20.02.2021, 04:49 AM
XXVII – Archivarium Planetarus
23.06.1352 Ich verließ Rabenfels noch am selben Abend. Über den selben Weg, über den ich die Stadt betreten hatte, kam ich auch wieder heraus. Ein Frachtkahn auf der Prage bot mir eine gute und sichere Möglichkeit während der langsam einbrechenden Dämmerung flussaufwärts zu fahren. Wenn man es genau nimmt, war es auch der einzig sinnvolle Weg aus Rabenfels heraus. Die wenigen Bergpfade, die durch die Gipfel des Kaphatgebirges führten, waren unbefestigt und gefährlich. Ich brauchte letztlich auch nicht lange auf dem großen Schiff zu bleiben, welches gemahlenes Getreide aus Linnigh ins Zentrum des Landes transportierte und just seinen Rückweg angetreten hatte. Lediglich einige Stunden verbrachte ich an Bord, bis wir das Kaphatgebirge hinter uns gelassen hatten. An der erstbesten Stelle hinter den grauen Felsen ging ich von Bord, um direkt auf Yukis starken Rücken aufzusatteln. Während meines Aufenthalts an Deck konnte ich einige Zeit mit dem Kapitän und seiner spärlichen Besatzung verbringen. Seit Jahren fuhr er immer auf derselben Strecke, lade immer in Kornfall Getreide ein, um es nach Rabenfels zu bringen. Doch in den letzten zwei Jahren, insbesondere in den vergangenen Monaten, sei ihm eine unangenehme Spannung im Süden des Landes aufgefallen. Die während des Krieges niedergebrannten Höfe und Landgüter waren noch nicht lang wieder hergerichtet; der Krieg hatte dem Süden Tasperins schließlich stark zugesetzt. Dafür bahnte sich eine neue Auseinandersetzung mehr und mehr an. Bauern wurden zur Arbeit eingezogen, um die Befestigungen an der Grenze zu Sorridia wiederzuerrichten. Und auch die Bastionen an der Fallicer Grenze wurden verstärkt und befestigt. Junge Burschen gingen nicht mehr in den Betrieben arbeiten, heuerten nicht mehr auf Schiffen oder auf den Feldern an, sondern wurden in den Militärdienst einbeordert. Viele traten dem Heer Tasperins gleich selbst bei, schließlich war dies der einzige Weg an eine angemessene Bezahlung und Ausbildung zu kommen. Zwar hoffte dieser stramme Tasperiner auf eine Beruhigung der Lage, doch sah er sie nicht kommen. Mal eskalierte der Konflikt auf der einen Seite, ein anderes Mal auf der Gegenseite. Er wünschte sich, wie so viele, einfach nur Frieden. Damit er ein ruhiges Leben mit seiner Frau führen konnte. Damit er seinen Kindern beim Aufwachsen zusehen konnte. Damit er nicht jeden Abend mit von Schrecken geplagten Gedanken ins Bett gehen musste. Ähnlich sahen es die wenigen verbliebenen Matrosen. Sie führten kein wohlhabendes oder besonders aufregendes Leben, aber immerhin waren sie zufrieden. Sie selbst sagten, dass sie glücklich waren. Aber was soll Glück schon sein? Wer darf es finden oder .. wer kann es überhaupt? Wenn das Schicksal und die Ordnung den Weg blockieren, wird dieses Glück unerreichbar. Ich hoffte, dass diese frommen Männer und ihre Familien ihr Glück finden, ihr ruhiges Leben bekommen und am Ende mit einem Lächeln in Deyns Reich eintreten können. Aber ebenso sehr, wie ich es ihnen wünschte, bezweifelte ich, dass es jemals so kommen würde. Das Lastenschiff machte hinter den großen Hügeln des Kaphatgebirges einen kleinen Halt, um neue Vorräte einzulagern. Außerhalb des Gebirges waren die Preise um ein Vielfaches niedriger, ganze Dörfer hatten sich auf die Versorgung und Ausstattung der Schiffsbesatzungen spezialisiert. Manch eine Familie verdingte sich ausschließlich diesem Zweck, waren die Preise in Rabenfels für viele schlichtweg unerschwinglich. Ich nutzte meine Gelegenheit und ging mit Yuki von Bord, bedankte mich noch einmal ausgiebig bei der Besatzung für die Mitfahrgelegenheit und verbrachte die Nacht in einer Gaststätte im kleinen Dorf Kulmestal. Nach der kurzen Überfahrt betraten meine Füße zum ersten Mal in meinem Leben den Boden der Bühlmark. Die grünbraunen Böden der Region waren für ihre Viehzuchten und weit auslaufenden Berghänge bekannt. Am östlichen Ende Tasperins lag das Fahlgebirge mit seinen einnehmenden Berggipfeln, von denen viele vermutlich niemals erklommen werden. Eingebettet in einem großen Bergtal an den Gipfeln eben jenen Gebirges lag die Stadt Auenthal, Hauptstadt der Bühlmark. Nördlich von ihr mein Ziel: Das Archivarium Planetarus. Es kostete mich wenige Tage Reisezeit bis ich in der Stadt Perwich ankam. Die vor allem durch den Bergbau und einige Industriebetriebe geprägte Ortschaft war vergleichsweise, besonders für die Bühlmark, belebt. Händler zogen umher und ganze Karawanen aus Ochsenkarren brachten die erzeugten Waren an die Prage oder direkt über den Fluss weiter in die Herzlande Tasperins. Perwich bot für den Unkundigen keine größeren Sehenswürdigkeiten oder Errungenschaften, auch war es keine Stadt in der meine kulinarische Ader besänftigt werden konnte. Das liebliche Städtchen offenbarte mir allerdings eine Möglichkeit meine Vorräte aufzustocken und einen kurzen Bericht an Sir Saltzbandt zu übersenden. Mein lokaler Mittelsmann war ein dicklicher Ordensbruder, der den ganzen Tag damit beschäftigt war einen großen Suppentopf immer wieder mit allerlei Zutaten zu füllen. Nach einigen Stunden des Umherrührens verteilte er den