesen. Viel lieber hätte ich mit einem weiteren Schwung nachgesetzt, doch musste ich zurücktreten. Trotz seines Alters schien der große Mann ein flinker Krieger zu sein. Mit einem rasanten Sternschritt gelang es ihm an meine rechte Flanke zu gelangen und auszuholen. Ich sah seinen Schlag kommen, wusste aber das ich mein Schild nicht mehr rechtzeitig nachziehen konnte.
Es wäre zu spät, wenn ich nicht .. wenn ich nicht mein Schwert senkte und mit meiner Armschiene die Wucht abfangen könnte.
Ich versuchte es. Ich presste meinen Unterarm an die flache Seite meiner Klinge, verkeilte dabei beinahe mein Schwert in meinem Schildgriff. Dennoch ging mein Plan auf. Bannlers Schwert knallte an meine Ordensklinge, ließ seinen Angriff jedoch ebenso schnell enden, wie er kam. Dieses Mal pulsierte mein Arm, allein von der ungeahnten Kraft, die hinter jedem seiner Angriffe steckte. Ich hatte ihn wirklich ein wenig unterschätzt, aber viel Taktik lag nicht hinter seiner Kampfeskunst. Er zermürbte seine Widersacher nur mit seiner Kraft und Schnelligkeit. Oftmals muss das schon gereicht haben, aber an diesem Punkt unterschätzte er mich.
Nachdem Bannlers Angriff verklungen war, stellte ich mich wieder gerade hin. Ich hob mein Schild nach vorn und hielt mein Schwert angewinkelt an meiner rechten Körperhälfte.
Bannler spottete mir aus einiger Entfernung zu. "Na, tat das etwa schon weh?"
Leider nicht einmal annähernd, um mein Blut in Wallung zu bringen. Nicht einmal ausreichend um all die verborgenen Kräfte in mir zu wecken, werter Sonnenoberst. Dies wäre aber auch kein geeigneter Ort dafür.
Bannler nutzte meine kleine Pause aus, um mit seiner Klinge voran auf mich zuzustürmen. Trotz seiner dicken Plattenpanzer gelang es ihm bereits nach wenigen Meter einen stierähnlichen Ansturm aufzubauen. Seine Schritte polterten hintereinander auf dem trockenen Boden. Er wirbelte eine kleine Staubwolke hinter sich auf. Als er nur noch einen Schritt von mir entfernt war, stieß ich einen Schwall Luft aus. Mit einem seichten Sprung wich ich zur Seite aus. Im selben Augenblick schlug ich ihm bereits mit der Klinge hinterher. Ich hoffte seinen Rücken zu treffen, doch war er einfach .. zu schnell! Ich durchschnitt selbst in meinem aufgebauschten Eifer nur die Luft. Bannler war bereits eine ganze Körperlänge weitergekommen, als ich gedacht hatte.
Ich biss mir leicht die Unterlippe ein. Ich kann nicht abstreiten, dass ich etwas enttäuscht von mir war. Auf eine gewisse Art und Weise spornte mich aber genau dies auch mehr an. Nochmal wollte ich ihn nicht davonkommen lassen.
Oberst Bannler drehte sich da bereits wieder um. Dieses Mal ging er weitaus überlegter vor. Mit einigen schweren, aber gezielten Schritten ging er leicht kreisförmig um mich herum. Dann deutete er einen schwungvollen Angriff von unten an, nur um die Klinge im nächsten Moment zurückzuziehen und mit ihr einen angewinkelten Stich zu wagen. Dieses Mal wollte ich es ihm zeigen. Ich stemmte mein Schild gegen die innere Seite seines Schwertes. Damit gelang es mir eine kleine Öffnung zwischen seiner Schwerthand und seinem Schild aufzureißen. Mit Nachdruck hielt ich seinen Arm von seinem Körper weg, während ich mit meinem Schwert von unten die Lücke nutzte.
Eilig sauste meine Klinge über den Staub, glitt an seinem Schild vorbei. Ich achtete nicht mehr auf mein Ordensschwert, sondern nur auf Bannlers angespannten – und gleichzeitig freudigen – Gesichtsausdruck. Er lachte aus ganzem Herzen auf. Sein Lachen drang über den Platz, hallte an den Wänden und drang wieder zu uns zurück. Er hatte tatsächlich mit der dicken Metallplatte an seinem Unterarm meinen Schlag abgewehrt. Das Metall war ein Stück weit eingedrückt und .. ich erkannte, dass er blutete.
Ich hatte offenbar übertrieben.
Oder doch nicht?
"Weiter, weiter, weiter" lachte der bärtige Sonnenoberst. "Wir machen weiter, bis einer von uns zu Boden geht! Blut ist nur ein kleines Opfer eines guten Kampfes!" Mit einem beherzten Tritt gegen mein Schild stieß er mich zurück. Ich war für einen Augenblick so eingenommen von seinem Lachen, dass ich ihn nurmehr kopfschüttelnd beäugen konnte. Währenddessen schaute Bannler kurz auf seinen blutenden Unterarm hinab. Mit einem Nicken quittierte mir die Fortsetzung unseres Kampfes. "Weiter, ganz genau, weiter!"
Es wirkte fast, als hätte ihn mein Treffer beflügelt. Ihm jegliche Zurückhaltung genommen. Mit einem Schlag seines Schildes trat er nach vorne, ließ mich damit aber zurückweichen. Zwei schnelle Schläge seines Schwertes konnte ich halbwegs geschickt umgehen, nur um dann seinen Schild gegen meine Schwertklinge geschlagen zu bekommen. Bannler ließ es nicht dabei bleiben. Er hob seine Waffe immer wieder in die Luft. Jeder einzelne Hieb hatte eine heftige, aber mittlerweile erwartbare Kraft hinter sich. Jedes einzelne Mal musste ich mich dennoch hinter mein Schild stemmen, um nicht hinten übergeworfen zu werden. Bannler ließ seine Schläge auf mich einprasseln. Ich suchte zwar immer wieder nach Lücken oder einem Kontermanöver, doch offenbarte für deren Umsetzung keine Gelegenheit. Mein Atem wurde mit jedem Schlag schneller, mein Herz pochte mit jedem einzelnen Hieb seinerseits lauter auf. Ich biss mir auf die Unterlippe, suchte nach dem zehnten Angriff nach einem Fehltritt seiner Füße.
Und fand dabei etwas ganz anderes. Bannlers Attacken hatten alle eines gemeinsam. Sie waren ausschließlich über der Hüfte angesiedelt, es war kein tiefer Schlag dabei. Seine große Gestalt erlaubte es ihm vermutlich nicht tiefer zu kommen. Der Grund für seine Taktik konnte mir eigentlich egal sein, doch erlaubte sie eine wunderbare Finte. Ich hob meinen Schild auf Kopfhöhe. Der Hüne knallte mit seiner gesamten Kraft alles, was in ihm steckte, gegen meine Waffe. Schlag um Schlag, Hieb um Hieb prallte gegen mein mittlerweile recht demoliertes Holzschild. Die ersten Bretter gaben unter seinem gewaltigen Gehämmer nach, aber das konnte mir bei meiner wahnwitzigen Idee wirklich egal sein.
Als er seinen nächsten Hieb ansetzte, schleuderte ich ihm mein Schild gegen sein Gesicht. Bannler zog vor dem anfliegenden hölzernen Geschoss den Kopf ein. Trotzdem holte er dabei tief aus, um es mit einem schwungvollen Hieb der Rückhand aus seiner Sichtbahn zu befördern. Krachend zersplitterten die Überreste meines Schildes an irgendeiner Hauswand. Es hatte mir treue Dienste geleistet, aber hier war sein verdientes Ende.
Auf allen Vieren sprang ich auf Bannlers Beine zu. Mit beiden Händen umgriff ich die Knie des breiten Sonnengardisten. Ich musste seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, um zu wissen, dass er überrascht war. Mit meinem ganzen Gewicht umgriff ich seine Beine, drückte gleichzeitig mit meiner leeren Hand und einem Schwertknauf in seine Kniekehlen.
Fluchend ging Bannler rückwärts zu Boden. Mit einem lauten Krachen kam er auf dem staubigen Untergrund auf. Dann musste er zum krönenden Abschluss die Spitze meiner Klinge vor seinem Gesicht erblicken, während ich noch immer halb auf dem großen Mann lag. Ich hatte ihn zu Fall gebracht. Gewonnen.
Er stöhnte. Dann seufzte er. Sonnenoberst Bannler ließ sein Schwert aus der Hand fallen. Wütend schlug er aus, ließ seine mittlerweile blutüberlaufene Faust mehrfach auf dem Boden aufkommen. "Verflucht noch eins. Ihr habt gewonnen. Großartig."
Langsam schüttelte er den Kopf, rieb sein Haupt im Dreck umher. Und dann begann er zu lachen. Lauthals zu lachen. "Ihr habt wirklich gewonnen. Gegen mich gewonnen! Und ich blute sogar! Was für ein Kampf!"
Die anderen beiden Ordensmitglieder kamen daraufhin zu uns herangetrottet. Zuvor hatte natürlich der Wetteinsatz ordnungsgemäß seinen Besitzer gewechselt. Sie knieten sich neben uns beiden nieder, halfen Bannler auf und nahmen ihm die Armschiene ab. Notdürftig versorgten sie die Schnittwunde und reichten mir eines ihrer großen Rundschilder als Ersatz.
Bannler grinste mich durchgehend durch seinen dichten Rauschebart an.
"So dann, wunderschöne Streiterin der Ordnung. Wunderschöne Streiterin der Ordnung, euer Pferd ist eingedeckt am Wachposten am Südtor. Ich würde euch gern begleiten, aber ihr habt mich ziemlich zugerichtet, wunderschöne Streiterin der Ordnung. Deswegen müsst ihr den Weg alleine nehmen. Wir sehen uns bei unserem nächsten Treffen, wunderschöne Streiterin der Ordnung."
Worauf habe ich mich da nur eingelassen? Wenn ich es recht überdenke war es mir sogar ganz lieb, als hässlich bezeichnet zu werden. Besser als solch einen wunderbaren Titel in jedem Satz unseres Gespräches hören zu müssen.
Ich stieß Bannler einmal gegen die linke Schulter, nickte danach den beiden Gardisten zu.
"Bis zu unserer nächsten Begegnung. Wenn wir uns wiedersehen, könnt ihr es gern noch einmal versuchen. Vielleicht .. hört ihr aber in der Zwischenzeit auf Sir Ripel derart nachzuahmen?"
Bannler grinste und lachte nur wieder höhnisch auf.
Leicht winkend entfernte ich mich von den Dreien. Mit meinem neugewonnenen silberspiegelnden Rundschild durchschritt ich ein letztes Mal die Straßen und Gassen Zandigs. Man spürte die Wärme, die langsam wieder in diesen Ort einkehrte. Die Menschen wirkten zugleich irgendwie zugänglicher.
Bevor ich zu Yuki ging, wollte ich noch ein kurzes Gebet sprechen. Und ich hatte noch eine Schuld zu begleichen. Ich mag hin und wieder mein Wort nicht halten, aber wenigstens ein wenig Aufrichtigkeit außerhalb der Reihen des Ordens wollte ich mir bewahren. Es mag nur Fassade oder ein trauriger Versuch sein. Doch selbst wenn, will ich ihn mir nicht nehmen lassen.
Ich kehrte in die Schmiede ein, in der ich vor über einer Woche Hannahs Vater kennengelernt hatte. Das junge Mädchen mit dem ich ein wenig Zeit am See verbracht hatte, brachte mich hierhin. Ihr Vater gab mir den nützlichen Tipp, dass ich es an den südlichen Aufzügen versuchen solle. Und tatsächlich, dort hatte ich Erfolg. Ob es Glück war oder Deyn Cador und mein vorbestimmtes Schicksal seine Finger im Spiel hatten, vermag ich auch heute nicht zu sagen. Was zählt ist, dass ich hineingekommen bin. Und es lebend wieder herausgeschafft habe. Beladen mit einem neuen Pakt; oder vielmehr einem Befehl von ganz oben, der mich eines Tages nach ganz unten führen wird.
Bevor ich überhaupt das kleine Haus sehen konnte, hörte ich die Hammerschläge auf dem glühenden Eisen. Ihr Vater schien gerade ein neues Stück Metall zu einem Werkzeug zu formen, als ich in die kleine Schmiede eintrat.
Mit einem unerwarteten Blick schaute mich der kahle Schmied in seiner Lederschürze an. "Seid ihr doch noch wiedergekommen? Hatte schon gedacht, dass ihr euch aus dem Staub gemacht habt, Schwester."
Ich lächelte ihm sanft zu. "Verzeiht, es .. hat alles ein wenig Zeit gekostet. Um meinen Teil unserer kleinen Abmachung zu erfüllen, kann ich euch soviel sagen: Sir Ripel wird die Nordfront nicht persönlich anführen. Mehr hat man mir leider nicht gesagt. Ich denke wir können uns auf beiderseitiges Schweigen hinsichtlich unserer Informationsquelle einigen? Hannah möchte ihren Vater sicher behalten. Und wir beide unsere Köpfe, mh?"
"Das könnt ihr laut sagen. Sehr interessant, heh. Meinen besten Dank, Schwester. Damit sind wir quitt."
Nachdem ich ihm noch einen Augenblick bei der Arbeit zugesehen hatte, verließ ich die Handwerksstätte wieder.
Nach meinem Wiedersehen mit dem Schmied, wanderte ich einige Häuserblocks weiter zu einer heruntergekommenen Kirche. Die hölzernen Bänke waren noch immer so abgesplittert, wie bei meinem letzten Besuch. Der Altar aus goldenen Stäben und Ketten hatte nur ein wenig an Staub hinzugewonnen. Ansonsten lag er ruhig und unbekümmert vor mir.
Ich setzte mich auf einen der abgewetzten Plätze der vordersten Bänke. Gewissenhaft umgriff ich mit den Händen das Holzkreuz, senkte meinen Kopf und sprach ein paar Verse vor mich hin.
Ich danke dir, Deyn Cador, du ewiger Herr über Ordnung und Gerechtigkeit.
Ich danke dir, dass du mich nie aufgegeben hast.
Ich danke dir für all deinen Beistand und den Mut, den du mir schenkst.
Ich danke dir für mein Leben, meine Fertigkeiten und meinen einzigartigen Weg.
Ich danke dir, dass ich dir dienen darf.
