06.11.2020, 05:10 PM
XVII - Am Strome
15.03.1352 Am Strome – eine Stadt der Industrie, die von und wegen der Prage lebt. Besonders der Ritt in die Stadt hinab bot einen tiefen Einblick in dieses Zentrum der Schornsteine, Werkhöfe und Handwerksstätten. Die geziegelten Schlote spuckten unablässig einen dunklen Nebel in den Himmel, der sich über der Stadt zu sammeln schien. Selbst der Schnee am Wegesrand war trübselig grau verfärbt, als wäre der Ruß wieder auf die Stadt niedergerieselt. Die beiden großen Stadtteile lagen entlanggestreckt an den Ufern des Großen Stromes, verbunden durch mehrere hochgebaute Brücken. Bekannt wurde die Stadt jedoch vor allem durch eine dieser Brücken. Manch ein Geschichtskundler bezeichnet sie schließlich auch als die Brücke schlechthin. Ein Koloss von Steinbau, der in einem seichten Bogen quer über den darunterliegenden Fluss führt. An beiden Brückenkopfen wurden schwer bewachte Festungen errichtet. Betreten darf sie nur, wer in die beiden palastartigen Hofanlagen eingeladen wurde. Aber wer erhält schon einmal die Gelegenheit den Herzog von Velhard höchstpersönlich zu begegnen? Wohl kaum jemand; denn wie ich erfuhr zog er es vor hier, zurückgezogen unter dem Schleier der Hochöfen zu leben. Seine eigentliche Hauptstadt Feywell sei schließlich ein zurückgebliebenes Loch. Am Strome hingegen würde ein Pferdezug der Wirtschaft sein und die wahre Einnahmequelle Velhards. Ich wusste nicht recht, was ich mit diesen Informationen anfangen sollte. Aber die Bewohner der Stadt waren sich allesamt sicher, dass sie im Vergleich mit Feywell stets gewinnen würden. Ich blieb froh, dass ich mich für keine dieser seelenlosen Orte der Arbeitsknechtschaft entscheiden musste. Auf Yukis Rücken näherte ich mich den Wachhäuschen am Stadtrand. Torhäuser, geschweige denn eine Mauer, gab es schließlich nicht. Hier konnte jeder kommen und gehen, wie er wollte. Besonders in der Nacht verkam die Stadt so zu einem Zentrum für Schmuggler, Schwarzbrenner und Kleinkriminelle. Aber alles seiner Reihe nach. Entlang der grauen Gassen, vorbei an ratternden Metallgetrieben und schuftenden Arbeitern, führte mich mein Weg ins Herz der Stadt. Die Einwohner der Stadt vermittelten allerlei Eindrücke auf mich, nur niemals einen Fröhlichen oder Zufriedenen. "Wer sein Leben nur der Arbeit gibt, wird des Glückes niemals fündig". So oder so ähnlich sagte man zumindest immer in meiner Heimat. Oftmals um der Arbeit zu entgehen, aber sicher auch, um solche Zustände zu verhindern. Auf dem zentralen Marktplatz fand ich neben gewohntem bunten Leben auch einige Zeitungsverkäufer. Mit einer kleinen Spende von wenigen Silberlingen konnten sie mir genaustens den Weg zur Baustelle der neuen Druckerei weisen. Litwers neuestes Projekt war schließlich kein Geheimnis; genau genommen war es in aller Munde. Was hatte er hier nur vor? Warum hier eine eigene neue Druckerei eröffnen? Ich würde es bald erfahren. Doch zuvor sattelte ich von Yuki ab, griff mir seine Zügel und führte ihn zu Fuß durch den Strome. Auf den vollen Straßen bot es sich zwar an, einen guten Ausblick vom Rücken meines Pferdes zu haben, andererseits wollte ich ihn jedoch im Fall der Fälle beruhigen können. Ohne abgeschmissen zu werden. Ratternde Karren preschten links und rechts an uns vorbei. Botenjungen hingen sich an die rückseitig angebrachten Stangen, nur um einige Meter weiter wieder galant abzuspringen. Das Hämmern und Rattern von Maschinen tönte über die lauten Straßen. Die Kulisse war sogar so laut, dass das Schreien der Arbeiter im Rausch dröhnender Öfen und Schlaghämmer vollends unterging. Ich musste tief schlucken. So sehr ich belebte Plätze auch versuche zu meiden, hier hatte ich schlichtweg keine andere Wahl. Ich fühlte tief mit Yuki, und jedem seiner Artgenossen. Diese Lautstärke, diese Eindrücke und dieses Gewimmel müssen purer Horror für ihn gewesen sein. Ich zog seinen Kopf enger zu mir. Meine rechte Hand hielt ich ständig an seiner mir abgewandten Kopfseite. Ich hatte das Bedürfnis ihm meine Nähe zu signalisieren, wenigstens etwas Geborgenheit zu bieten. Dennoch, inmitten des unverständlichen Treibens mit all seinem Krachen und Knirschen, kam ich mir selbst wie ein kleiner Folterknecht vor. Nur wegen meines Streitrosses legte ich einen Gang zu. Geschwinden Schrittes versuchte ich mir meinen eigenen Weg durch die gefüllten Wege zu bahnen. Einigen