Eintopf, oder die Suppe, an die Obdach- und Mittellosen der Stadt. Selbstverständlich genehmigte er sich hin und wieder eine oder gleich drei Schöpfkellen als Kostprobe. Die Bedürftigen sollten schließlich nur ausgewählte und köstlich schmeckende Almosen bekommen. Mit einem vielsagenden Schlag auf seinen dicken Bauch, nahm er meinen Brief an sich. Er schob ihn unter seine braune Kutte, legte ihn zwischen seinen Bauchfalten ab und ließ die Robe wieder hinabsinken. Ich war von der ganzen Vorstellung ein wenig irritiert, ließ mich aber nicht von meinem Ziel abbringen. Sir Saltzbrandt hatte diesen Mann hoffentlich nicht ohne Grund auserkoren, um als gesicherter Überbringen von Nachrichten zu fungieren. Es war zwar nur ein kurzer Sachstand, den ich nach Zandig sandte, aber ein Wichtiger. Immerhin waren bereits Monate vergangen, seit ich die Kurmark verlassen hatte. Von Perwich aus verschlug es mich auf die großen braunen Hügel der Bühlmark. Das Land raute spürbar auf, Yuki und ich liefen entweder die ausgedehnten Hügel hinauf oder direkt wieder hinunter. Das Gebiet um Auenthal zeigte sich besonders unwegsam und naturbelassen. Straßen gab es nur durch das große Tal direkt in die Stadt hinein. Da ich mich allerdings entschlossen hatte nicht auf einer der belebten Verkehrswege zu verkehren sondern den schnelleren Weg entlang der Gipfel zu nehmen, musste ich schwierige und teils ruppige Strecken in Kauf nehmen. Yuki meisterte sie zwar alle mit Bravour, doch wurde er Tag um Tag sichtlich müder und ausgelaugter. Die Anstiege machten ihm zu schaffen, manchmal sogar so sehr, dass ich abstieg und für ein paar Stunden neben ihm herlief. Als wir jedoch endlich in Auenthal ankamen, vergönnte ich meinem kräftigen Zweibacher eine Pause von einer halben Woche. Während ich mich in einer Ordensunterkunft einquartierte, übergab ich ihn einem Hufschmied und anschließend einer engagiert wirkenden Stallmeisterin. Yuki bekam neue Beschläge mitsamt ausgiebiger Streichel- und Pflegeeinheiten. Ich nutzte die Zeit unterdessen, um mich in der Bibliothek der Stadt über die neuen Entwicklungen in den Unbekannten Landen sowie meiner Heimat einzulesen. Dank Auenthals überregionaler Bedeutung gab es ausreichend Bücher und Berichte, manche davon waren gar erst ein halbes Jahr alt. Meine Ordensbrüder und -schwestern teilten mir zwar hin und wieder per Brief den Stand über den Kampf der Kolonien und die Lage auf Neu Corethon mit, doch passen in die wenigen Zeilen meist nur kurze Beschreibungen. Hier fand ich ausführliche Berichte und Erklärungen über die Geschehnisse, manchmal sogar mit Notizen und Anmerkungen über die politische Bedeutung und Relevanz einiger Taten. Was mich allerdings deutlich mehr bewegte, als ich gedacht hatte, waren die Veränderungen an der La Jonquera. Bohemund de Corastella schien innerhalb des Ordens aufzuräumen und meine alte Heimat umzubauen. Seine Widersacher räumte er, wie immer schon, eiskalt aus dem Weg. Ich wusste, dass ich einerseits nicht mehr daran vorbeikam, ihm einen Besuch abzustatten. Andererseits wollte ich ohnehin noch einmal meine alte Heimat, die erste Stätte meines Wirkens, aufsuchen. Ich wusste schließlich nie, wann es das letzte Mal sein würde. Mit dem Hochmeister der patrischen Mikaelaner hatte ich zwar alles andere als ein Problem, vielmehr waren wir über die Jahre immer wieder aufeinandergetroffen und hatten einander ausgeholfen, es bereitete mir dennoch ein gewisses Kopfgrübeln. Brach er gar in einem verquerten Schuldbewusstsein auch mit alten Verbündeten? Wenn ich mich denn überhaupt als eine solche bezeichnen konnte. Egal welche Möglichkeiten sich mir offenbarten, am Ende blieb nur – wie immer – die reine Konfrontation. Ich würde zu ihm reisen müssen und sehen, wie er reagiert. Entweder er erinnert sich an die offenen Gefallen zwischen uns in guter Erinnerung oder im genauen Gegenteil. Egal welche Richtung seine Antwort einschlagen würde, ich brauchte seine Hilfe. Nur mit dieser könnte ich bei den Sorridianern für ein wenig Nachsicht sorgen und um Unterstützung bitten. Nur mit Hilfe meiner alten Ordensbrüder könnte ich diesen verfluchten Buchhändler namens Buji Beg finden; wo auch immer er sich herumtreiben möge. Nach unserer kurzweiligen Pause, die mich aufgrund des belebten Umfelds durchaus auch einige Kraft gekostet hatte, nahm ich mit Yuki die letzte Tagesreise zum Archivarium Planetarus auf. Entlang bewaldeter Wiesen und Abhänge führte uns eine enge Straße entlang mehrere Berge und teilweise sogar an einer kleinen Schlucht vorbei. Am frühen Nachmittag kamen wir an jener Heiligen Stätte der Heiligen Domenica an, nachdem wir bereits in den frühen Morgenstunden aufgebrochen waren. Vor mir erstreckte sich der mittlerweile zu einer ganzen Lehrstätte angewachsene Forschungsturm mit seinem ausgefahrenen, gläsern-kupfern schimmernden Himmelsfernrohr. Links von mir lag die große Bibliothek aus fein verputztem Backstein, in denen die zweitgrößte Sammlung aller astrologischen Schriften des nördlichen Leändriens gelagert werden sollte. Rechts von mir befanden sich mehrere einstöckige Bauten voller Schlaf- und Lehrräume. Wie ein großes Stück Mauer lagen sie um den