Ich danke dir, Deyn Cador, du ewiger Herr über Ordnung und Gerechtigkeit.
Amen.
Nach meinen Worten zu Deyn Cador erhob ich mich wieder aus meiner niedergelassenen Position. Ich sah noch ein letztes Mal zu diesem wundersamen Altar mit seinen goldüberzogenen Streben und dichten Ketten. Vielleicht war es ein Gleichnis sonder gleichen. Teile unseres Glaubens müssen wir vielleicht zum Schutz aller verschlossen halten, selbst wenn manche durch diese Ketten hindurchblicken können. Vermutlich interpretiere ich nur wieder zu viel in Dinge hinein, die gar nicht da sind. Ich kann es mir aber nicht verdenken, dass ich die erste bin, die solch eine Eingebung hat. Mit Sicherheit werde ich aber nicht das letzte Geschöpf Deyn Cadors mit solchen Gedanken sein.
Ich trat durch den leicht geöffneten Türspalt wieder in die Zandiger Innenstadt. Der Frühling stand bevor, und das war gut so. Es würde mir die Reisen über lange Zeiten erleichtern. Vielleicht würde ich im Sommer die Südgrenze Tasperins erreichen und dann irgendwie nach Patrien übersetzen können. Es war lang her, dass ich in meiner alten Heimat war. Gewissermaßen freue ich mich auf die Rückkehr, selbst wenn sie mit großem Schmerz verbunden sein wird.
Für den Moment war ich aber umso glücklicher, als ich Yuki mit mehreren Wachen am Tor sah. Bereits aus einiger Entfernung erkannte mich mein geliebtes Streitross. Er versuchte einige Schritte zu gehen, wurde aber von den Wachen an den Zügeln festgehalten. Ich beschleunigte mein Gangtempo dafür umso mehr, um noch schneller bei ihm zu sein. Er erhielt ausgiebige Streicheleinheiten an Kopf und Nase. Sein frohes Wiehern verriet, dass es ihm auch während meiner Abwesenheit einigermaßen gut ging. Ich strich ihm über das gescheckte Fell, rieb ihm an der Mähne entlang und gab ihm einen sanften Klapps auf den Hintern.
Auf Yukis Rücken war ein neuer Sattel mit vier großen Ledertaschen aufgesetzt worden,. In den Taschen befanden sich Vorräte in Form von Trockenfleisch und Zwieback, sowie meine Hängematte und ein paar Decken. Auch an Verpflegung für mein Pferd war gedacht worden, sodass ich wohl keine Zeit mehr mit einem Einkaufen verschwenden brauchte. Das muss zumindest der Gedanke Victor Saltzbrandts gewesen sein. Er war nun einmal effizient. Fast schon ungemütlich effizient, aber wie könnte man es diesem Mann in seiner Position verübeln?
Ich nahm den Wachen die Zügel ab und verabschiedete mich freundlich. Erst dann zog ich die Briefe unter meiner Rüstplatte hervor und las mir die Ziele der kommenden Wochen und Monate durch. Meine erste Aufgabe im Dienste Victor Saltzbrandts würde mich entlang des Zandiger Ostwalls führen, bevor ich diesem Richtung Osten folgen durfte. Hinter Solfurt würde ich Konikbergn finden und bald darauf, im entlegensten Winkel der Kurmark, den Sternbruch.
Jene Heilige Stätte der Heiligen Domenica in der einst ein Himmelskörper niedergegangen war. Bis heute ist ungeklärt, was dort in den geweihten Boden des Erzbistums eingeschlagen war. Unzählige Forscher machen sich noch heute an dem braun-grauen Gestein zu schaffen. Doch soll es niemandem gelungen sein überhaupt nur ein Stück von ihm abzubrechen.
Die Gesamtheit an Wissenschaftlern, Gelehrten und Forschern wird vom Sôlaner Orden überwacht. Einige Dutzend Mitglieder der Heiligen Domenica wandeln ebenfalls um den Sternbruch. Einer von ihnen würde Empfänger meines Briefes sein, ein gewisser Silventrumer namens Thomas Lunasteer.
Ich stieg auf Yukis breiten Rücken, nahm die Zügel in beide Hände und warf einen letzten Blick auf diese so wunderschöne und gleichsam abstoßende Hauptstadt Kurmarks – Zandig. Ich sagte ihr im Stillen auf Wiedersehen, denn es würde hoffentlich nicht das letzte Mal sein. Ich war gezwungen irgendwann zurückzukehren, wenn mir denn meine Bestimmung das Leben überließ. Doch alleine dafür musste ich jede Nacht beten und betteln.
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"Nicer Cock, Schussi" - Christian, 06.12.2019
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30.01.2021, 03:27 AM
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 30.01.2021, 03:28 AM von Feuerfrosch.)
XXV – Sternbruch
21.05.1352
Die Luft war erfüllt von frischem Grün. Blühende Tannen und weidende Tiere zierten die Wegesränder entlang des vor wenigen Wochen noch so kalten Weges. Die Kurmark hatte den Winter hinter sich gelassen. Der Schnee war endlich geschmolzen und durch Pflanzen, Tiere und Menschen ersetzt worden, die offenbar nur darauf gewartet hatten, endlich wieder selbst entscheiden zu können, ob sie ihren Unterschlupf in sicherer Wärme verlassen können. Das Land wirkte deutlich lebhafter auf mich. Es schien fröhlicher und damit auch frommer. Die Gastfreundschaft der Kurmarker gegenüber einer Anhängerin des Sôlerben blieb zu meinem Vorteile anhaltend bestehen. Ich hatte nur keinen Grund mehr mich in einem halben Dutzend Decken vor den Tücken des Winters zu verhüllen, ja ich konnte mich nur noch gewärmt durch ein Feuer auf Stroh betten.
Die Reise war auch durch den großen Münzsack, den mir Sir Saltzbrandt zugeworfen hatte, erträglicher geworden. Ich musste nicht mehr länger darauf achten, was ich wo erwarb. Ich nahm einfach die Münzen und verteilte sie großzügig, wann immer eine Notwendigkeit entstand. In der Kurmark hielt sich dies glücklicherweise in Grenzen, zumal ich mit der Strecke gen Süden bereits vertraut war. Ich trieb Yuki an, halbwegs schnell durch die Dörfer und Ortschaften zu ziehen.
Schon nach fünf Tagen durchgängigen Ritts konnten wir die letzten Gipfel des Zandiger Ostwalls in der Ferne erkennen. Ich entschied mich gegen den engen, aber mittlerweile als sicher geltenden Weg durch das Gebirge. Er hätte mir sicher ein paar Tage, wenn nicht eine halbe Woche, Reisezeit erspart. Aber der ständige Marsch im Fackelschein entlang enger Felsspitzen war es mir nicht wert. Irgendwie ließ allein der Gedanke an die beklemmende Dunkelheit ein flaues Gefühl in meinem Magen aufsteigen.
Außerdem gab es hier draußen schließlich diese frische Luft, das Zwitschern der Vögel und das Röhren der Hirsche. Dieses Mal nicht verdeckt von Eis und Schnee sondern gehüllt in saftiges Grün. Es waren Rufe der Zufriedenheit, vielleicht sogar Dankbarkeit. Nicht zuletzt konnte mein großer Zweibacher auf diese Art jeden Tag frisches Futter zu sich nehmen, anstelle sich weiter von getrocknetem Heu oder meinen Resten ernähren zu müssen. Es war daher irgendwo auch ein Zugeständnis an Yuki.
Zumeist schwang ich mich bereits zum Sonnenaufgang auf seinen kräftigen Rücken, und stieg erst am Sonnenuntergang wieder ab. Die Nächte waren kurz, wir fielen schnell in einen flüchtigen, aber immerhin erholsamen, Schlaf. Hin und wieder quartierten wir uns in Schuppen oder Dörfern ein, meistens zog ich den Waldrand vor. In mancher dunkler Stunde ließ mich ein schauriges Wolfsgeheul aufschrecken, doch kamen sie nicht einmal an uns heran. Wir hatten unsere Ruhe, und darüber war ich mächtig froh.
Nach etwa zehn Tagen war der Zandiger Ostwall umquert. Die Wegweiser zeigten allesamt eine gerade Route nach Solfurt an. In jenen Stunden im Sattel traf ich vor allem eine Entscheidung – die kommenden Kapitel dieser Reise werden nicht in ihrer Gänze in diesem Buch Platz finden. In der Tat gingen mir langsam, aber sicher, die Seiten aus. Ich wollte sie für diejenigen Worte reservieren, die mehr Gewicht haben, als die raue Straße von Solfurt nach Konikbergn. Auch all die kleineren Treffen und Übernachtungen würden auf meinem langen Wege nur wertvolle Zeit im Sattel kosten, denn meine Schreiberei verschlang Stunde um Stunde. Wer auch immer dieser Buch eines Tages lesen mag, kann sich aber einer Sache sicher sein – die wichtigen Stellen und Entscheidungen werden niemals ausgelassen werden. Alles von Bedeutung auf dieser Reise wird seinen wohlverdienten Platz bekommen. Jedes Wort und jede Zeile werden nur mehr mit Bedacht abgewogen werden, damit auch das Ende dieses Prüfung festgehalten werden kann.
Ohnehin gab es nicht viel zu berichten, was ich in den Tagen und Wochen sah oder erlebte. Arbeiter scheuchten über die Felder, Händler brachten Saatgut und nahmen dafür allerlei übriggebliebene Güter des Winters wieder mit, Ordenstruppen sammelten sich in größeren Ortschaften, um gemeinsam an die Grenze zu verlegen. Victor Saltzbrandt hatte wirklich einen Hass auf die Haldaren; wer kann ihm das schon verübeln?
Es sollte mich insgesamt dreizehn Tage kosten bis ich in Solfurt ankam. Dabei war ich wohlgemerkt weitaus schneller und rittfester unterwegs, als viele Reisende. Die überwiegende Mehrheit wird drei, wenn nicht gar vier, Wochen für diese umfangreiche und wenig befestigte Strecke veranschlagen müssen.
Solfurt präsentierte sich als eine stark befestigte Kleinstadt am Rande der Kornebene. Jene fruchtbare und völlig zu Ackerland verkommene Landfläche im Südosten der Kurmark wird vom Frühjahr bis Spätherbst von den fleißigen Bauern und Landarbeitern bestellt, um möglichst eine reiche Ernte zu erbringen. Diese soll den Orden und seine Anhänger schließlich durch den harschen Winter bringen. So war es kein Wunder, dass die Böden bereits längst durchpflügt und mit Saatgut bestellt waren, als ich eintraf. Hinter den dicken Mauern Solfurts ließ ich Yuki eine ganze Nacht sowie einen ganzen Tag ruhen. Ich selbst suchte das örtliche Badehaus auf, von dem mir meine Brüder unter Konrad von Ehrlichshausen einmal berichtet hatten.
Sie hatten wahrlich nicht gelogen. Umrahmt von einem großen Säulenbogen wurden zwei große Eisenkessel immer weiter mit dem kostbaren Nadelholz gefüttert, damit insgesamt ein Dutzend große Wasserbecken allzeit warmblieben. Das Bad war ein echter Segen. Dank der bereitgestellten Salben und Öle konnten die geschundenen Körper der Krieger und Arbeiter sich für einige Stunden erholen. Ich band mir ein Handtuch um den Körper und ließ mich in eines der abgeschirmten Becken für die Frauen hinab. Das warme Wasser umspülte meinen Körper, wusch den Schmutz der letzten Wochen vom Leibe und ließ meine angespannten Muskeln entspannen.
Dank der freundlichen Hilfe einer örtlichen Bäuerin konnte ich sogar meine Haare gründlich waschen. Im Gegenzug half ich ihr natürlich ebenso. Für sie stellte dieser kleine Akt der Nächstenliebe gleich einen ausreichenden Anlass dar, mir von all ihre Sorgen und Nöten zu berichten. Wie etwa ihr Ehemann immer sehr betrunken heim aus der Taverne käme oder ihre Tochter noch immer keinen passenden Gatten gefunden habe. Sie sei ja immerhin bald zwanzig Jahre alt, und wenn sie in drei Jahren nicht verheiratet sei, gäbe es nur noch den Orden.
Außerhalb des Badehauses machte Solfurt einen eher tristen und vernachlässigten Eindruck. Nach dem Abzug mehrerer Ordenstruppen an die nördlich gelegene Grenze kümmerten sich nur noch Bruchstücke der zurückgebliebenen Ordensritter um die Instandhaltung der Stadt und ihrer Verteidigungsanlagen. In den Außenbezirken soll sich sogar eine Handvoll völlig verlassener und heruntergekommener Inquisitionstürme befinden. Obgleich eine Ansicht dieser durchaus verlockend war, schwang ich mich nach unserem Tag Rast wieder in den Sattel. Links der großen Straße lagen die bestellten Felder der Kornebene, rechts die weitläufigen Fichtenwälder. Über mehrere Tage änderte sich diese Ansicht nicht.
Nächtigen konnten Yuki und ich in einigen entlang der Kornebene errichteten Ställen und Lagerschuppen, sie wurden zumeist nicht abgeschlossen. Wer überhaupt wagte in der Kurmark zu stehlen, konnte hier nur einfaches Arbeitswerkzeug erbeuten. Viel eher ließ man diese einfachen Holzbauten sogar absichtlich offen stehen, um Schutz vor den nächtlichen Angriffen durch Bären und Wölfen zu bieten. Nicht einmal dem Erbfeind hätte man einen solch brutalen Tod vergönnt.
Ein paar Tage nachdem wir Solfurt verlassen hatten, kamen wir an der großen Weggabelung an. Ihre linke Abzweigung führt durch die Kornebene bis nach Konikbergn, die Rechte direkt an die weitläufige Grenze zu Tasperin. Angespornt durch unser auch sonst schnelles Vorankommen lenkte ich Yuki nach links, schlug noch einmal ordentlich in die Zügel und legte die Strecke bis Konikbergn in nur fünf Tagen zurück.