großen Holzturm mit seinem Himmelsrohr verteilt. Auf dessen Spitze wurde eine zum Teil aus Metall geformte Kuppel errichtet, in deren Inneres das Fernohr mit dem Blick in die Sterne aufgebaut wurde. Dank zweier großer hölzerner Schiebetore konnte die Kuppel bei schlechten Witterungsbedingungen allzeit verschlossen werden. Und schlechtes Wetter gab es hier in den Ausläufern des Fahlgebirges ständig. Auch als ich ankam, begann sich gerade ein neuer Regenschauer über dem Gebirge zusammenzubrauen. Zum Glück; oder vielmehr dank meines rechtzeitigen Eintreffens; konnte ich Yuki gerade noch an einer Holzleiste anbinden und Schutz in einem der großen Lehrsäle suchen. Krachend kündigten sich die Blitze an. Ein irrgewaltiger Donner schickte seine Rufe über die Hügel bis das helle Aufschreien von Sôlerbens Zorn in der Erde niederging. Ich verschloss schnell die Tür hinter mir und suchte mir ein lauschiges Plätzchen inmitten des mit Tischen, Stühlen und Tafeln vollgestellten Saales. Außer mir befanden sich noch ein halbes Dutzend in wetterfeste Lederkleidung gehüllte Sternenkundler in dem Raum. Drei von ihnen debattierten über eine neu gefundene Konstellation. Zuerst konnten sie sich nicht über den genauen Zeitpunkt der Entdeckung einigen, dann stritten sie sich über den Namen und die Gewinnverteilung der Belohnung. Schlussendlich einigten sie sich auf den Namen der älteren Schwester eines der Wissenschaftler. Die andere Hälfte saß stillschweigend vor Büchern oder zeichnete mit dem Kreidestift mehrere Kreise und anschließend unverständlich lange Zahlenreihen an die Tafel. Ich konnte nur in leisem Staunen durch den Saal schreiten; und ihn ebenso schnell wieder verlassen. An seiner Rückseite kam ich auf einen kleinen Flur, von dem aus weitere Lehrstätten und Aufenthaltsräume erreichbar waren. Draußen fuhren weitere Zornesrufe Sôlerbens in die Erde ein, während der Regen mit ungeahnter Stärke gegen die Scheiben prallte. Ich klopfte vorsichtig an die erstbeste Tür zu meiner Rechten. Mit einem dumpfen Laut hallte es "Eh.. herein". Mit der linken Hand drückte ich die Türklinke hinab, zog die Tür nach außen auf und betrat den Raum. Im Inneren saß, eingebaut in einen Stapel aus Büchern, ein junger Herr im Schneidersitz auf dem Boden. Die Bücherstapel überragten ihn knapp. Vor seinen Beinen lagen mehrere mit kleinen Zetteln beklebte Werke offen da. Selbst in seinen Händen hielt er jeweils ein Buch. Tatsächlich schaffte er es trotz seiner gefüllten Hände irgendwie furios umzublättern, als hätte ich ihn gerade mitten in einer wichtigen Suche unterbrochen. Ohne zu große Aufmerksamkeit erregen zu wollen, trat ich ein paar Schritte auf den jungen Mann zu. Die Buchrücken trugen allesamt Aufschriften zu astronomischen Abhandlungen, Sternenkonstellationen, Raumkörpern oder sonstigen Dingen, die in einem Planetarium sicher nützlich sein können und mir vollkommen fremd waren. In zwei der aufgeschlagenen Bücher erkannte ich die Zeichnungen der Planeten um Athalon herum, mit etwa der gleichen Präzision, wie sie auch im Forscherhaus meines Ordens aufgestellt waren. Als ich mich vor dem Stapel niederkniete, blickte mich der darin lungernde Forscher plötzlich an. Aus der Nähe wurde deutlich, wie gerötet seine Augen und eingefallen seine Wangen waren. Trotzdem blitzte etwas in ihm auf, als er mich ansprach. Oder war es nur der Blitzschlag auf der anderen Seite der Glasscheibe? "Sagt Mal, ihr kennt nicht zufällig die genaue Distanz zwischen Carviel und Schwarzwasser? Nicht in Tagesreisen natürlich, die exakte Distanz. Oh und der Schatten der Bastion des Westens würde mich auch interessieren. Vielleicht so ab 13 Uhr Mittag? Aber besser noch über den Tagesdurchschnitt. Könnt ihr mir das Buch dafür aus der Bibliothek holen?" Ich öffnete während seiner Ausführungen einmal kurz den Mund. Eigentlich wollte ich ihn unterbrechen. Aus irgendeinem, mir rückblickend nicht ganz erschließenden, Grund ließ ich es aber sein. Er sprach seine mir völlig wirr vorkommenden, ihm aber sicherlich absolut logischen, Bedürfnisse aus. Und ich hörte zu. Als er fertig war, schüttelte ich freundlich, aber bestimmt den Kopf. "Ich bin nicht euer Dienstmädchen. Zu mal ich nicht einmal wüsste, wonach ich zu suchen hätte. Da ihr mir eure Fragen gestellt habt, kann ich euch sicher auch ein paar Fragen stellen." Ich lächelte vorsichtig. Der junge Wissenschaftler sah mich absolut entrüstet an. In einer leichten Wut presste er die Kiefer aufeinander, schnaubte einmal leise aus und wiederholte meine eigenen Worte. "Ich bin nicht euer Dienstmädchen!" Danach wandte er den Blick von mir ab, schielte mit einem Auge aber weiterhin meine Richtung. Ich griff das ganz oben auf dem linken Buchstapel liegende Buch, drehte es seitlich und schlug es ihm für diese Frechheit sachte gegen den Kopf. Dieses Mal wirkte er wirklich erschüttert. Sogar so sehr, dass er das Gleichgewicht in seiner Sitzhaltung verlor. Er wollte sich wehren. Das ging aber deutlich schief. Mit den Armen holte er nach dem rechten Buchstapel aus, rutschte dabei aber irgendwie ungeschickt zur Seite und räumte beide Büchertürmer ab, sodass sie ihn unter sich begraben. Ein dumpfes Geschwätz der Wut ertönte unter dem Berg aus Papier und Ledereinband, bis der junge Herr darunter wiederauftauchte. "Wie könnt ihr es wagen! Wie könnt ihr es wagen, wagen, wagen! Wisst ihr überhaupt wer ich bin?" Ich schüttelte sanft den Kopf. "Ich habe nicht die geringste Ahnung, werter Herr. Aber ich bin mir sicher, dass ihr es mir sogleich mit stolz erhobener Brust mitteilen werdet." "Und wie ich das werde! Ich lasse mich doch von einer Silvanerin nicht verhöhnen! Ganz bestimmt werde ich das nicht! Ich bin Alejo el Ortega! Ganz genau, der Sohn des Visconte el Ortega! Und in meinen Forschungsarbeiten unterbricht mich eine gewöhnliche Silvanerin! Identifiziert euch, aber auf der Stelle." Mit einem leichten Schwung beförderte er den Großteil der Bücher von seinem Körper. Mühselig richtete er sich auf, blickte mich an und steckte seine Zunge heraus. Wie ein kleines, unerzogenes und beleidigtes Kind. Wenn ich recht darüber nachdenke, verhielt er sich auch genau so. Der werte Sohn des Viconte el Ortega bot mir aber einen ungeheuren Vorteil. Selbst wenn er hier, wenn man es genau nimmt, keinerlei Sonderrechte oder Bevorzugungen genießen dürfte, sah die Realität anders aus. Natürlich wurde der Adel gegenseitig geachtet und respektiert. Ein gemachtes Bett im Austausch für ein gemachtes Bett, so einfach. Wer sich nicht an diese Regel hielt, über den konnte man sich beschweren. Die Strafen fielen stets drakonisch aus, damit sich niemand erst beschweren muss. Außer man konnte mit dem werten Sohn des Visconte el Ortega in seiner Muttersprache verkehren. Ich wechselte daher, um seiner Hochwohlgeborenheit dienlich zu werden, ins Sorridianische. Eine Tat, die ihm merklich zusagte und unsere kleinere Streitigkeit schnell beendete. "Verzeiht bitte, werter Visconte. Wie hätte eine bloße Ordenskriegerin, wie ich, denn nur ahnen können wem sie gegenübersteht?" Ich hielt ihm meine Hand hin, stand selbst auf. Überrascht von meinem plötzlichen Sprachumschwung schaute der junge Wissenschaftler deutlich entspannter drein, nahm sofort mein Angebot an und ließ sich aufhelfen. Mit beiden Händen klopfte er den Staub von seiner Kleidung. "Ihr! Ihr sprecht, momentan, das ist doch auch ein .. natürlich ist es das. Ein patrischer Dialekt. Sagt etwa, kommt ihr auch aus meiner Heimat?" Ich nickte knapp. "Wenn das so ist, dann, dann .. sei euch verziehen. Ich verlange dennoch, dass ihr euch auf der Stelle identifiziert. Es erklärt sich schließlich nicht meine Person gegenüber euch. Am Ende tragt ihr immer noch Silvanische Kutte!" Mit einer seichten Verneigung erklärte ich mich gegenüber dem Herren. Ebenso bot ich ihm an, dass wir gemeinsam seine Bücher aufheben können. Erst ein wenig zurückhaltend, dann aber einlenkend, nahm er an. Stück für Stück schlugen wir die geknickten Seiten halbwegs gerade und stapelten die Bücher auf einem Tisch inmitten des Raumes. "Amélie da Broussard, was sucht ihr hier an diesem Himmelsfernrohr?" fragte er nach unserer kleinen Aufräumaktion. "Lediglich den Biblius Otto-Karl Truntz. Ich habe eine Nachricht für ihn. Solange dieser Sturm aber wütet, werde ich ihn vermutlich nicht finden können." Ich deutete mit ausgestrecktem Finger auf den mittlerweile schlammverwüsteten Innenhof zwischen den Gebäuden. Der Regen prasselte weiterhin unablässig auf die Erde nieder. Blitz um Blitz traf auf den Boden, selbst wenn der Abstand zwischen den Donnerschlägen immer länger wurde. "Dann setzt euch so lange mit mir. Wie ihr richtig ahnen könnt, ist der Biblius zumeist in der Bibliothek. Es kommt selten vor, dass ich nicht im Tasperin verkehren muss. Ihr seid mir daher eine willkommene Abwechslung, Amélie da Broussard. Bleibt solang und lasst mich erzählen. Zuhören tue ich ungern, und ein guter Erzähler bin ich allemal. Heute habt ihr sogar ausreichende Gelegenheit euch das Thema meines Wirkens selbst auszuwählen." Der junge Adlige strahlte über beide Ohren, dazu lag dauerhaft ein Ausdruck einer gewissen Überlegenheit und Arroganz auf seinem Gesicht. Die herabblickende Art seiner Wortführung bedarf vermutlich keiner besonderen Erwähnung mehr. "Wäre eure Exzellenz so gut und mir würde mir von den letzten Geschehnissen in Patrien berichten?" Mit einem schauderhaften Grinsen, das nun wirklich eine Mischung aus Wahnsinn und wahnwitziger Euphorie zeigte, schaute er zu mir herüber. "Wie könnte ich euch diesen Wunsch verneinen, Silvanerin? Niemals könnte ich, nicht als Mann höchster Bildung. So höret mir genau zu, ich dulde keine Unterbrechung. Nachdem unsere Truppen in Fallice eingefallen waren und dort das südlichste Herzogtum Validonia bis auf den letzten Staub niedergebrannt haben, kam es zu einigen taktischen Missgeschicken. Die entsandten Truppen wurden, so wahr es Deyns Wille ist, überrascht und abgeschnitten. Offenkundig kam es zu einigen blutigen Gemetzeln, in denen die Fallicer als endgültige Verlierer hervorgegangen sind." Er knirschte etwas mit den Zähnen. "Es wäre jedoch falsch uns als Sieger darzustellen. Manch ein völlig ahnungsloser Historiker oder Chronist meint, dass niemand etwas von diesem Kampf gewonnen hat. Sie stellen selbst uns als Verlierer dar. Narren sage ich! Narren! Wir