Die drittgrößte Stadt Kurmarks stellte sich als weitaus ansehnlicher heraus, als es Solfurt jemals vermocht hätte. An einem kleinen innerstädtischen See gelegen hatten sich mehrere Kaufmannshäuser die Stadt untereinander aufgeteilt. Unter der Aufsicht des Ordens konnten sie hier ihrem Handel freien Lauf lassen, sofern sie regelmäßig "Spenden" an die Sôlaner zahlten. Zu ihrem Vorteile saß der dafür installierte Ordensbruder genau in ihrem Zentrum. In einem Anbau der Konikbergner Kirche soll sich, zumindest dem Volksglauben manchen Einwohners nach, das Gold unzähliger Generationen sammeln. Vielleicht war das Haus Deyn Cadors mitunter deswegen so prächtig ausgestattet. Ein goldenes Doppelkreuz prangte auf gleich drei Stellen des Daches sowie des hohen Turmes. Eine mit silbernen Lettern versehene Turmuhr zeigte allgegenwärtig die Zeit. Alleine die komplizierte und wartungsanfällige Mechanik des Uhrwerks musste fünf Gelehrte erfordern, die sie allzeit in Schuss hielten.
Während meines kurzen Aufenthalts konnte ich mein leichtes Staunen nicht unterdrücken. Ich war durchaus beeindruckt von dem Trubel der Marktarbeiter und Händler, der Kutschen und Fuhrwerke. Im Norden der Stadt hatten sich sogar einige Schmiede angesiedelt, die Kriegswaffen für den Orden fertigten. Neben einigen Waffenschmieden hatte man es vollbracht einen Kanonengießer anzulocken, der erst vor wenigen Monaten seine Werkstatt eröffnet hatte. Victor Saltzbrandt hielt wohl nicht mehr viel von den alten Traditionen und Kampfkünsten. Die Überlegenheit einer Kanone im Belagerungskampf war ihm alles andere als fremd, und so wollte er wirklich nichts mehr dem Zufall überlassen.
Auch dies kann ihm wohl niemand verdenken.
Der Weg zum Sternbruch war durch eine wenig hergerichtete Straße geprägt. Sie muss vor einigen Jahrzehnten einmal mit großen Wegsteinen markiert worden sein, doch litten diese sichtlich unter dem Einfluss der vielen Winter. An manchen Stellen waren sie ganz verloren, als hätte sie die Schneeschmelze davongetrieben. Dennoch konnte man den Pfad einigermaßen erkennen. Die Spuren der Tiere und Karren hatten ihr Übriges getan, um diesen abgelegenen Ort auffindbar zu machen. Die Gelehrten und Ordensritter wollten in ihrem Lager schließlich redlich versorgt werden. Die Sôlaner kümmerten sich in diesem Belang ausgiebig um ihre Gäste. Schließlich galt es einen Ruf zu bewahren und endlich Ergebnisse zu präsentieren, selbst wenn diese seit Jahren ausstanden.
Ich kam am späten Nachmittag in dem größtenteils aus kleinen Holzhütten bestehenden Lager an. Nicht weit entfernt markierte ein großflächig abgezäuntes Areal mit dunkel versengtem Boden den Ort des Sternbruchs. Vor der Zeit der Herrschaft der Menschen in dieser Region soll irgendwann einmal ein Himmelswesen der Domenica an diesem Ort niedergangen sein. Angegriffen in den himmlischen Lüften setzte es sich seinem chaotischen Widersacher mehr oder minder erfolgreich zur Wehr. Getroffen von einem letzten Schlag mag es siegreich hervorgegangen sein, wusste jedoch um sein eigenes Ableben. Also verwandelte es sich in einen glänzenden, rundlichen Stein und ging auf Athalon nieder. Diese letzte, selbstlose Tat soll die Einwohner vor dem sicheren Flammentod bewahrt haben. Wie nobel, nicht wahr?
Der Sternbruch gilt daher heute als Symbol von Demut und Güte. Dennoch vermuten viele Sternenkundler, dass in Wahrheit weitaus mehr als die Erklärung der Anhänger Deyn Cadors dahinter steckt. Ich war mitnichten hier, um irgendetwas über dieses himmlische Objekt herauszufinden. Mein einziges Ziel war das Abliefern eines Briefes an einen gewissen Thomas Lunasteer, der sich hier um die Koordination der Anhänger der Domenica und Gelehrten kümmern sollte.
Sorgsam lenkte ich Yuki an die Siedlung heran. Vielleicht anderthalb Dutzend kleine Holzhütten mit Schornsteinen sowie einem großen Lagerschuppen hatte man hier errichtet, nicht einmal einen Stall gab es. Die Pferde wurden draußen angebunden. Im Winter muss dies eine echte Zumutung gewesen sein, mittlerweile war es aber glücklicherweise Frühling. Bevor ich überhaupt absteigen konnte, wurde ich schon von einigen Ordensrittern begrüßt. Sie fragten nach Kunde aus Zandig und Konikbergn und sie sollten sie, soweit es mir eben möglich war, bekommen. Viele von ihnen hatten den gesamten Winter über hier ausgeharrt und wollten nur wieder zurück in ihre Heimatstadt. Die Ablöse würde aber noch mindestens drei Wochen brauchen, sofern sie denn überhaupt kaum. Saltzbrandt versuchte wohl jeden Soldaten zum Feldzug zu bewegen, den er irgendwie in die Finger bekommen konnte.
Die Forscher würden sich gerade am Himmelskörper selbst aufhalten. Nach meiner Reise hatte ich keine wirkliche Muße mehr, mich noch an diesem Abend in den Krater hinabzuwagen. Daher beschloss ich mich mit den Sôlanern ans Feuer zu setzen. Gerade hatten sie einige neue Holzstücken aufgelegt. Zu meiner Freude hatten sich mehrere Hasen in die umliegenden Fallen verirrt, wodurch man auch mir bereitwillig zwei Hasenkeulen überließ. Nachdem ich Yuki angebunden hatte, setzte ich mich auf einem der Holzstümpfe nieder und lauschte den Gesprächen.
"Was versuchen unsere studierten Herrschaften heute Abend schon wieder da unten, am Stein?" fragte ein jüngerer, durchaus schlacksiger, Ordensritter.
Ein schnauzbärtiger Waffenbruder, der etwa in meinem Alter gewesen sein muss, stützte sich mit seinem Stück Hasen nach vorn. Erst nahm er einen großen Bissen des krossgebratenen Fleisches, bevor er mit einer langen Antwort begann.
"Die Fortsetzung einer Studie aus dem letzten Jahr, wie sie meinten. Offenbar haben sie verschiedene Flüssigkeiten auf die Kugel geschmiert und versucht irgendetwas zu bewirken. Besonders vor dem Winter haben sie allerlei Zeugs draufgetan, das sich bei Kälte verändern soll? Hat wohl was mit Einfrieren und Auftauen zu tun, weißt' schon, wie beim Bier. Bezweifle aber, dass es was gebracht hat. Selbst die Kanone vor drei Jahren hatte ja überhaupt keine Wirkung."
Er zuckte mit den Schultern.
Der junge Ordensbruder setzte seine Verwunderung fort. "Wozu versuchen sie überhaupt ein Stück abzubekommen; zum Transportieren, schon verstanden. Aber warum lassen wir sie eine Heilige Stätte beschädigen? Das hat mir immer noch keiner verraten!"
Der Waffenbruder zog seinen Schnauzbart in die Höhe. Er seufzte leicht und blickte seinen jüngeren Kameraden an. "Weißt du, Peter, ich glaube, dass unsere hohen Tiere wissen, dass es diese Wissenschaftler sowieso nicht hinkriegen. Und mit diesen ganzen Genehmigungen und Erklärungen kriegen wir wenigstens mit, was diese Studierten da treiben. Wenn wir nicht hier wären, würden sie einfach hingehen und es tun. Schlaue Führungspersönlichkeiten haben wir da. Weitaus schlauer, als diese "Wissenschaftler"."
Er hob beide Hände in die Höhe, "formte mit den Fingern Anführungszeichen und gab seine Abneigung offen kund.
"Verdienen ihre Münze mit dem Anschauen von Sternen und Schreiben von tollen Aufsätzen. Das hätte aus dir auch werden können."
Die beiden lachten höhnisch auf. Ich sah mich derweil unter den anderen Ordensleuten um. Allesamt schienen sie von niedrigem Range zu sein. Neben mehreren Anwärtern waren insgesamt drei Waffenbrüder und zwei Ordensritter, sowie ich, vor Ort. Einer der Ordensritter spielte ein seichtes Spiel mit seiner kleinen Laute daher. Es erfüllte die hereinbrechende Nacht und bot eine Abwechslung zu den Geräuschen der Wildnis. Der andere Ordensritter kam gemeinsam mit einem Waffenbruder irgendwann auf mich zu. Sie setzten sich auf einem im Gras liegenden Baumstamm vor dem Feuer und eröffneten unser Gespräch.
"Zu Thomas Lunasteer wollt ihr, sagtet ihr? Nun, der wird vermutlich erst spät nach Einbruch der Nacht aus dem Krater aufsteigen. Um diese Zeit ist mit unseren Gelehrten wirklich nichts mehr anzufangen. Sie arbeiten da unten, wie ein faszinierter Kult. Verglichen mit anderen Heiligen Stätten ist der Sternbruch leider wirklich nur ein runder, unzerbrechlicher Stein."
"Haben nicht sogar schon ein paar von denen ihren Verstand hiergelassen?" warf der Waffenbruder ein.
"Mhh, mhh, mhh." grummelte sein Vorgesetzter. "So einige. Mehr, als mir lieb sind. Aber irgendwie vertiefen sie sich alle zu stark in diese Kugel. Ab einem gewissen Punkt sind sie nicht mehr von ihrer Arbeit abzubringen."
Er wandte sich wieder mir zu.
"Deswegen ist dieser Lunasteer hier. Hat vorher mit der Ewigen Bibliothek zu schaffen gehabt, wie ich gehört habe. Gehört jedenfalls zu den Domenicanern und soll auf die Männer und Frauen der Wissenschaft aufpassen. Morgen sollte er Zeit für euch haben. Solange können wir euch nur unser Feuer und Rolands Lautenspiel anbieten."
"Dann sollen mir eure Freuden für heute genügen." antwortete ich mit einem seichten Lächeln. "In Zandig geht die Kunde um, dass die Haldaren sich in den nächsten Jahren hüten müssen. Werden sie wieder zu aggressiv, soll eine ganze Offensive gegen sie gestartet werden. Dieses Mal systematisch und gezielt. Wie stehen die Angriffe hier?"
"Meistens lassen sie sich hier nicht blicken. Für gewöhnlich scheinen sie Ehrfurcht vor der Kugel zu haben. Als ob eine göttliche Barriere sie abhält sich zu nähern, oder dergleichen. Ich verstehe es selber nicht ganz, aber deshalb sind wir hier auch nicht stark besetzt. Kaum ein Haldare hat sich bisher hergetraut. Und mit den meistens friedlichen Stämmen aus dem Süden kann man sogar sprechen, wenn sie nicht mit erhobener Axt auf einen zustürmen. In den letzten zwanzig Jahren haben wir wieviele von ihnen hier verscharrt?"
Der Ordensbruder blickte zu seinem Waffenbruder herüber.
"Lass mich nicht lügen, aber .. keine Zwanzig? Es waren wirklich wenig. Mein Bruder in Lötzen hebt jede Woche so viele Gräber aus. Kein Wunder, dass er nicht zum Orden ist, sondern Leichengräber geworden ist. Verdient sich eine goldene Nase da oben! Er rechnet pro Körper ab, Kinder kosten die Hälfte."
Ich nickte vorsichtig. Mit den Zähnen zog ich die knusprige Haut meiner Hasenkeule ab. Langsam kauend blickte ich in den klaren Sternenhimmel. Vor mir bot sich ein wirklich wunderschöner Anblick der Sternenlandschaft unseres kleinen Athalons. Überall erhoben sich die weißlich-golden funkelnden Lichtpunkte über dem Horizont. Manche von ihnen ergaben herrliche Symbole und Bildnisse, in anderen konnte man die Hoffnung und Zuversicht suchen. Die Nacht bot keine einzige Wolke, die meinen schwelgenden Anblick hätte stören können. Selbst eine Sternschnuppe raste an diesem Abend über das dunkle Schwarz dieser fernen Welten. So schnell, wie der freudig leuchtende Stern mit dem glühenden Schweif auftauchte, verschwand er auch schon wieder. Auf das er nie wieder gesehen und vermisst wird.
In Silventrum soll es Tradition sein einen Wunsch laut auszusprechen, wenn eine Sternschnuppe vorbeisaust. Ich hätte Thomas Lunasteer bei Gelegenheit fragen sollen, ob da etwas dran ist. Selbst wenn nicht, hätte es sicher nicht geschadet einen Wunsch auszusprechen.
Doch was wünsche ich mir eigentlich?
Wenn es auf eine Sache ankommt, was ist mein innigster Wunsch? Was ist das, was ich aussprechen könnte, damit es in Erfüllung geht? Kein kurzfristiges Gelüst und keine unüberlegte Zusammenfassung meines Willens. Nein, mein ehrlicher, innigster und persönlichster Wunsch. Was will ich? Was will Amélie da Broussard?
Sie konnte sich nicht festlegen. Was für eine Überraschung. Die Sternschnuppe raste vorbei, bevor ich eine Antwort fand. Selbst danach fand ich sie nicht. Und nicht einmal das störte mich mehr. Ich lehnte mich auf meinem Baumstumpf zurück und genoss noch ein wenig die kalte Nachtluft. Das sanfte Spiel der Laute glitt mir um die Ohren, als mein Blick nur noch den Sternen galt.
Nach etwa einer halben Stunde verstummte die Musik plötzlich. Mit erhabenen Worten stand der Lautenspieler auf: "Wir wollen zum Beten zusammenkommen."
Ich schloss mich den Sôlanern an, die vor dem Feuer eine Heilige Schrift auslegten. Die Anwärter schubsten sich ein wenig umher, versuchten sich hinter ihren erfahreneren Kollegen zu verstecken. All das Gehabe brachte ihnen jedoch nichts. "Du da, du sprichst heute das Gebet vor." ertönte die Stimme des Musikanten.
Einer der Anwärter musste vortreten, nahm die Heilige Schrift auf den Arm und stellte sich mit dem Rücken zum Feuer. Er sah die versammelte Gruppe Ordenskrieger an und nickte zögerlich.
"Versammelt euch bitte" stammelte er hervor. Direkt vor ihm mussten sich die Anwärter aufstellen, dahinter kamen die Waffenbrüder zusammen. In der letzten Reihe ließen sich die Ordensritter nieder. Ich positionierte mich ein wenig abseits, aber noch in ausreichender Reichweite. Auch ich ging für mein Gebet in die Knie. Meine Hände schloss ich um das hölzerne Deynkreuz. Leise murmelte ich die Verse mit.