haben unserem Feind gezeigt, dass wir nicht länger mit uns umspringen lassen. Wir haben diese fallicischen Rebellen aus ihren Gebirgen und Ziegendörfern getrieben. Wir haben ihnen gezeigt, dass man das friedfertige Patrien nicht ungehindert angreifen darf! Wir haben ihnen bewiesen, dass südlich von Validazgebirge und Almasee keine Aufstände geduldet werden, schon gar nicht aus dem Norden!" Visconte el Ortega fasste sich theatralisch an die Brust. Er zog seinen Hut mit der anderen Hand für einen Augenblick ab, schluchzte hinein und stülpte ihn sich wieder auf den Hut. Ich sah mir seine Schauspielkunst nur schweigend an. "Aber unabhängig davon wurde das Aquädukt südlich von Olapaso fertig gestellt. Ein meisterliches Bauwerk sage ich euch, als wäre es von mir selbst entworfen worden. Aber dank Deyns Wille kenne ich den obersten Architekten sogar entfernt. Die Einweihungsfeier war wirklich phänomenal. Nur geladene Gäste durften auf das Areal, fast ausschließlich gehobene Bürger und der Adel. Einige Priester der Sorridianischen Kirche weihten die unteren Steinsäulen mit Weihwasser und schlossen sich dann dem ausgiebigen Gelage an. Ein Fest, sage ich euch, ein Fest. Aber bei solcherlei werdet ihr nicht einmal als Wache auf der Gästeliste landen." Er lachte kurz in seine Faust hinein, winkte dann direkt ab und schwallte weiter vor sich her. "Hinter dem Festzelt sollen sie sogar einige der diebischen Arbeiter gehangen haben. Ich hätte zu gern bei ihrer Verbrennung zugesehen, aber offenbar hat man die Kadaver sorgsam außerhalb unserer Augen entsorgt. Nunja, ansonsten war es eine gute Ernte im Güldental und auch die Weine sollen hervorragend gereift sein. Ich habe mir ein Eichenfass gefüllt mit einem guten roten Tropfen hersenden lassen. Mein Herr Vater schrieb mir, dass es bald eintreffen sollte. Vielleicht lasse ich euch auch ein halbes Gläschen kosten, schließlich können nur echte Zungen aus dem Land der Sonne guten Geschmack erkennen." Er holte tief Luft und musterte mich eine Weile. Ich nutzte diese Chance, schließlich wusste ich nicht, wann meine nächste kommen würde. Hatte er einmal seinen Redefluss erreicht, war es schwierig ihn zu bremsen. Unnötigen Ärger wegen eines patrischen Adligen wollte ich mir ebenfalls nicht noch weiter einhandeln. Zuletzt hätte ich deswegen wirklich mit ihm anstoßen müssen oder noch länger seinen ausufernden Erklärungen lauschen dürfen. Seine Berichte waren nicht gänzlich uninteressant, doch in dieser Form nicht das, wonach ich suchte. Ganz im Gegenteil. Ich sprang urplötzlich aus meinem Stuhl auf, schaute mich ein wenig aufgeschrocken um. Mit meinen Augen suchte ich keinen bestimmten Punkt. Mir war nur im Sinn irgendetwas fernab des Visconte zu fokussieren und dann "Habt ihr das auch gehört?" zu sagen. Natürlich war außer dem niederplätschernden Regen und dem Krachen des Donners kein Geräusch zu vernehmen gewesen. Mein kleines Manöveur erzielte jedoch seine Wirkung. Fragend blickte er sich ebenfalls um, sah teilweise sogar ein wenig erschrocken aus. "Was? Was soll ich gehört haben?" Ich legte den Finger auf die Lippen. Mit langsamen und gewagten Schritten trat ich auf die Tür zu, legte beide Hände an den Türgriff und wagte einen Blick in den Gang. Leise, unbedingt so leise, dass er es nicht hören konnte, murmelte ich letztlich die Antwort auf seine Frage. Dann verschwand ich zum Ende des Ganges. "Den Regen." Und genau dieser war mir mittlerweile egal geworden. Ich löste den Riemen an meinem Rundschild. Mit beiden Händen hob ich es über meinen Kopf, damit es mir wenigstens ein bisschen Schutz gewährte, während ich über den stellenweise völlig überfluteten Innenhof lief. Jeden Schritt versuchte ich doppelt so fest zu setzen, um nicht auszurutschen. Nebenher musste ich aufpassen, dass ich nicht doch in eine der tiefen Senken trat und ein nasses Bein riskierte. Natürlich passierte es. Vielleicht der kleine Ausgleich für meine Flucht vor wenigen Augenblicken. Mit dem rechten Bein stampfte ich direkt an den Rand einer Senke, schlitterte diese mit dem Bein hinab und fand mich beinahe bis zum Knie in einer schlammigen Pampe wieder. Angewidert zog ich mein Bein aus dem Wasserloch. Die Feuchtigkeit hatte bereits jegliche Stoffschichten und die Rüstung ohnehin durchdringen. Meine Kleidung klebte an der Haut, doch war es nun bereits geschehen. Ich zog mein Bein mit einem großen Schwung aus seinem feuchten Gefängnis. Dann kämpfte ich mich weiter, wenngleich deutlich langsamer und vorsichtiger, bis zur Bibliothek durch. Als ich an der Tür des großen Backsteingemäuers ankam, wurde mir direkt die Tür geöffnet. "Schnell, schnell, hinein mit euch. Hinein mit euch." Eine Ordensschwester und zwei Bedienstete brachten mich in den von mehreren Ölfeuern erhellten Empfangsraum. Sein Boden war halbwegs trocken gewischt, an der Seite standen mehrere Stühle und mit braunem Wasser gefüllte Eimer herum. Ein weiterer Helfer kam mit einem Stapel Tücher hineingelaufen und begann sogleich hinter mir aufzuwischen. Währenddessen verhalfen mir die freundlichen Domenicaner aus meinen Beinplatten. Sie schienen nicht zum ersten Mal jemanden schlammige und rutschige Beinschellen