Erhabener Deyn Cador,
unser Dank sei Dein für den kommenden Tag.
Unser Dank sei Dein für den vergangenen Tag.
Bringe uns Dein Licht auch nach einer dunklen Nacht zurück,
damit wir wieder sehen können,
damit wir wieder unter deinen Strahlen wandeln,
um Deiner zu gedenken.
Erhabener Deyn Cador,
wir ziehen für Dich Tag und Nacht hinaus,
trotzen den Gezeiten und dem Wetter,
und danken Dir für den gedeckten Tisch
sowie das gewärmte Bett.
Erhabener Deyn Cador,
bringe uns das kleine Fünkchen Zufriedenheit,
erleuchte uns mit dem notwendigen Licht,
zeige unseren Liebsten Deine Güte,
und führe unsere Familien unter Deinem Haupt zusammen.
Bringe uns Dein Licht auch nach einer dunklen Nacht zurück,
damit wir wieder sehen können,
damit wir wieder unter Deinen Strahlen wandeln,
um Deiner zu gedenken.
Erhabener Deyn Cador,
unser Wille sei Dein Segen,
Dein Segen sei unser Wille,
und so danken wir Dir,
Tag und Nacht, Nacht und Tag,
für alles, was Du uns darbietest,
so wir Dir uns ehrbieten.
Amen.
Anschließend bot man mir eine Unterkunft in einer der Holzbauten der Sôlaner an. Sie war von einfacher Ausstattung, es gab nicht einmal ausreichend Stauraum für das Rüstzeug jedes einzelnen Ordensmannes. Mit Stroh gefütterte Stockbetten ermöglichten einen halbwegs ruhigen Schlaf in dieser verlassenen Einöde bestehend aus Nadelwald und Ödnis.
Obgleich ich dem Strohbett nicht abgeneigt war, wollte ich niemandem seinen Schlafplatz wegnehmen. Gemeinsam gelang es uns daher meine Hängematte zwischen Fensterbrett und Türangel zu befestigen. Als die Sonne schon längst hinter dem Horizont verschwunden war, begab ich mich gemeinsam mit meinen Kameraden ins Bett. Yuki lugte dann und wann durch das Fenster hinein, blieb aber die gesamte Nacht über ruhig.
Meine Träume ließen mich selbstverständlich auch in dieser Nacht nicht in Ruhe.
Es wäre leicht gewesen sie als weiteres Hirngespenst, als bloße weitere Einbildung meines zerschundenen Daseins abzustempeln. Aber so leicht mache ich es mir nicht, zumindest das sollte aus diesem Buche hervorgegangen sein. Wer hält es schon aus, wenn einem das eigene Leben aus der dritten Sicht vorgeführt wird? Wenn die leuchtenden Stellen großen Mutes einfach ausgeblendet werden und stattdessen nur all die dunklen Flecken präsentiert werden? Wie in einem schaurigen Theaterstück wurde mir meine Vergangenheit wieder einmal offenbart. Der Vorhang wurde gelüftet. Jeder einzelne dieser befleckten Auszüge meiner Persönlichkeit bekam seinen eigenen Akt. Und ich saß stummschweigend als einzige Zuschauerin auf der Tribüne. Vor meinen Augen bewiesen mir die Schatten der Vergangenheit all das, was schon längst geschehen war. All das, wofür ich mich entschieden hatte.
Auf eine spezielle Art und Weise ist es sicherlich auch beruhigend. Wer sieht, was er angerichtet hat, kann rekapitulieren. Noch einmal alles gewissenhaft durchgehen und verstehen. Doch wollte ich das? Ich dachte längst, dass ich über diesen Punkt hinausgelangt wäre. Ich hoffte inständig, dass ich es nicht mehr ertragen muss. Ich fürchtete mich längst vor mir. Selbst wenn ich es oft nicht zeige, oder irgendwie zu verstecken vermochte. Was mir noch viel grausiger erschien, ist die Vergangenheit. Meine Vergangenheit.
Die vielen Dinge, die im Laufe der Geschichte ausgelassen und vergessen wurden. Die Konsequenzen über die ich niemals nachgedacht hatte, diejenigen, die ich stets einfach hinnahm. Hier waren sie.
Offen.
Einsehbar.
Dramatisch.
Vernichtend.
Sie waren nicht einmal übermäßig dramatisiert. Es war eine nüchterne Darstellung, wie in einem Geschichtsbuch ausgiebigster Objektivität. Eine Zusammenfassung aus ferner Zeit, die kein Detail auslässt. Alles und jeden miteinbezog. Bis das letzte Kapital erreicht ist.
"Was nun?" ist die Frage, die die meisten zu stellen vermögen. Was kommt denn nun nach der Vergangenheit?
Die Gegenwart und die Zukunft? Auch.
Das Zukünftige? Sicherlich.
Auswirkungen und Konsequenzen? Eindeutig.
Was kommt nach der Vergangenheit fragt ihr? Ich würde es nicht allzu bald feststellen, soviel sei klar. Eines Tages konnte ich nicht mehr weglaufen. Seitdem ich die Antwort kenne, bin ich standhafter geworden. Ich stehe mehr hinter dem, was ich tue. Aber .. auf der anderen Seite habe ich auch viel aufgegeben. Dinge, die ich eigentlich behalten wollte. Das ist wohl die Konsequenz, die ich eingegangen bin. Irgendwann kommt alles zurück. Dafür sorgt er schon.
Zu meinem großen Vorteil wachte ich nicht schweißgebadet und erschöpft auf. Ich war ruhig, eher in mich gekehrt. Mir war auf eine unterschwellige Art unwohl. Es schwante mir, dass sich etwas anbahnen würde. Zunächst erhob ich mich jedoch unter den ersten Sonnenstrahlen des Tages. Sie schienen durch das leicht geöffnete Fenster direkt in mein Gesicht. Das Zwitschern der Vögel verklang eben so schnell in der Luft, wie das Schnarchen meiner Brüder. Ich hievte mich aus meiner Hängematte, legte die Rüstung an und verließ das Zimmer.
Das Feuer war längst ausgebrannt, nicht einmal mehr die Kohlen glühten vor sich hin. Dafür zeigte sich der große Zaun umso sichtbarer. In schnellen Schritten trat ich an das einfache Bauwerk aus Nadelhölzern heran und blickte in den Krater hinab. An der tiefsten Stelle dieser Einbuchtung in die Erde lag er: Der Sternbruch.
Jener Himmelskörper der Heiligen Domenica, der hier vor vielen Jahrhunderten, wenn nicht gar Jahrtausenden, niederging. Seine braun-graue kugelförmige Gestalt reflektierte ein wenig in der Sonne.
Dennoch wirkte er absolut unspektakulär. Es war einfach ein großer, kreisrunder Stein. Er hatte weder eine besondere Farbe noch einen anderen Aspekt, der ihn begehrenswert machte. Einzig seine Herkunft machte diese Heilige Stätte zu dem, was sie ist.
Oder sein soll.
Ich zog einen Schwall Luft tief durch die Nase ein. Es lag eine gewisse Frische in der Luft, die Nadelbäume ließen gerade ihren wunderbaren Duft verströmen und auch die Blumenwiesen dieses kalten Nordens mussten bald in voller Blüte aufgehen. Es würde der Kurmark sicher ihren eigenen Charme verleihen, doch würde ich nicht so lang hier warten können.
Während ich den Ausblick auf den Stein auf mich wirken ließ, heizten meine Ordensbrüder eine Feuerstelle an. Sie stellten einen großen Kessel darauf, begannen etwas in der schleimigen Paste umherzurühren und sich bereits vor dem ersten Löffel über ihr Mahl zu beklagen. Ich wusste, dass ich weder den einfältigen Brei kosten wollte, noch tatenlos zusehen konnte.
Beherzt nahm ich dem Anwärter den Kochlöffel aus der Hand. Mit ein paar frischen Kräutern hier und da, sowie einer kleinen Prise meiner Vorräte aus Zandig würde ich kein wunderbares Bankett zubereiten können, aber zumindest ein wenig Geschmack in den Brei bekommen. Offenbar hatten sie ihren Hafer und ihre Hirse gemischt, nicht einmal Salz hatten sie hinzugegeben. Es dauerte bestimmt eine halbe Stunde, bis der lähmende Geschmack einigermaßen erträglich wurde. Immerhin das gelang mir aber.
Halbwegs zufrieden schlug ich Wissenschaftlern wie Ordensrittern die Schüsseln voll. Zuletzt füllte ich meinen eigenen Teller und kostete mein kulinarisches Tageswerk. Wäre ich nicht seit Monaten auf Reisen gewesen, hätte es mir sicher den Magen verschlagen. Meinem feinschmeckerischen Orden auf Neu Corethon hätte ich dieses Frühstück nicht vorsetzen können. Im tiefsten Wald der Kurmark sollte es jedoch mehr als ausreichen.
Während sich die Gesprächsgruppen eindeutig in überinteressierte Forscher und gelangweilte Ordensritter aufteilten, trat ein hochgewachsener Herr in seinen Fünfzigern auf mich zu. Sein ehemals straßenblondes Haar war fast gänzlich einem Grauton gewichen. Sein Gesicht hielt er streng rasiert, was den Blick auf seine tiefen Falten und den großen Mund lenkte. Mit seinen grünlichen, und durchaus interessiert blickenden, Augen sah er mich an.
"Verzeiht, ihr bate–et um mich?"
Zweifellos war er Silventrumer. So, wie er manche Wörter langzog und direkt in einen Redefluss kam, gehörte er zum Volk der Händler und Seefahrer. Wortgewandt, wie eh und je. Gefangen in einer Unabhängigkeit, die ihren Namen nicht verdient, und gänzlich eingeschlossen zwischen Tasperin und dem Meer.
"Ich bin Tho-omas Lunasteer, entsa–andt von den Do-ome–enicanern, um hier ein wenig O-ordnung zu scha–affen."
"Sehr erfreut, Thomas Lunasteer. Amélie da Broussard, habt ihr einen Ort, wo wir ungestört sprechen können?" Ich wollte einen Teil meiner Aufgabe direkt erledigen.
Der Domenicaner nahm mich und sein Frühstück mit in eine der hölzernen Blockhütten. Im Inneren befand sich ein großer Stapel Papiere, mehr schlecht als recht in mehrere Regale eingeordnet, sowie drei an die Wand gestellte Schreibtische. Er nahm zwei der Stühle dieser Schreibtische und stellte sie gegenüber voneinander auf. Dann bot er mir einen an, bevor er selbst Platz nahm. Ich ließ mich ebenso in dem kleinen Raume nieder.
Mit einer einfachen Handbewegung griff ich unter meine stählerne Brustplatte, zog den Brief hervor und überreichte ihm das Schriftstück. Ohne Zögern streckte der Silventrumer seine Hand aus, nahm den Brief entgegen und sah sich das Siegel an. Lächelnd nickte er auf. Fast unbekümmert platzierte er das mit dem Siegel von Sir Walter Ripel verschlossene Cuvert auf dem Schreibtisch hinter ihm, ohne auch nur eine Andeutung des Öffnens zu machen.
"Wart ihr scho-on einmal am Ste-ernbruch? Also vor eurem je-etzigen Besu-uche?" Thomas Lunasteer stützte sich mit seinen rauen Händen auf seinen Beinen ab und blickte mich lächelnd an.
"Nein, es ist mein erstes Mal. Um ehrlich zu sein, bezweifle ich auch, dass ich in nächster Zeit zurückkehren kann. Woran genau forscht ihr hier? Mir scheint es mehr eine .. steinerne Kugel zu sein, als eine himmlische Forschungsstätte. Verzeiht, wenn ich damit ein wenig direkt war."
Direkt schüttelte er den Kopf und hob abwehrend die Hände.
"Ne-ein, Ne-ein, niemals. Diese Fra-age ist me-ehr als gerechtfertigt. Am E-Ende bleibt der Ste-ernbruch ein gro-oßer Stein im Ni-ichts. Bis wi-ir sein Gehe-eimnis gelüftet haben!"
Plötzlich stieg die Begeisterung in seinem Gesicht auf.
"Denn, we-enn es sti-immt, was die Lege-enden sagen, da-ann verbi-irgt sich hi-ier mehr als nur ein Ste-ein! Verste-eht do-och, in den Sagen wa-ar dies hier einst ein We-esen der Heiligen Do-ome-enica, nicht? Ein e-echtes Hi-immelswe-esen hat sich hier zu unse-erem Schu-utze verpuppt! Wie ein Schme-etterling! Jeden Ko-oko-on eines Schme-etterlings vermö-ögen wir a-auch zu ö-öffnen, also-o wi-ird es uns sicher eines Ta-ages gelingen auch diesen Schle-eier zu lüften. Wenn wi-ir das geschafft ha-aben, dann steht hi-ier vielleicht ein e-echtes Himmelswe-esen vor uns! Wie kö-önnte ma-an da nicht da-abei sein wo-ollen?!"
Ich nickte ihm sanft zu. Seine Begeisterung schien mit jedem Wort zu steigen, doch kam nach einer Weile auch eine gewisse Ruhe zurück. Er setzte sich wieder gerade hin, konnte mit dem Schwingen seiner Hände aufhören. "Der Sôlaner Orden hilft euch ausreichend? Sir Ripel scheint sich persönlich für den Sternbruch zu interessieren."
"Tu-ut er das? Ich hoffe do-och sehr. Schließlich ist das hi-ier eine e-echte Heili-ige Stätte-e. Ein echte-es Himme-elswesen, wie e-es auf unse-erem Atha-alo-on eingetro-offen ist. Ach, we-enn das nur me-eine Kinde-er sehen kö-önnten. Sie würden minde-estens gena-au so interessiert sein,wie i-ich. Und wenn ich es nu-ur meiner lie-eben Ga-attin zeigen könnte. Aber we-er kommt scho-on freiwi-illig hier mit in die Kä-älte. Ihr ha-abt mit Si-ir Ripe-el gespro-ochen? Sende-et ihm mei-ine Grü-üße und meinen Da-ank, so-obald ihr ihn wie-ederseht."
"Gewiss. Das werde ich."
Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als ein müdes und abwinkendes Lächeln aufzusetzen. Natürlich würde ich diesen Dank niemals ausrichten können, selbst wenn ich es mit allen Mitteln versuchte. Der Schleier muss aber vor der Welt gehalten werden. Diese ganze Sache wird uns noch um die Ohren fliegen; die Frage ist nur wann. Je später, desto besser. Desto mehr Angelegenheiten können wir vorher bereinigen.
Ich versuchte das Thema zu wechseln, offenbar interessierte ihn auch seine Familie sehr. Vielleicht würde er so Sir Ripel aus dem Kopf bekommen.
"Ihr habt Kinder, Thomas Lunasteer? Eine Gattin? Wo sind sie gerade?"
"Ja, me-eine liebe Gattin E-esther ist no-och immer in Bischo-offe-elden. Ein wu-underba-ares Städtche-en, das zumindest von die-esem Fro-ost des No-ordens verscho-ont ble-eibt. Unser Gro-oßherzo-og gibt sich wirkli-ich alle Mü-ühe ein gutes Leben für u-uns Silventru-umer zu bereiten, denn so-onst würden wir vermu-utlich alle u-um die Welt zie-ehen."
Er lachte leise aus, kniff sich dann in den faltigen Handrücken und blickte mich wieder nüchterner, aber immer noch zufrieden, an.
"Ganze drei Ki-inder ha-abe ich auf diese Welt ge-ebracht und gro-oßgezo-ogen. Danach ko-onnte ich wieder für den O-orden um die We-elt ziehen, wie so-onst kommt man auch so-onst aus seiner He-eimat heraus? Jo-orgen-Ko-onrad ist der Handelsko-ompa-anie beigetreten, darf mittle-erweile aber in seiner He-eimat bleibe-en. Ein paar sto-olze Enkel ha-at er mir da-a beschert. Was für ein Be-engel." Er grinste fröhlich auf.
"Paula-Vale-entina-a ist no-och bei ihrer Mu-utter, bis sie u-und ihr Gatte e-endlich ein Ei-ige-enheim beziehen können. Diese-e Preise in Bischo-offelde-en sind wirklich gro-otesk, müsst ihr wisse-en. Und dann, ja .. ja dann ist da-a no-och Anna-a-Amicia. Sie ist, wie i-ihr u-und ich, in einem O-orden. Ursprünglich war si-ie mal eine Bu-uchwä-ärterin beim Bibliaris-O-orden. Ich dachte, da-ass sie damit ihre Be-estimmung gefu-unden hätte. Seit den le-etzten Vo-orfällen aber,. .." Er winkte ab und unterbrach sich selbst.
"Ich spre-eche zu viel, aber na-ach der Familie fra-agt hier so-onst kaum jemand. Verge-ebt mir bi-itte. Ihr seid si-icher nu-ur hier, um den Bri-ief abzuge-eben und ein we-enig Plausch zu ha-alten, nicht? Die Be-arichte für Za-andig fü-üllen sich selten vo-on selbst."
"Da habt ihr einen wunden Punkt getroffen. Besitzt ihr die Güte mir noch von den letzten Forschungen und Fortschritten zu berichten? Zandig soll schließlich nicht leer ausgehen."
Er nickte wieder, stand auf und holte ein paar Papiere. Diese zeigte er mir hin und wieder, meist nutzte er sie aber, um seine Erinnerungen aufzufrischen. Mithilfe der Berichte konnte er mit halbwegs gut die vergangenen Experimente am Sternbruch beschreiben.
"Die le-etzte Sprengu-ung erwähnen wir be-esser nicht. Außer e-einer Menge Ä-ärger ha-at sie nämlich wieder ni-ichts gebracht. Gestern Na-acht waren wi-ir do-ort und ha-aben die Kü-ühlflüssigke-eite-en betrachtet, die di-ie A-alchemiste-en im Winter gemi-ischt ha-atten. Wir haben geho-offt, da-ass ihre Eigenschaften irgendwi-ie in den Ste-eine einzie-ehen. Wenn e-es wieder wa-arm wird, so-ollte der Ste-ein spre-engen und da-as Himme-elswesen freigeben. Wi-ie ihr frei-iku-undig sehen könnt, ha-at es ni-icht geklappt. Davo-or bedie-enten wir u-uns der Hi-ilfe feu-uriger Lö-ösungen, einer spe-eziellen Meta-alllegieru-ung und so-ogar diesen wu-undersa-amen deyni-istischen Me-etallen der Re-eva-aniter. Allesamt o-ohne Erfo-olg. Aufge-eben dürfen wir jedo-och ni-icht. Wenn wi-ir das Himme-elswesen freibre-echen, kann Deyn Cado-or endgültig diese Welt für sich vere-einnahmen. Das ist der Gru-und, waru-um wir schließlich hie-er sind. Mo-omenta-an planen wir eine me-echanische-e Fräse mit eini-igen Ke-etten zu bauen. Die e-ersten Entwürfe ste-ehen, selbst wenn sie bishe-er jedes Mal kra-achend gescheitert sind. Mit genu-ug Muskelkraft kö-önnen wir sie so-o schnell antrei-iben, dass mehre-ere Stö-öße pro-o Minu-ute machbar sind. Ich bi-in wirklich gespa-annt."
Ich schaute ihn mit der Zeit immer skeptischer an. Vielleicht, weil ich davon ausging, dass sie hier niemals Erfolg haben werden. Vielleicht auch, weil er es insgeheim auch selbst ahnen konnte? Er bemerkte jedenfalls meinen sich nicht zum Guten verändern Gesichtsausdruck.
"Ich weiß ja-a, ich weiß ja-a, ihr wollt Erfo-olge sehen. Wir bemü-ühe-en uns. Nur no-och ein pa-aar Jahre. So-o teu-uer sind wir do-och ni-icht. Legt ihr ein gu-utes Wo-ort für mich in Za-andig ein? Ich habe Fra-au und Kinder! Die ande-eren auch."
"Macht euch keine Sorgen. Ich bezweifle stark, dass man euch hier nicht mehr braucht. Denkt an euren Brief." Ich deutete auf den Tisch hinter Thomas Lunasteer. "Ansonsten bedanke ich mich für eure Zeit. Ich werde mich noch ein paar Stunden hier aufhalten und dann wieder auf den Weg machen. Die Pflicht wartet schließlich nicht nur auf euch."
Ich lächelte ihm vorsichtig zu und entschuldigte mich nach draußen. Dort unterhielt ich mich noch eine Weile mit den Ordensrittern, vor allem aber auch mit den Anwärtern. Sie baten mich noch um den ein oder anderen Hinweis in Kampfeskunst und Theologie. Im Endeffekt verkam unser Gespräch zu einer Unterrichtsstunde. Gegen diese hatten aber weder die eigentlichen Ausbilder noch ich etwas einzuwenden.
Über mehrere Stunden, bis zur Mittagsstunde, führte ich daher ein Holzschwert immer wieder gegen die äußerst unerfahrenen und teils ungeschickten Rekruten. Für jeden Treffer meinerseits mussten sie eine Frage über unsere Heiligen oder die Silvanische Kirche beantworten. Für jeden Fehler hatten sie eine Runde in ihrer Rüstung zu laufen. Zufälligerweise bot der eingezäunte Krater eine ideale und fordernde Strecke. Bereits nach einer Runde hatten die meisten Anwärter keinen Atem mehr übrig, was die Quote an richtigen Antworten stark ansteigen ließ. Endlich dachten sie nach, bevor sie frei heraussprachen. Für jeden Treffer der Rekruten – es waren nicht allzu viele – lektorierte ich ein wenig über den Orden und seine Standorte.
Es war ein freundliches Geben und Nehmen, das für mich nicht einmal nachteilig war. Ich genoss die kurzweilige Unterbrechung.
Bis plötzlich einer der Forscher im Krater zusammenbrach. Der Wissenschaftler mit seinem grauen Haar und behaarten Händen fiel wie ein Gerippe vor dem Sternbruch ineinander zusammen. Wir konnten nicht einmal mehr schnell genug angerannt kommen, da war sein Tod von den anderen Gelehrten bereits festgestellt worden. Obgleich ich besorgt war, den Körper des Mannes weiter untersuchen wollte, wurde sein Tod mit einem Handstreich abgetan. Der führende Sôlaner meinte gar nur, dass auch er sich zu tief in den Sternbruch gestürzt hat. Es wäre kein Wunder, mit der Zeit würde es allen passieren, die sich nur um dieses versteinerte Himmelswesen scheren.
Und der Verstorbene war nach herrschender Meinung solch jemand. Ein Gelehrter aus gutem Hause, der sein Leben der Wissenschaft verschrieben hatte. Er war in Tasperin von Universität zu Lehrstätte gezogen und hatte seine Bücher geschrieben. Er schien mit der Alchemie vertraut, konnte Pflanzen allein anhand ihres Stängels identifizieren. Doch fand er nie Frau und Kind, ließ sich an keinem Platz so wirklich nieder. Einzig die immer nächste Entdeckung soll diesen wackeren Recken angetrieben haben.
"Bis er vom Sternbruch gestürzt wurde. So, wie dieser Stein sich auch alle anderen Studierten ohne Heimat holt."
So beschrieben es die Sôlaner, als sie angelaufen kamen, als sie ihn begruben und ein paar abschließende Worte sprachen. Es schien sie nicht einmal mehr besonders zu scheren, dass dieser Mann gerade vor aller Augen zusammengebrochen war.
Danach wurde einfach weitergemacht. Es galt schließlich Ergebnisse zu produzieren. Ergebnisse an diesem Himmelskörper, dessen Ursprung stets nur vermutet, aber nie bewiesen wurde.
Auch ich zollte dem Verstorbenen meinen letzten Respekt, legte noch einige Blumen nieder, die ich auf einer nahegelegenen Wiese fand. Ich verabschiedete mich von Thomas Lunasteer und den Sôlanern, stieg auf Yukis Rücken und trat die Reise gen Süden an. Dieses Mal entschied ich mich dagegen der Straße zu folgen. Sie würde meine Reise nur verlangsamen. Ich steuerte direkt auf den Wald vor mir zu. Ein Wald, der mich zuvor mit seinem Schnee tage- und wochenlang behindert hatte. Jetzt aber stellte der saftige grüne Boden mit seinen ausufernden Wäldern kein Hindernis mehr da.
Ich zog den nächsten Brief einen Spalt weit aus meiner Rüstung heraus. Unter Sir Walter Ripels Siegel sollte dieses Schriftstück zur Schwarzen Kathedrale in Rabenfels gebracht werden. Empfänger: Bischöfin Karolina zur Ringtsa.
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"Nicer Cock, Schussi" - Christian, 06.12.2019
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10.02.2021, 06:56 AM
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 10.02.2021, 07:20 AM von Feuerfrosch.)
08.06.1352
XXVI – Rabenfels
Enige Tage lang glitt ich dank Yukis sanftem Trab durch die Fichtenwälder des hohen Nordens. Hier und da ließen sich ein paar Tiere blicken, alles in allem, blieb es aber eine zweisame Reise in den Süden.
Nicht weit von uns mussten die Grenzlande liegen. Jenes unerkundete Gebiet, dass eingebettet zwischen Haldar und Tasperin lag. Es galt als wild, aber nicht unzähmbar. Ebenso wenig war es verloren, doch längst noch nicht gewonnen. Soweit ich in den großen Städten an der Grenze gehört hatte, schickten sie allerlei abenteuerlustige Narren, Glückssuchende und Geldmacher nördlich des Großen Stroms. Was jeder einzelne von ihnen dort oben zu suchen vermochte, was jeden einzelnen letztlich antrieb, konnte kaum einer sagen. Die einen mögen nur einen ehrenhaften Kampf gesucht haben, einige folgten einer persönlichen Rache und manch ein jemand wollte dort vielleicht das Geschäft seines Lebens machen. Sie alle einte jedoch, dass sie ein erbärmliches Leben fanden. Geprägt von Verzicht, ständiger Angst und den durchtriebenen Angriffen der haldarischen Stämme. Es war sicherlich kein Platz, an dem ich mich aufhalten wollte. Ich setzte daher alles daran mich so weit wie möglich von diesen rauen Gefilden zu entfernen.
Und tatsächlich gelang es mir nordöstlich von Feywell auf den Großen Strom zu stoßen. Die Tage in denen ich mich meistens von einigen frischen Beeren und zugekaufter Trockennahrung ernährte, waren weiterhin lang. Die Nächte blieben erbarmungslos kurz. Yukis morgendliches Wiehern erweckte mich zumeist, vielleicht seine Art der Aufforderung nicht stehenzubleiben. Manchmal half er mir mein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, viel öfter trieb er mich auch dazu an noch ein oder zwei Stunden länger im Sattel zu bleiben. Seine Ausdauer war schlichtweg bemerkenswert. Als hätte er nie etwas anderes im Sinn gehabt, als mich durch diese endlosen Wälder und Ebenen zu tragen.
Danke, mein Freund, danke.
Für deine Treue und Fürsorge. Deine unendliche Zuneigung und Geduld mit mir.
Ich hätte mir keinen besseren Reisegefährten wünschen können.
Es war bereits Nacht geworden, als wir endlich an den Ufern des Großen Stroms ankamen. In Reichweite eines kleinen Anlegestegs verbrachten wir eine letzte Nacht bevor uns ein Fährmann im Tausch gegen einige Silberlinge nach Tasperin übersetzte. Die Kaiserliche Monarchie erstreckte sich einmal mehr zu meinen Füßen. Ursprünglich wollte ich sie so schnell wie möglich durchqueren, ich hatte über eine Schiffsreise entlang der Prage nachgedacht. Doch seitdem ich in der Kurmark war, hatte mir Sir Saltzbrandt aufgetragen einige Briefe zuzustellen; und dann war da ja auch noch meine andere Aufgabe.
Weitere lange Stunden verbrachte daher ich im Sattel meines liebgewonnenen Pferdes. Tage, wenn nicht gar Wochen, zogen ins Land. Irgendwann kamen wir endlich in Wegzrant an. Ein beschauliches Städtchen ohne größere Geschichte oder Charakteristik. Wir rasteten für zwei Tage, damit sich mein Rücken entspannen und Yuki mit neuen Hufeisen beschlagen werden konnte. Tagsüber hielt ich mich zumeist in einer Kirche und meinem Tavernenzimmer auf, des nachts stiefelte ich durch die leergefegten Gassen und die von markanten Bäumen gesäumten Alleen. Neben ein paar Vorräten konnte ich dank des guten Willens eines jungen Marktburschen einige Leckereien für unterwegs kostengünstig erwerben. Sie sollten mir die kommenden Tage zumindest ein wenig versüßen. Ein kleines Zuckergebäck oder eine Handvoll Nüsse machen hin und wieder einen Unterschied. Manch ein erzkonservativer Ordensritter mag sie als weltliche Gelüste abstrafen, doch will ich die Anstrengungen der Reise nicht vergessen.
Dabei war auch ich einst eine dieser erzkonservativen Verfechterinnen des Deynismus. Jegliche Sünde galt mir als unerklärliches Zeichen von Schwäche und falscher Hingebung. Wie sehr man sich täuschen kann, hm? Im Laufe der Jahre verstand ich sie immer mehr. Ich konnte irgendwann auch nicht mehr; irgendwann war es alles zu viel. Die Schrecken dieser Welt haben immer wieder ihre giftigen Klauen nach mir ausgestreckt. Irgendwann wollen Körper und Geist einfach nicht mehr. Wozu auf all das Schöne in der Welt verzichten, nur um das Leid über sich ergehen zu lassen? Natürlich bleibt die Demut nur aufrecht erhalten, wenn ausreichend Buße getan und die Gelüste abgelegt werden. Schlussendlich erliegt die gestrafte Seele aber doch der Versuchung. Wenn ein kleiner Ausblick, ein noch so kleines Fünkchen Licht vor den eigenen Augen auftaucht, warum sollte man es nicht ergreifen?
Auf viele dieser Fragen gebe ich heute andere Antworten, als vor vielen Jahren noch. Eine gezeichnete Seele, die sich dem Schicksal ergibt, von ihm zerrissen und verwundet wurde, nur um dann doch wieder aufzustehen. Das kleine Fünkchen Licht in ihren Händen gibt ihr Hoffnung. Eine Hoffnung, die ich bitter brauchte.
Als der immens große Rostsee vor meinen Augen aufblitzte, vertilgte ich gerade mein letztes Gebäckstück. Die riesige Wasserfläche wurde von allerlei Fischern bevölkert, die in kleinen Booten fangfrischen Aal aus dem Gewässer zogen. So gerne ich ihnen bei der Arbeit zugeschaut oder gar ein Stücken geräucherten Aals gekostet hätte, so sehr zog es mich weiter. Mit einem Schlag in Yukis Zügel umquerten wir in einer mehrtägigen Reise den Rostsee. Weshalb er diesen Namen trägt, offenbarte sich während meines gesamten Aufenthalts nicht im Geringsten. Sein Wasser schimmerte tiefblau, an seinen Ufern wurde kein Metall gefördert und nicht einmal als Transportroute für Eisen galt er. Es muss eine merkwürdige Fügung des Schicksals gewesen sein, dass er den Namen Rostsee trägt.
Aber was an dieser Welt ist am Ende für den Unkundigen nicht merkwürdig?
Es sollte mich noch mindestens eine Woche kosten bis ich die Ufer des Rostsees überwunden und die Prage erreicht hatte. An einem kleinen Anleger musste ich eine weitere Nacht warten bis ein Schiff in Richtung Linnigh einlief. Es forderte eine gewisse Überzeugungskraft und das Präsentieren meiner Ordenskluft, um den Kapitän umzustimmen, damit er mich und Yuki bis Rabenfels mitnahm. Das Pferd sei zu groß, zu schwer und zu kostenintensiv. Mit ein paar heiligen Münzen aus dem Geldschatze Sôlerbens ließen sich seine Bedenken zu meinem großen Dank beseitigen.
Die mit dem kreativen Namen "Scherwinde" betitelte Schaluppe trug ins gemächlich entlang des Windes über die Prage. Ich verbrachte den überwiegenden Teil meiner Zeit an Bord unter Deck. Meine Rüstung war im Laufe der Jahre öfters lädiert worden. Die Lederriemen rissen von Zeit zu Zeit und auch das Metall war verbeult und zerkratzt. Einfache Schäden konnte ich mit ein wenig Handgeschick selbst lösen, die großen Beschädigungen erforderten aber fachkundige Schmiedsgesellen oder gar einen Meister dieses Fachs. Neben den grotesken Kosten würde mich eine Reparatur aber vor allem Zeit kosten; eine ganze Woche könnte ich nicht warten. Und so flickte ich hin und wieder selbst all das, was ich flicken konnte. Hier einen neuen Lederriemen und da ein wenig Öl. Es half vermutlich nicht viel, aber wenn es im entscheidenden Moment einen Unterschied machen würde, wäre es die Arbeit wert.
Auf dem Oberdeck zeigte sich der herrliche Blick auf die hohen Gipfel des Kaphatgebirges. Die Prage hatte sich vor langer Zeit tief durch das Gebirge gepflügt, heute verlief sie einmal mitten durch die graugrünen und mit Wald bedeckten Berge. Während die südliche Seite mit beackerten Steilhängen glänzte, präsentierte sich der Norden mit steinerner Rauheit.
Ein strenger Wind verlieh uns dauerhaft die nötige Kraft, um gegen den Strom des gemächlich fließenden Flusses anzukommen. Meine Haare flatterten im Wind, nicht einmal ein strenger Knoten konnte sie beieinander halten. Dafür gewann ich während meines kurzen Ausflugs auf das Oberdeck immerhin die Blicke der halben Besatzung. Meine Narbe auf der Wange verschreckte die meisten und faszinierte den Rest. Sie störte mich mittlerweile mehr, als ich je gedacht hatte. Lagen vorher die Augen auf der Rüstung des Sôlerben, liegen sie heute auf diesem blutigen Überrest eines Kampfes mit der schwarzen Magie.
Nach einer langgestreckten Kurve zeigte sich endlich die Rabenfelser Bucht vor der Scherwind. Anders als manch einer es vermutet haben möchte, war diese Stelle der Prage aber das genaue Gegenteil einer Bucht. Die beiden eng zusammenstehenden Berggipfel ließen die Prage auf eine Breite von gerade einmal einhundert Metern zusammenschrumpfen. An den gegenüberliegenden Hängen lagen die grau-braunen Steinbauten mit ihren umständlichen Treppenbauten und einer einnehmenden Tristheit. Überragt wurde die Stadt nur von der Feste von Rabenfels und der Schwarzen Kathedrale. Steht die Feste mit ihren markanten Rundtümern und beeindruckendem Bergfried an der höchsten begehbaren Stelle der Stadt, so liegt die Kathedrale weit darunter. Obgleich ihres bedrückenden Namens ist die Kathedrale weder schwarz noch eine Kathedrale. Die in baulicher Sicht lediglich als Kirche durchgehende Ordensbaute musste aufgrund des mangelnden Platzangebots in Rabenfels sogar auf ihre Kirchenschiffe verzichten. Auch die Verkleidung mit dunklen Steinplatten ist nicht einmal auf jeder Seite durchgehalten worden, schlichtweg weil dort keine Arbeiten mehr möglich waren oder der Wind zu stark bläst.
Die Scherwinde lief schaukelnd an einem der kleinen Piers südlich der Rabenfelser Bucht ein. Die Dockarbeiter nahmen direkt die schweren Taue entgegen, legten die Planke aus und halfen den Gästen beim Absteigen. Für jede herübergetragene Tasche, jedes Stück Gepäck und natürlich auch jedes Tier an Bord verlangten sie eine jeweils entsprechende Bezahlung. Sie brachten Yuki und mich sicher an Land, weshalb ich ihnen ihre Belohnung nicht vorenthalten wollte.
Ich zog einen tiefen Schwall der immerkalten Gebirgsluft ein und sah mich um. Die engen Gassen waren erfüllt von Leben. Arbeiter und Soldaten zwängten sich Seite an Seite entlang der steinernen Stufen. Hinauf und hinunter, immer tiefer in die Stadt herein.
Ich setzte mich zunächst auf eine der am Hafen stehenden Bänke nieder. Yuki stellte sich in ergebener Treue neben mir auf, wieherte mir leise zu. Ich leerte meine Wasserflasche mit einem tiefen Zug, bevor ich die Kathedrale in der Ferne bewunderte. Auf eine gewisse Art und Weise hob sie sich im glänzenden Sonnenlicht doch vom Rest der Stadt ab. Ihre farbigen Fenster, die schwarzen Steinplatten und die damit verbundene gewisse Erhabenheit. Sie wirkte einerseits unpassend für diese Stadt, aber auch wieder genau richtig für eine Niederlassung der Renbolder. Ich fasste meinen Entschluss keinen Tag zu rasten sondern sogleich zur Nordseite der Stadt überzusetzen. Ich hatte schließlich noch eine Audienz bei einer Bischöfin zu ersuchen. Erfahrungsgemäß kann sich ein solcher, unangekündigter Besuch, immer ein wenig hinziehen. Der Brief wollte allerdings abgegeben werden und ich hatte noch den größten Teil Tasperins vor mir.
Meine Pläne zerschlugen sich allerdings recht schnell in der Luft. Ich allein hätte mit einer der dutzenden Personenfähren in wenigen Minuten über die Prage übersetzen können, Yuki hatte jedoch aufgrund irgendeiner Stadtverordnung auf einer der nur alle paar Stunden verkehrenden Lastenfähren zu fahren. Da ich ihn schlecht am Steg alleine lassen konnte und wollte, wartete ich ebenso. Die engen Gassen boten keine Möglichkeit gemeinsam durch die Stadt zu ziehen. Einen Stall für ein kurzes Unterkommen gab es ebenfalls nicht. Was also blieb war die einzig valide Option. Eine Option, die entgegen meines Plans ging und mir überhaupt nicht gefiel: Warten und Nichtstun. Zwar kaufte ich einige frische Leckereien für einen viel zu hohen Preis, die uns die Zeit überdauern ließen, aber mir war trotzdem unwohl bei all der sinnlosen Sitzerei.
Der Fluss glitt in stetem Strome an uns vorbei. Die Prage mit ihren ungeheuren Wassermengen war bevölkert von unzähligen Schiffen, die entweder durch die Rabenfelser Bucht wollten, um die andere Seite der Stadt zu erreichen oder in den Ozean hinausschifften. Ihre Körper lagen tief unter der Wasseroberfläche, an Deck tummelten sich zahlreiche Personen. Auf manchem Schiff beobachte ich die im Wind flatternden Flaggen. Manchmal als die des Tasperiner Heeres oder einer Handelsgesellschaft, immer öfter war es mir aber auch einfach egal welches Banner dort im Wind stand.
Zwischen dem bunten Treiben der Schifffahrer versuchten die städtischen Fischer ihr Glück. Manche warfen die Netze aus und zogen nur wenige Minuten später Aale und kleine Fische hervor, andere zogen stundenlang an ihren Schnüren und Reusen, nur um leer auszugehen.
Je länger ich auf der Bank zu warten hatte, desto mehr Rabenfelser kamen an mir vorbei. Sie teilten einen einfältigen, meist unzufriedenen Blick. Ihre Körper hatten sie weiterhin in dicke Kleidungsstücke gehüllt, die aufgrund der umherblasenden Winde auch wirklich nötig gewesen waren. Nur wenige schenkten mir überhaupt ihre Aufmerksamkeit. Wenn, dann hoben sie einen flüchtigen Blick auf meine Narbe und zogen direkt wieder weiter. Unter manchem Gemurmel der dutzenden Männer und nur einer handvoll von Frauen war hin und wieder etwas von Alkoholeskapaden von Soldaten zu entnehmen, gar einen Todesfall hatte es in der vergangenen Woche wieder gegeben.
Alles in allem klang es für mich, wie das übliche Geschwätz in Städten und belebteren Gemeinden. Gerüchte, die entlang der Straßen weiterverteilt werden. Am Anfang beruhen sie selten auf der Wahrheit, und wenn verlieren sich diese Halbwahrheiten ohnehin schon bald in einem Geflecht aus Hirngespinsten und Dichtungen. Jemand will gehört haben, dass etwas passiert sei und denkt sich, dass etwas anderes dabei auch noch passiert sein könnte.
Ich konnte das alles nicht mehr hören. Wollte das alles nicht mehr sehen. Ich denke zwar gern und zu viel über Einsamkeit und Stille nach, aber dort fühle ich mich mittlerweile am wohlsten. Dann, wenn niemand etwas von mir erwartet und ich nur meinem eigenen verlorenen Instinkt nachgehen kann.
Die Fähre war ein größeres, flaches Holzboot mit jeweils einem halben Dutzend Rudermännern an jeder Seite. Auf einer erhöhten Plattform am Heck stand der Steuermann, welcher nicht nur mit lauter Stimme die Befehle über das Deck jagte sondern auch die Fährgebühr einstrich. Immerhin vermochte er ohne großes Nachdenken oder Zögern Yuki und mich an Bord zu weisen. Innerhalb weniger Minuten trafen hinter uns Wägen und Lastenkarren ein, mit denen wir gemeinsam über die Prage schipperten. Die lauten Rufe des Steuermannes galten nur selten seinen Rudermännern, sondern deutlich öfter den anderen Kapitänen. Mit wüsten Beleidigungen wies er diese "Amateure" zurecht, wünschte ihnen eine schlechte Fahrt und schlimmen Durchfall, wenn sie nicht schleunigst Platz machen würden.
Auch wenn mir diese Art der Unterhaltung nicht zusagte, hatte er einen validen Punkt. Hätte die Fähre gebremst, hätte uns die Strömung einfach mitgerissen. Und dann würden der Lastenkahn erst hinter dem Kaphatgebirge wieder anlegen können.
Vielleicht mithilfe, vielleicht dank seiner Beschimpfungen kamen wir jedoch sicher auf der anderen Seite an. Knarzend stieß die Fähre gegen ihren Anleger, einige Holzbretter wurden ausgelegt und wir betraten wieder Festland. Für den Augenblick hatte ich genug abenteuerliche Bootsfahrten erlebt. Ich führte Yuki daher schnellstmöglich zur Schwarzen Kathedrale. In der Nähe fand ich ein kleines Gasthaus mit anliegendem Schuppen. Dank der gnädigen Dame am Empfang konnte ich Yuki am Schuppen unterbringen lassen, man brachte ihm sogar ein wenig Heu und Stroh als Unterlage.