abzuschnallen, zumindest hatten sie auch sogleich ein paar Tücher zum Trocknen parat. Ich nahm mir meine Zeit und wischte Schlamm und Regenwasser aus Körper und Haar. Dann, nachdem meine Hose und meine Stiefel wenigstens notdürftig am Ölfeuer getrocknet waren, bat ich um den Biblius Otto-Karl Truntz. Ihn erwartete schließlich ein Eilbrief aus Zandig, wegen dem ich extra durch dieses fürchterliche Regenwetter gelaufen war. Mit einem tiefen Nicken bat mich die Ordensschwester ihr zu folgen. Meine Stiefel stellten sich nach wenigen Schritten als immer noch zu feucht heraus, sodass ich sie auszog und lieber barfuß durch die Hallen lief. Man sah mir diese kleine Unhöflichkeit aufgrund des wirklich beeindruckenden Unwetters vor der Tür zu meinem Vorteil ohne große Diskussion nach. Entlang mehrerer langer und bis zum Anschlag gefüllter Bücherregale mit einigen Arbeitsplätzen und etwa zwei Handvoll Schreibtischen für die Transkription folgte ich der älteren Dame. Dann wies sie mir den Weg zwei Treppen hinauf. Die hölzernen Gebälke waren schon etwas in die Jahre gekommen und quietschten bei jedem meiner Schritte auf. Meine Hand ließ ich über das alte Holz streifen, auf dem sich bereits eine kleine Staubschicht angesetzt hatte. Auf dem ersten Treppenabsatz blieb ich kurz stehen, um meinen Blick über das erste Stockwerk gleiten zu lassen. Mehrere kleine Balkone voller mit Schriftrollen gefüllter Regale grenzten hier die großen Zeichentische voneinander ab. An diesen saßen mehrere junge Dame, die allesamt mit metallenen Werkzeugen und eigens angefertigten Zeichenmaterialien Karten der Sterne anfertigten. Manch eine von ihnen war vielleicht gerade ein wenig älter, als Anna. Mit hauchfeinen Zeichenstiften setzten sie Punkt um Punkt auf den Sternenkarten, um dann mit Lineal, Zirkel und anderen Werkzeugen den nächsten Punkt auszumessen. Ich setzte meinen Weg nach oben fort und kam im zweiten Stockwerk, kurz unter dem Dachboden. an. An der Westseite des Gebäudes lag ein langer Gang mit mehreren voneinander abgetrennten Arbeitszimmern, die vermutlich den Würdenträgern des Archivariums gehörten. An der Ostseite saßen wiederum zwei junge Damen vor einem Teeservice. Sie waren gerade in eine redselige Unterhaltung vertieft und dabei sich Tee nachzuschenken. Vorsichtig schauten sie zu mir herüber, besonders auf meine nackten Füße. Entschuldigend schaute ich zurück. "Werte Damen, wärt ihr so gnädig mir mitzuteilen, wo ich den Biblius finde?" Zwei ausgestreckte Finger wiesen mir einen Weg, den sich jeder vermutlich denken konnte. Der Biblius saß in einem der geräumigeren Arbeitsräume auf einem großen Eichenstuhl ohne jeden Stoff- oder Lederbezug. Durch ein kleines Fenster an der Innenwand sah er mich bereits an, bevor ich anklopfte. Weit lächelnd sprang der grauhaarige, dünne Mann auf. Seine rauchige Stimme entstand vermutlich durch jahrelangen intensiven Konsum des Tabaks, der in der Luft des Raumes lag. Seine Augen wirkten ein wenig glasig, wenngleich ihr blauer Schein noch immer erhalten war. Was Biblius Otto-Karl Truntz aber wirklich auszeichnete war die große Tätowierung auf seiner Stirn: Ein siebeneckiger Stern mit kleinen Beschriftungen auf Alt-Sorridianisch. Bevor ich ihn fragen konnte, oder er eine Vorstellung zuließ, kam er auf seine Gesichtsverzierung zu sprechen. "Ich weiß, dass es mittlerweile zwölf Himmelskörper mitsamt der Sonne im Zentrum sind. Als ich dieses Bildnis als junger Knabe habe machen lassen, waren wir noch nicht so weit. Oder ich noch nicht." Er grummelte ein wenig vor sich hin. Mit einem Lächeln wollte ich ihm die schlechte Laune nehmen. "Ehrenwerter Biblius, seid begrüßt. Ich bin Amélie da Broussard, vom Sôlaner Orden. Ich bringe Euch einen Brief aus Zandig." Mit diesen Worten verneigte ich mich knapp und übergab ihm den mittlerweile einmal halb gefalteten Briefumschlag. Sein Siegel war dennoch ungebrochen geblieben. Auch der Umschlag war alles in allem noch unversehrt. "Her damit" grummelte er zurück. Biblius Truntz besah den Umschlag, rupfte ihn dann ohne jegliche Vorsicht an der Seite auf. Er zog das schneeweiße Papier heraus und legte es auf den Tisch. "Oh, der ist von Vico!" Seine Stimmung wandelte sich sogleich. Auf seinen Lippen erschien ein leichtes Lächeln, als er sich den Brief von "Vico" zu Gemüte führte. Ich fragte vorsichtshalber doch nach, obwohl ich ihn eigentlich erst nicht stören wollte. "Sagt, habt ihr Sir Saltzbrandt gerade Vico genannt?" "Ja, natürlich. Vico und ich sind alte Kindheitsfreunde. Unsere Arbeiten haben eigentlich nichts mehr miteinander zu tun. Aber hin und wieder schicken wir uns doch Briefe, um in Kontakt zu bleiben." Stolz hielt er mir den Brief entgegen. Dieser war so gar nicht das, was ich von einem persönlich zu übergebenden Brief aus der Londanor Tempelfeste erwartet hätte. "Vico" begrüßte "Öttchen" ausgiebig und erkundigte sich dann nach dem körperlichen Zustand seiner drei Fahlgebirgler Hunde. Er schrieb von gemeinsamen Kindheitstagen, in denen die beiden in der Kurmark umhersprangen und miteinander spielten. Mehrere Ausflüge an nahegelegene Bäche und Seen mit ihren Vätern und den verbliebenen Großeltern, besonders zum Angeln und Muschelsammeln, hatten die beiden offenbar als Kinder zusammengeschweißt. In ihrem kleinen Heimatdorf gab es nicht wirklich viel, womit man sich die Zeit vertreiben konnte Aber sie hatten einander. Es wirkte schon fast, wie ein rührende Geschichte auf mich. "Vico und Öttchen". Man darf hier nur nie vergessen, dass es sich um den Hochmeister der Sôlaner und einen Biblius des Bibliaris handelt. Wir alle tragen aber vielleicht noch einen kleinen Rest Kind in uns? Manchmal ist es wohl besser so. Sir Saltzbrandt lud seinen Kindheitsfreund im kommenden Jahr nach Zandig ein. Er würde für alle Transporte und Unterkünften Sorge tragen. Eine Reitereinheit würde zurück nach Zandig reisen und ihn auf dem Weg mitnehmen. Otto-Karl hatte nur sein Reisegepäck rechtzeitig bereitzustellen und den nächsten Brief von Sir Saltzbrandt abzuwarten. Erst sah ich den Sinn in einer persönlichen Zustellung nicht. Wohlmöglich wollte Victor Saltzbrandt nur sichergehen, dass der Brief auch wirklich ankam. Oder aber er wollte verhindern, dass er in falsche Hände geriete. Jemand, der ihm oder den Sôlanern böses wollte, würde sicher nicht vor einem seiner wenigen verbliebenen Freunde Halt machen. Gewissermaßen verstand ich ihn, selbst wenn es jetzt ohnehin zu spät war sich über diesen Umweg zu beschweren. Nachdem ich den Brief auf Geheiß des Biblius auch gelesen hatte, strahlte mich dieser mit einem zufriedenen Lächeln an. "Danke, dass ihr hergekommen seid. Es freut mich von Vico zu hören. Wir sind so weit voneinander entfernt, seitdem ich nicht mehr in der Kurmark bin. Hier aber kann ich die Sterne beobachten, wann immer ich will. Wären da nicht diese schrecklichen Stürme." "Habt ihr hier öfter mit solchen Wetterlagen zu kämpfen?" "Ja, natürlich, schaut nur heraus. Ständig ist der Hof wegen dem Regen überflutet und der Weg in die Stadt unpassierbar. Die Wassermassen stauen sich am Fahlgebirge und gehen dann hier über unseren Köpfen nieder. Dafür ist an anderen Tagen der Himmel so klar, wie anderswo nie. Auf unserem Berg können wir den Sternen beim Wandern und den Planeten beim Aufgehen zusehen. Ich würde euch, wie allen Besuchern, einen Blick durch das Himmelsrohr anbieten, aber aktuell mussten wir die Tore schließen. In letzter Zeit regnet es fast jeden zweiten Tag, dafür verschwinden die Wolken kurz darauf völlig. Es ist vermutlich ein Geben und Nehmen in dieser Hinsicht." Er zuckte mit den Schultern. "Sagt, Schwester des Sôlerben, was ist euer Geburtsmonat? Ich erzähle euch etwas über euren Himmelskörper." Ich lehnte mich ein wenig nach vorn, um seiner rauen Stimme besser lauschen zu können. Der Biblius zündete sich derweil seine Pfeife an, nachdem er ein wenig Tabak nachgekippt hatte. "Ich bin ein Kind des Weidemonds, unter der Hand des Heiligen Revan geboren. Nichts, was zu meinem späteren Werdegang passt. Immerhin besitze ich wohl seine Standhaftigkeit." Ich lächelte vorsichtig zu Otto-Karl Truntz herüber. "Der Weidemond? Ich verstehe, euch gehört damit der Caballus." Der Biblius beugte sich vor, zeigte mir seine Stirn. Mit dem Zeigefinger deutete er auf den Pfeil nördlich der Sonne. Seine Tätowierung mag eigenartig sein, doch bot sie zumindest eine kleine Darstellung der ersten sieben Planeten. "Caballus ist der erste Planet vor der Sonne, wenn ich hier das Heliozentrische Weltbild heranziehen darf. Doch auch in der alten Sichtweise ist der Caballus der Erste gewesen. Kaum ein Himmelskörper dreht sich so schnell, wie er. Mit dem bloßen Auge kann man ihn nicht sehen und selbst mit dem Himmelsrohr ist er schwer auszumachen. Gefühlt entwischt er einem sofort. Er sieht aus, als hätte man das Fegefeuer auf einem Planeten ausgekippt. Feuer und Glut beherrschen den Reiter, wie er auch genannt wird. Was euch vielleicht mehr interessiert ist die Bedeutung des Caballus, nicht?" Ich nickte vorsichtig. Er hatte schließlich keine Ahnung, dass ich einst vor Caballus stand. Das uns die Himmelskuh einmal durch den Raum der Planeten getragen hat. Das ich sie alle mit eigenen Augen sah. Ich habe die unausgesprochenen Schrecken selbst erlebt. Vor Jahren haben sie meinen Geist einst zerrissen. Mittlerweile wiegen sie als schwere Bürde nach, der ich nicht mehr entfliehen kann. Es ist ein Wissen, dass ich niemals preisgeben darf. Egal, was kommt. Egal, was passiert ist. Nur das Schweigen bewahrt. Und so bleiben die Risse erhalten. Risse, die niemals heilen werden und dürfen. "Der Caballus lässt euch schließlich zu dem werden, was ihr seid. Intelligent, redselig, überzeugend, allen voran aber hoffnungsvoll. Er lässt euch die Hoffnung mitbringen, Schwester des Sôlerben. Lasst sie nur nicht fallen." Truntz lächelte mir weit zu, nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife. "Ich lasse Elisabetha ein Zimmer für euch bereiten, dann könnt ihr die Nacht hier bleiben. Ich berichte nur über einen Himmelskörper am Tag, wenn ihr mehr hören wollt, kehrt Morgen zurück. Solange steht euch die Bibliothek natürlich zur Verfügung, ihr habt mir schließlich den Brief von Vico gebracht. Elisabetha sollte in der Empfangshalle sein, sprecht einfach mit ihr." Ich bedankte mich höflich bei dem Domenicaner-Mönch und trat