Mein Zimmer in dem grauen, aus massivem Gebirgsstein geschlagenen Gebäude, war trist und kalt. Die steinernen Wände schienen allesamt schief zu sein, hier und da bröckelte der Fels. Eilend kam ein Zimmermädchen hineingelaufen, legte zwei Kohlenpfannen aus und entzündete kleine Feuer. Sie bat um Nachsicht, heute Abend würden die Feuer das Zimmer aber wohlig temperiert haben.
Da ich ohnehin nicht vorhatte länger in diesem Raum zu bleiben, als unbedingt nötig, dankte ich ihr mehrfach. Die Aussicht auf einen warmen Schlafplatz schien mir zwar recht attraktiv, aber im Moment nicht wichtig.
Ich verließ meine Unterkunft, mischte mich unter das Stadtvolk und stieg die Treppen zur Kathedrale hinauf. Entlang enger Gänge und aus dem Fels gehauener Gassen kletterte ich immer weiter die Berge des Kaphatgebirges hoch. Teilweise waren ganze Straßenzüge noch von einer felsernen Decke geschützt, als wären hier einmal Minengänge anstelle des heutigen Stadtviertels gewesen.
Die Kathedrale erstrahlte hingegen in einer Mischung aus mattem Schwarz und tiefem Grau. Deutlich erkannte man die eigentliche Bauweise, derselbe Stein aus den Bergen des Kaphatgebirges, aus denen der größte Teil von Rabenfels errichtet wurde. Lediglich darauf hatte man, teilweise unsauber, teilweise in meisterlicher Handarbeit, pechschwarze Steinplatten angebracht. Eingerahmt von metallenen Gittern lagen hohe, insgesamt farbenfrohe aber von einem Film aus Schmutz und Ruß bedeckte, Scheiben zwischen den großen Säulen. Die Schwarze Kathedrale war keine fünfzig Meter lang, ihr Endstück lag bereits an einem großen Felsen des Gebirges. Was mir jedoch die größten Schwierigkeiten bereitete: Sie war nicht öffentlich zugänglich.
Bereits in ausreichendem Abstand standen Wachsoldaten des Tasperiner Heeres in größeren Gruppen herum. Wenn ich mich recht entsinne, wurden hier in Rabenfels die Gebirgstruppen ausgebildet. Eine Wachbastion, in der auch Leto Kynes einst gedient hatte. Bis diese ruchlose Seele nach Neu Corethon geschickt wurde, um seiner Aufgabe nachzukommen. Ich bin durchaus gespannt, was aus ihm geworden ist. Ob er noch lebt und seinem Ziel nähergekommen ist, schließlich ... steht er auf der anderen Seite der Schlucht.
Die Wachen ließen mich ohne größere Probleme durch, als sie mich dem Heiligen Sôlerben zuordneten. Weniger erfreut waren jedoch die Brüder des Renbold, als ich anstelle der Pforte die erstbesten Stillen Diener aufsuchte. Ich teilte ihnen direkt mit, dass ich mit der Bischöfin von Rabenfels verkehren wollte, einen Brief aus Zandig für sie mitführte.
Die Stillen Diener jedoch drehten sich größtenteils von mir weg. Einer von ihnen streckte seinen Arm aus, ließ die verkommene Kutte hinabrutschen, um mir den Weg zum Hauptportal zu weisen. Ich äußerte kein Wort des Dankes, sondern trat sicheren Schrittes auf die schwarz angestrichenen Holztüren zu. Man hatte sie in die Form zweier Schriftseiten geschnitzt, die wie ein aufgeschlagenes Buch den Weg in die Kathedrale versperrten.
Vor ihnen standen zwei in dunkle Hauben gehüllte Männer mit gesenktem Kopf. Auch auf diese Herren trat ich in gleichsam energischer Weise zu, bekundete mein Anliegen und wartete auf eine Antwort. Beide jedoch machten keine Anstalt nur einen Finger zu krümmen oder überhaupt meine Anwesenheit zu beachten. Selbst als ich vor ihren Nasen mit dem Brief für die Bischöfin herumwedelte, konnte ich ihnen keine Reaktion entlocken. Es war zutiefst unbefriedigend. Erst wartete ich stundenlang auf eine Überfahrt und dann wurde ich ignoriert. Ich fühlte mich gedemüdigt. Was für eine Schmach.
Seufzend ließ ich von den beiden stummen Wesen ab. Zunächst suchte ich die linke Seite des Gemäuers nach einer Alternative ab, wurde jedoch bitter enttäuscht. Je weiter ich am Kirchengebäude entlanglief, desto schlechter angebrachte Steinplatten fand ich vor. Je näher ich an die Felsen des Kaphatgebirges kam, desto weniger Licht fiel in die lange Gasse. Kurz vor der steinernen Wand, die offenbar das Ende dieser Sackgasse markierte, blieb ich stehen. Ich fühlte, wie die Wut in mir anstieg. Nicht einmal eine Antwort hatten diese Gestalten für mich übrig. Sie verstanden nicht, was ich durchgemacht habe. Was für ein ewiges Leid ich jede Nacht erfahren muss, um herzukommen. Ich wollte nur einen einzelnen Brief abgeben, nur dieses Schriftstück zum Empfänger zu bringen und sie? Sie würdigen mich nicht einmal eines vereinzelten Blickes? Fühlen sich nicht genötigt mir den Respekt der Kenntnis entgegenzubringen?
Wären das Sôlaner hätte ich sie an Ort und Stelle rund gemacht. So rund, dass sie künftig jeden Dienstburschen und jeder Laienschwester bereits beim entferntesten Anblick die Füße küssen würden.
Ich war wirklich wütend. Meine linke Hand ballte ich zu einer Faust, die ich gegen die neben mir liegende Steinplatte schleuderte. Meine Faust traf den kalten Stein des Kirchengebäudes, verharrte dort eine Sekunde und ..
.. ließ mich zurückschrecken. Mit einem lauten und krachenden Klirren löste sich genau der Stein, den ich in meiner Wut als Zielscheibe auserwählt hatte. Lautstark ging er zu Boden und zerkrachte in tausende Stücke. Ich biss die Zähne aufeinander, hoffte, dass ich schnell aus dieser peinlichen Missetat verschwinden konnte.
Doch war es bereits zu spät. Viel zu spät.
Zwei Wachsoldaten der Tasperiner standen mit geschulterten Waffen neben mir. Beide waren vergleichsweise jung, wenngleich ihre Gesichter rau und ausgetrocknet aussahen. Ihre Mützen hatten sie tief ins Gesicht gezogen, nur wenige der mattbraunen Haarsträhnen lugten darunter hervor.
"Habt ihr gerade wirklich gegen die Kirche geschlagen?" warf mir der kleinere Soldat vor.
Ich merkte, wie mein Gesicht sich vor Scham in ein leuchtendes Rot verwandelte. Ich wusste weder wohin ich zu schauen hatte, noch was ich mit meinen Armen machen sollte. Ich stammelte wild etwas vor mich hin, rotierte mit den Armen und konnte mich kaum mehr einkriegen. Es war ungebührlich. Es war falsch. Es war absolut und völlig verdient peinlich. Wo hatte ich mich in diesem Ausbruch kurzer Wut nur da wieder hereingeritten? Deyn steh mir bei.
Plötzlich begannen sie beide vor sich hin zu kichern, ja gar zu lachen. Der größere Soldat zeigte mit beiden ausgestreckten Zeigefingern auf mich, sein kleinerer Gefährte krümmte sich vor Lachen. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als die Arme sacken zu lassen und meinen Kopf seufzend in den Nacken zu legen. Das mit Licht des Sôlerben sein, nehme ich wohl ein Stück weit zurück.
Ich atmete unter dem höhnisches Lachen der beiden noch einmal tief ein und aus. Erst dann wagte ich es – vermutlich noch immer hochrot – ihnen ins Gesicht zu schauen.
Etwas zerknirscht brachte ich nur ein "Deyn zum Gruße. Verzeiht bitte." hervor.
"Ach, macht euch um die Steine keine Sorgen, aber .. eure Vorstellung war wirklich besonders. Nahezu majestätisch, ein echter Kontrast zu diesen schweigsamen Renboldern. Wirklich urkomisch, bitte nochmal."
"Du meinst so?" Die Soldaten blickten einander an, machten meine verzweifelten Handbewegungen und Ausfallerscheinungen nach. "Ähh... ich.. äh.. Achtung Arm!"
Sie brachen wieder in herrlichstem Gelächter aus. Selbst ich musste ein wenig schmunzeln. Hatte ich gerade wirklich so eine erbärmliche Vorstellung abgeliefert? Es gab keine Flucht mehr.
"Verzeiht wirklich." Ich schnaufte. "Ich bin wohl ein wenig an den Stillen Dienern verzweifelt. Sie leben offenbar ihren Namen ein wenig mehr aus, als ich erwartet hatte. Und nun .. habe ich auch noch eine Steinplatte demoliert."
Die Soldaten winkten sogleich, immer noch köstlich amüsiert, ab. "Die fallen ständig runter, nur .. nicht auf solch eine Art und Weise!" Beide schauten erst mich an, bevor sie einander wieder in die Augen schauten und wieder in höhnischstem Lachen ausbrachen. Der große Wachsoldat mimte wieder meine Armbewegungen nach, der Kleinere wischte sich seine Tränen aus den Augen.
Ich schwieg währenddessen einfach. Ließ das Unvermeidliche geschehen, schließlich war es meine eigene Schuld. Und das hier war gewissermaßen die Buße dafür. Spott und Hohn der jüngeren Generation, welch ein Erlebnis.
Als sie sich endlich wieder einbekommen hatten, waren beide sichtlich außer Atem. Mit einem unverfehlbarem Grinsen im Gesicht wandten sie sich wieder mir zu.
"So sauer, dass ihr einen Stein abgeschlagen habt! Hach, das ist eine Geschichte für jeden Saufabend, heeeerrrliiich, sag ich euch! Warum wolltet ihr denn überhaupt zur Kathedrale?"
"Ich .. habe eine Nachricht für die Bischöfin. Ich suchte nach dem Eingang und scheiterte krachend, wie ihr festgestellt habt. Immerhin habe ich den Weg in die Stadt gefunden, hm?"
"Der Eingang? Auf der anderen Seite, kommt, kommt, wir zeigen es euch. Dann melden wir auch gleich den herabgefallenen Stein. Bestimmt war es wieder nur der schreckliche Wind."
"Ganz gewiss der schreckliche Wind. Dieser kalte windige Wind, der wie eine Faust an einem fuchtelnden Arm Steine abschlägt."
Sie grinsten sich weiter gegenseitig an, nahmen mich aber dankenswerterweise mit um die Schwarze Kathedrale zu einem kleinen Nebenquartier. An dessen Tür klopften sie an, meldeten den "Verlust" der Steinplatte und die Ankunft einer Besucherin – mich.
Die beiden Heeresmitglieder berichteten über die "herabgefallene" Platte, indem sie Ort und Stelle beschrieben. Anschließend verabschiedeten sie sich beide mit einem freundlichen Grinsen und Schulterklopfen von mir. Ich stand nunmehr alleine vor eine vergitterten Pforte. Auf der anderen Seite der metallenen Stäbe saß eine mit einer Kutte verhüllte männliche Person. Ihr langer grauer Bart lugte über die Stoffrobe hinüber; erst als er hinaufschaufte, konnte ich in sein Gesicht schauen. Der alte Mann hatte eingefallene Augen und starke Falten, seine Bewegungen wirkten durchgehend langsam und teils ungelenk. Nichtsdestotrotz begrüßte er mich freundlich und bat um mein Anliegen.
Ich hielt ihm den Brief aus Zandig hin und stellte mich vor. Er streckte seine zittrige Hand zwar nach dem Papier aus, aber ich wollte es ihm nicht überlassen. "Persönliche Zustellung." erwiderte ich auf seinen verdutzten Gesichtsausdruck. Der alte Renbolder nickte nur gelassen vor sich hin. "Ja, ja, so ist es doch immer. Niemand traut mir. Bitte wartet einen Augenblick. Ich kümmere mich darum."
Mit diesen Worten zog der alte Mann die Holzklappe zwischen uns zu, erhob sich und kam aus einer Seitentür herausgelaufen. In einem sehr langsamen und gemächlichen Gang, der dem einer Schildkröte nahe kam, schlurfte er über den verstaubten Steinboden zur Schwarzen Kathedrale. Der hintere Teil seiner Kutte striff dabei über den Grund, sodass er eine kleine Spur im Dreck hinterließ. Mir blieb derweil nicht anderes übrig, als wieder einmal zu warten. Erst verfolgte ich den Renbolder, nach einer gewissen Zeit suchte ich mir aber lieber einen Sitzplatz. Es schien mir schließlich, dass er nicht der schnellste sei.
Es dauerte sicher noch eine ganze weitere Stunde, bis mich ein weiterer – deutlich jüngerer – Ordensbruder des Renbold abholte. Er bat mehrfach um Verzeihung für die Warterei, führte mich dann jedoch über eine kleine Nebentür in die Schwarze Kathedrale. Im Inneren war die Kirche noch viel trister und karger, als ich es von außen vermutet hatte. Nur kleine Kerzenhalter, die meist in die Wand eingearbeitet waren, erfüllten die kurzen Gänge mit Licht. Die Türen waren oftmals gar nicht erst vorhanden, anstelle dessen grenzten einfache Stofftücher an der Decke die Räume untereinander ab. Ich folgte dem jungen Renbolder bis wir in einem Schreibzimmer angelangt waren und er nochmals nach meinem genauen Anreisegrund fragte.
Glücklicherweise hatte ich den Brief schon griffbereit. Das feine weiße Papier war zwar durch die Beschwerlichkeiten der Reise ein wenig geknickt, alles in allem aber noch in einem ausreichend guten Zustand geblieben. Ich hob das Papier an und wedelte wieder einmal damit herum. Nachdem er einen kurzen Blick auf das rote Wachssiegel aus Zandig geworfen hatte, stockte seine Stimme auf. "Oh, bitte wartet noch einen Moment. Ich .. kümmere mich darum. Das erwähnte er nicht."
Mit diesen Worten ließ er mich in der Schreibkammer allein und verschwand wieder in einem anderen Raum der Schwarzen Kathedrale. Um mich herum saßen bestimmt zehn Mönche mit Schreibfedern in der Hand. Im Schein großer Kerzen fertigten sie die Abhandlung eines kirchlichen Manifests neu an. Jeder einzelne Federschwung schien eingeübt und studiert, als ob sie nie etwas anderes gemacht hätten.
Einzig erwachsene Männer aller Alterklassen saßen um mich herum, von Greisen bis hin zu jungen Glaubensbrüdern. Keiner würdigte mich auch nur eines Blickes: Sie alle führten Federstrich um Federstrich aus, brachten Wort um Wort auf dem Papier nieder. Als mir die Warterei ein wenig zu lang wurde, stellte ich mich hinter einen von ihnen. Es schien den grauhaarigen Renbolder weder zu stören noch überhaupt zu kümmern, als ich ihm über die Schulter blickte und seine Arbeitsweise aufmerksam verfolgte.
Bevor er die Worte aufschrieb, malte er sie erst mit der freien Hand auf dem Papier auf. Sein ausgestreckter Zeigefinger drückte das Papier ein Stück weit ein, sodass er einfach nur nachzuzeichnen hatte. Auf diese Weise konnte er über hunderte Seiten hinweg gewährleisten, dass ihm kein einziger Fehler unterlief. Er mag nicht ganz so schnell gewesen sein, wie die Schreiber des Bibliaris-Orden, doch machte diese Männer ihre ausgeprägte Fokussierung und unnachgiebige Sorgsamkeit aus.
Was mir in diesem stillen Kämmerchen jedoch auch sogleich bewusst wurde – gut, dass ich nicht einem Orden des Renbold angehöre. Das hier war mitnichten eine Tätigkeit für mich. Zu schnell hätte ich die Geduld verloren oder einen Fehler gemacht. Es fehlte die Spannung und der Handlungszwang. Das hier .. war eine nötige Arbeit. Aber nicht meine Arbeit. Nicht mein Platz.
Umso erfreuter war ich, als ich endlich in ein Gesprächszimmer geführt wurde. Auf einem der zwei mit rotem Samt bezogenen Stühlen hatte sich bereits die Bischöfin Karolina zur Ringtsa platziert. Ihr erhabenes Haupt war geprägt durch goldblondes, unter einem schwarzen Schleier verhülltes, Haar. Tiefe Augenfalten prangten unter ihren rehbraunen, großen Augen, in denen sich mancher Charmeur sicher verloren hätte. Ihre Lippen wirkten spröde, ihr Körper eingefallen, doch hatte sie immer noch eine gewisse Lebhaftigkeit in sich.
Bevor sie allerdings das Gespräch mit mir aufnahm, wandte sie sich an den jungen Bruder, der mich hereingebracht hatte.
"Julius, hast du mit ihr schon das Gebet abgelegt?"
"Ich, nein .. noch nicht, Herrin, verzeiht."
"Sehr wohl. Entferne dich." Sie blickte mich an, erhob sich aus dem großen Holzstuhl.
"Ich begrüße euch hier, Botin des Sôlerben. Ich bin die Bischöfin von Rabenfels, Karolina zur Ringtsa. Diese heiligen Hallen gebieten eine Ehrdarbietung an den Heiligen Renbold, wer auch immer seiner Aufgabe in diesen Räumen nachkommt. Da mein werter Bewahrer diese Notwendigkeit hin und wieder vergisst, kommen wir in den Genuss gemeinsam zu beten."
Die Bischöfin ergriff höchstpersönlich den kleinen an der Seite stehenden Tisch. Mit einem Streichholz entzündete sie den auf einem Silbertablett liegenden Räucherstaub und kniete sich davor nieder.
"Ich hätte euch gern für dieses Gebet in die große Halle eingelassen, doch ist sie leider momentan besetzt, Kind. Nimm daher an meiner Seite Platz."
Ich nickte knapp. "Sehr wohl, Eure Exzellenz. Habt Dank für Eure Zeit und die Ehre des Gebets."
"Schweig Still, Kind. In dieser Kathedrale spricht nur die ranghöchste Person das Gebet, dies bin am Ende immer ich. Ich will keinen Laut von dir hören. Nimm Platz." Sie deutete wieder neben sich.
Ich versuchte so leise, wie es mir eben möglich war, neben der Bischöfin auf die Knie zu gehen. Gerade als ich mich neben ihr niedergelassen hatte, begann sie ohne Umschweife die heiligen Worte der Schwarzen Kathedrale zu sprechen.
Ich eilte mich die Hände an meine Brust zu legen und ihr ohne einen Laut nachzusprechen.
In diesen dunklen Hallen,
liegen wir in Ehrfurcht zu Boden,
damit der Schlaf uns in dein Reiche trägt.
In dieser Kathedrale des süßen Schlafes,
knien wir in tiefer Trauer nieder,
um den Verstorbenen zu gedenken.
In diesem Gemäuer des Renbold,
versuchen wir dem Reiche Deyn Cadors
näher zu kommen und den Seelen
der Vergangenen über die Schlucht Dysmar
zu verhelfen.
In diesen dunklen Hallen
beten wir zu Renbold und seinen Untergebenen.
Wir sind die Diener des Todes,
kehren ein mit den Gestorbenen, um das Leben
erträglich zu machen.
Die Vergänglichkeit holt uns am Tage,
wie in der Nacht, ein.
Ihr süßer Beigeschmack lässt uns an Renbolds Seite
pilgern und dort in stummer Pose verharren.
In dieser Kathedrale des süßen Schlafes
gehen wir mit geneigtem Haupt entlang der Trauer,
um den Verbliebenen bei ihrem Leid zu helfen.
In diesem Gemäuer des Renbold sind wir Lebenden
unter der Hand des Heiligen versammelt,
vereint in ewiger Trauer und stetem Aufbruch in das Reich Deyns.
Sei unser verhüllter Wegweiser und akzeptiere unsere milde Gabe,
du stummer Hüter aller Seelen.
Amen.
Wir beendeten unser Gebet ebenso abrupt, wie es begonnen hatte. Die Bischöfin stand auf, blies einmal über das Silbertablett und ließ die kleine Flamme erlöschen. Danach nahm sie wieder auf ihrem Samtstuhl Platz und sah zu mir hinauf.
Ich hatte den Brief an die Bischöfin bereits griffbereit und händigte ihr ihn aus. Mit ihren langen Fingernägeln öffnete sie eine Seite, ohne das Siegel auch nur zu beachten. Sie faltete die zwei Seiten besten Papiers auseinander und las sie zügig vor meinen Augen durch.
"Sei bedankt, Kind. Du kannst gehen." Ich deutete eine tiefe Verneigung an und wandte mich um. Ich hatte gerade die ersten Schritte wieder in Richtung des Schreibsaales gemacht, als ihre Stimme hinter mir an den Wänden verhallte.
"So schnell nun auch wieder nicht." Mit einem vielleicht etwas zu fragenden Gesichtsausdruck drehte ich mich wieder um, trat wieder auf die Bischöfin zu. Ich nahm Haltung an, während sie die Briefe auf der verbliebenen Glut des Silbertabletts platzierte. Das Papier fing langsam Feuer, die Spur der Flammen arbeitete sich langsam von einer Ecke über die gesamten Seiten bis sie gänzlich lodernd vergingen.
"Ich würde dich eigentlich bitten Sir Walter meine Grüße auszustellen, doch bist du offenbar eingeweiht. Victor ist ein alter Bekannter. Wäre ich nicht hier gefangen, würde ich ihn wohl gar einen Freund nennen."
Sie zuckte ein wenig mit den Schultern.
"Wie dem auch sei, hast du offenbar in meinen Rängen noch einen Auftrag. Bruder Olvius steht nicht länger unter unserem Schutz. Bleib noch ein wenig bei mir, dann treffe ich die restlichen Vorbereitungen. Es kommt schließlich selten vor, dass Victor einen Gefallen einlöst."
Sie lächelte hinterhältig auf, rief nach einem ihrer Untergebenen. Dieser trat sogleich in den Raum, kniete vor ihr nieder und wurde nach einem geflüsterten Befehl wieder entlassen.
"Ich würde dir den Stuhl anbieten, Kind, doch zerschandelt deine Rüstung ihn nur. Sag, wie kommst du in den Genuss dieses verbotenen und geheimgehaltenen Wissens? Und hör doch endlich auf so steif herumzustehen."
Ich ließ von meiner angespannten Haltung ab. Meine Arme verschränkte ich vor meiner Brust während ich den kritischen Blick der Bischöfin ebenso vorsichtig musterte, wie sie mich. Ich wusste nicht viel mit ihr anzufangen, konnte ihre Intention nicht einschätzen, doch wollte ich ihr die Antwort nicht verweigern. Ich konnte es auch gar nicht mehr.
"Eure Exzellenz, im Laufe meines Dienstes für den Orden erfuhr ihr allerhand verborgene Informationen. Ich traf Sir Ripel mehrfach und letztlich .. weiß ich, wie es geschehen ist. Ich war .. dabei."
Bischöfin Karolina zur Ringtsa fuhr sich mit dem Finger über die tiefen Mundfalten, die immer stärker anzogen, je mehr ich erzählte. Sie war offenbar fasziniert, lehnte sich ein Stück nach vorn.
"Du warst dabei, Kind? Ich würde zu gern davon hören, doch muss ich wohl bis zu Victors nächstem Besuch damit warten. Ich gebe dir meinen Segen mit auf deinen Weg. Ich hoffe du hast verstanden, was dir Victor sagen wollte, als er dich an seine Seite gezogen hat. Wenn nicht, wirst du es hoffentlich rechtzeitig verstehen. Ich .. war leider damals nicht schnell genug, deswegen darf ich in diesem Loch von Stadt residieren. Sag mir, Kind, wie ist diese Welt da draußen momentan? All das Unbekannte?"
"Es .. Es ist .. Es ist.. "
Ich brauchte einige Anläufe, um die richtigen Worte zu finden. Als ich sie aber endlich hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich berichtete ihr das, was ich über diese Welt wirklich dachte. Das, was ich dachte verstanden zu haben. Das, was ich dachte lieben gelernt zu haben.
"Dort draußen stehen die grausamen Schrecken und die ungebändigte Faszination, der große Wille der Menschen, unser Drang nach Leben und Fortschritt, in einem ewigen Kampf. Jeder Tag bringt neue Abenteuer, jede Nacht neue Gelegenheiten. Wir kämpfen Seite an Seite, manchmal gegeneinander, manchmal miteinander. Wir hoffen, dass das Licht des nächsten Tages fruchtbarer als das des vorherigen ist. In jedem Atemzug versuchen wir unsere Heimat, unseren Wohnort, unsere Welt nach unseren Bedingungen zu gestalten. Wir gehen soweit, dass wir dabei scheitern, wieder aufstehen und wieder scheitern. Und diejenigen, die es endlich schaffen, werden zu unseren Helden. Zu jenen glücklichen Kameraden und Vorbildern, denen wir ewig nacheifern. Es ist wunderbar herrlich, jeder Atemzug ist ein Geschenk der Freiheit, jede Tat ein Wunder Deyn Cadors und jede Hoffnung ein neuer Grund weiterzumachen. Egal, welche Verzweiflungen uns gegenüberstehen mögen, egal welche Kräfte uns aufhalten wollen, egal welche chaotischen Dämonen unser innerstes Selbstbild zerreißen wollen, wir machen weiter."
Ich war selbst verwundert, wie weit ich mit meiner Antwort ausgeholt hatte.
"Verzeiht, falls meine Antwort anmaßend gewesen sein sollte. Oder ich euch .."Die Bischöfin hob die Hand, um mich zu unterbrechen.
"Genug, Kind. Du musst dich nicht entschuldigen, schließlich habe ich dich gefragt. Ich verstehe langsam, warum du diese Reise antrittst. Trotz all deiner Zerissenheit, deines Schmerzes und deiner Leiden. Aus dir quellt so viel, mein Kind. Halte es nur im Zaum und gehe deinen Weg. Ich .. "
Sie zögerte ein wenig mit ihrer weiteren Ausführung, warf einen Blick aus einer Seitentür und setzte ihren Satz fort.
"Ich werde dir zumindest einen Teil deiner Aufgabe in dieser Stadt abnehmen. Damit ist Victors Gefallen ein wenig übermäßig erfüllt. Ich bin mir sicher, dass wir beide uns seine Beschwerde eines Tages anhören dürfen, aber ... um mit äußerstem Tapfer und glänzendem Mut die wahre Schlacht zu bestehen."
Sie lächelte mich in einer bestrahlenden Weisheit und Güte an. Ich war einerseits von dieser markanten Frau eingenommen und beherrscht. Andererseits verspürte ich ein mulmiges Gefühl in der Brust, mehr aufgrund ihrer menschlichen und helfenden Präsenz, als aufgrund eines Misstrauens. Sie hätte mir alles abverlangen können, ich hätte ihr vermutlich zugestimmt.
Stattdessen beendete sie unser Aufeinandertreffen so abrupt, wie unsere Begegnung.
"Geh nun Kind, geh nun Amélie, ich habe mich um diese eine Sache gekümmert. Ich werde hier gespannt abwarten, was auf dieser Welt passieren wird. Was du auf dieser Welt machen wirst."
Ich verabschiedete mich mit einer tiefen Verneigung. "Eure Exzellenz, ich danke euch. Ich hoffe, dass wir uns eines Tages Wiedersehen."
"Das werden wir, Kind, das werden wir."
Daraufhin ließ ich die Bischöfin zurück. Ich kehrte in die Schreibkammer zurück und wurde kurz darauf vom Stillen Bruder Julius aus der Schwarzen Kathedrale hinausbegleitet. Er winkte mir noch ein Stück des Weges hinterher.
In Gedanken versunken trat ich nur noch den Rückweg zu meiner Gaststätte an. Ich nahm mir eine kleine Schüssel des Eintopfes mit auf mein Zimmer, verriegelte die Tür und vertiefte mich in die Worte der Bischöfin. Die halbe Nacht lag ich wach. Erst, weil ich nicht verstand. Dann, weil ich nicht verstehen wollte. Als ich schließlich aufgab und kurz davor war mich meinen Albträumen hinzugeben, überprüfte ich den Empfänger des nächsten Briefes. Es würde in die beschauliche Bühlmark gehen. In der Nähe von Auenthal lag das Archivarium Planetarus, eine weitere Stätte der Domenica. Was hat Sir Saltzbrandt mir da nur aufgetragen? Zugestellt werden sollte dieses Schriftstück an den Biblius Otto-Karl Truntz, offenbar ein Kindheitsfreund von Saltzbrandt.
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"Nicer Cock, Schussi" - Christian, 06.12.2019
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