die schweren Stufen der Treppen wieder hinab in das Erdgeschoss. Die Hoffnung also? Ob ich sie nicht schon längst fallengelassen hatte, das fragte ich mich. Woher sollte ich das nur wissen? Ich wusste an manchen Tagen nicht einmal mehr, warum ich immer weiter machte. Hoffnung nenne ich das jedenfalls nicht. Mein Zimmer entpuppte ein spärlich ausgestattetes Schlafgemach im Keller der Bibliothek. Aneinandergereiht lagen hier mindestens zwanzig dieser Räumlichkeiten, eigentlich gedacht für all diejenigen, die zu lange in den oberen Stockwerken in Büchern stöbern, um dann noch durch die Dunkelheit zu laufen. Das mit frischem Stroh eingedeckte Bett war halbwegs gemütlich und bot mir ausreichend Ruhe für die Nacht. Vorher stellte ich natürlich sicher, dass auch Yuki einen verträglichen Stellplatz unter einem Vordach bekam. Auch er sollte nicht die ganze Nacht im Regen verbringen müssen. Als ich das Licht der Kerze ausblies, ging ich auf beiden Knien nieder und faltete die Hände zum Gebet. Mit einem nachdenklichen Blick gen Decke sprach ich ein einfaches Abendgebet. Deyn Cador, du Allmächtiger Herr über die Ordnung und Vertreiber des Chaos, Bitte erhöre unsere Worte, unsere Bitten und Wünsche, die wir jeden Abend an unseren Betten, Tischen und Türen an dich richten. Wir flehen nicht nur um Schutz vor dem Chaos, nein, auch um gefüllte Bäuche, ruhige Nächte und einen sanften Aufstieg zu dir. Dafür kommen wir regelmäßig zusammen. Huldigen dir. Kämpfen in deinem Namen. Vetreibe das Chaos in unseren Herzen. Und wir bitten dich – nimm auch diejenigen wieder in deine Reihen auf, die das Licht aus den Augen verloren haben und sich der Dunkelheit zugewandt haben. Wahre Reue soll wahre Güte und Erlösung erleben. Halte mich auf deinem Pfad, egal wie weit ich von ihm abkomme, stets für dich streitend, niemals für mein eigenes Dasein laufend. Bringe dein ordnendes Licht wieder zu mir, nachdem die Dunkelheit sich über, mich und mein Leben gelegt hat, nur um, gerettet zu werden. So wie du es uns stets zeigtest. Deyn Cador, du Allmächtiger Herr, halte deine Schützende Hand über uns und so werden wir deine Worte weitertragen, hinaus, in alle Lande. Amen. Am nächsten Morgen rüstete ich mich wieder an, nahm einige Bissen eines getrockneten Stücks Hirsch aus meinem Proviantsack und trat vor die Bibliothek. Strahlender Sonnenschein schien auf die tiefen Pfützen des gestrigen Unwetters hinab. Die Sonnenstrahlen reflektierten in alle Richtungen, ließen den Gebäudekomplex hell erstrahlen. Ich atmete einige Male tief ein und aus. Ich genoss diesen Geruch des niedergefallenen Regens, der darauffolgenden Sonne und des naheliegenden Gebirges. Auch wenn sie mich an nichts besonderes erinnerte, fühlte sich die Frische in der Luft gut an. Bevor ich meine Reise gen Süden fortsetzte, drehte ich noch eine Runde um den Lehrkomplex. Ich beobachte mehrere Gruppen von Sternenforschern in den Lehrsälen, sah einem Dozenten eine Weile bei den Ausführungen seiner neuesten Entdeckungen zu und schaute dem Treiben bei der Öffnung der Sternenwarte zu. Die großen Schiebetore mussten von jeweils fünf gewachsenen Männern mit langen, herabhängenden Seilen und großem Kraftaufwand aufgezogen werden. Nachdem sie das erste der beiden schwerfälligen Tore aufgestemmt hatten, ließen sich alle erschöpft ins Gras fallen. Erst nach wenigen Minuten konnten die strammen Männer weitermachen und das zweite Tor ebenso öffnen. Der Dozent schrieb hingegen in einer Seelenruhe mit einem Kreidestift eine Theorie um den Magnolienstern an eine große Tafel. Zuerst malte er den Stern selbst, dann einige Striche und Verbindungen zu anderen Systemen. Ich konnte seinen Ausführungen zwar nicht zuhören, aber offenbar musste er neue Sternenformationen erkannt haben. Vielleicht hatte er auch einfach nur neue Sternenbilder im Namen der Silvanischen Kirche geformt. Mit genügend Vorstellungsvermögen konnte man schließlich allerlei Formen in und zwischen den vielen Himmelskörpern in der Nacht erkennen. Wer lag nicht als Kind auf einer feuchten Wiese und hat in die Sterne gestarrt? Jeder kennt vermutlich die Zeichen des Bogners, der edlen Dame oder auch des großen Wals. Irgendwo tauchen sie immer in den Sternen auf, selbst wenn wir es uns nur vorstellen. Als ich genug gesehen hatte, zog ich die nächsten Briefe unter der Brustplatte hervor. Sie würde ich nur an vorbestimmten Stellen abgeben müssen. Ihre Empfänger benötigten keine persönliche Zustellung. Nachdem ich auf Yuki aufgestiegen war, trieb ich ihn in einen Trab in Richtung Süden an. Mein Ziel war der Morgenstrom, über den ich auf die Prage gelangen wollte. Nach dem Abstecher in Auenthal wäre es ein langer Umweg durch Tasperin geworden, den ich nun mit einem einfachen Trick umging. Zugegeben, nicht jedem Sôlaner wäre diese Reise in dieser Form möglich gewesen. Vermutlich hätten es die wenigsten meiner Kameraden vermocht meinen Weg einzuschlagen, aber meine Herkunft und alte Ordenszugehörigkeit zahlen sich eben doch manchmal auf. Anstelle einer Reise in den Westen Tasperins oder nach Silventrum würde ich Sorridias Norden durchqueren und dort ein Schiff nach Olapaso besteigen. Alte Heimat, ich komme. |