schnitt ich den Weg ab, einmal unterschätzte ein Lieferjunge die Standfestigkeit meiner Schulterplatte. Mit ziemlicher Wucht knallte sein Kopf gegen meine metallene Rüstung. Ein lautes, hohles Geräusch verklang beim Aufprall. Bevor ich überhaupt realisierte, was gerade passiert war, lief er jedoch kommentarlos weiter. Ich hoffe, dass es nicht allzu sehr schmerzte. Wirklich bedrückend blieben nur die Zelte und Lager der Obdachlosen an der Rückseite der Hochöfen. Ein ständiger Luftschlag der Blasebälge feuerte immer wieder heiße Luft durch die abgeranzten Lager im Dreck. Niemand beachtete sie, niemand kümmerte sich um sie. Und im unbarmherzigen Winter konnten sie die Nacht nur an den Resten der glimmenden Kohlenhaufen verbringen. Wenn sie denn nicht erfrieren wollten. Es gab hier keine Orden, keine größere Niederlassung der Silvanischen Kirche. Es wirkte fast, als hätte man diese Stadt vergessen. Oder ganz bewusst ausgelassen. Warum mindern wir dieses Leid nicht? Geben ihnen Obdach und Essen? Ich vermochte es nicht zu sagen. Möge Katharina ihnen ein Heim und einen gedeckten Tisch bieten. Ich wäre jedenfalls auch hier nicht die Person, die diese armen Seelen aus ihrer Misére rettet. Wie auch? Erst nach einer guten halben Stunde war ich in den äußeren Bezirken angelangt. Das dichte Gedränge hatte ein schnelleres Vorankommen verhindert. Vielleicht war es auch besser so, denn in den neben mir liegenden Lagerhäusern und Schuppen wurden sicher keine redlichen Geschäftsmodelle praktiziert. Ich spürte die angespannte Stimmung sogleich, als hätte ich eine imaginäre Linie überschritten. Es war ein Ort, an dem ich nicht sein sollte. An dem Leute, wie ich nicht sein sollten. Ein Viertel, dass seinen eigenen Herren überlassen wurde. Keine Wachen weit und breit, dafür allerlei mürrisch dreinblickende Kerle. Es sollte nicht lange dauern bis sich zwei von ihnen stets mit einigem Abstand hinter mir befanden. Ich machte mich auf eine Konfrontation bereit. Sie würden mich sicher aus ihrer illustren Gesellschaft verbannen wollen, aber ich musste hierher kommen. Meinen Blick ließ ich starr nach vorn gerichtet. In meinen Augenwinkeln versuchte ich dennoch die Straßenseiten im Blick zu behalten. Das eben noch so laute Schlagen und Trommeln der Handwerker wurde leiser und weniger intensiv. Fast, als ob es die Spannung steigen ließe. Bei mir funktionierte es leider. Meine Zähne bohrten sich langsam in meine Unterlippe, meine rechte Faust war geballt. Die Schritte hinter mir wurden dafür lauter, kamen immer näher. Ein wenig Gemurmel, dann ein dumpfer Schlag in einiger Entfernung. Mein Herz begann immer schneller zu schlagen, als ich sie erblickte und nicht mehr an mir halten konnte. "Da ist sie ja!" rutschte mir im Eifer des Gefechts heraus. Meine Verfolger blieben offensichtlich verwirrt stehen. Und ich? Ich schaute begeistert auf das schief im Boden steckende Schild mit der Aufschrift: "Maschinendruckerei Litwer". Das alte Speichergebäude hinter der Markierung war zerfallen. Holzbalken hingen hier und dort herunter, ein Haufen morschen Holzes und gebrochener Dachschindeln lag auf der Seite. Baugerüste versperrten wesentliche Teile der Sicht auf Litwers neues Druckereigebäude, das bestimmt drei Etagen gehabt haben muss. Im Inneren vernahm ich lautes Gerede und die Geräusche mehrerer Sägen und Hämmer. Es war Leben im Hause. Entschlossen trat ich auf die Maueröffnung zu, die einst die Tür gewesen sein muss. Dem erstbesten Hilfsarbeiter, ein Jugendlicher mit Augenringen bis zum Kinn, drückte ich ein paar Münzen in die Hand. Er passte für mich auf Yuki auf. Der Bursche sollte zumindest rufen, wenn ihm jemand zunahe kommen würde. Meinen freundlichen Verfolgern, die sich mittlerweile auf der anderen Straßenseite niedergelassen hatten, warf ich einen letzten vielsagenden Blick zu. Dann betrat ich das Gebäude. Im Inneren erwarteten mich neben zwei irritiert dreinblickenden Arbeitern nur Werkzeuge und Spinnen verschiedener Art und Größe. Es kann nicht allzu lang hergewesen sein, dass man ihre Heimat wieder für den Menschen beanspruchte. Ihre übergroßen Netze hingen noch in fast allen Ecken der überdimensionierten Eingangshalle. Hinter einem kleinen Tresen war bereits "Litwer" schief in roter Farbe an die Wand geschrieben worden. Ich schmunzelte auf. Mit erhobener Stimme donnerte ich: "Martynas Litwer, ihr habt Besuch" durch das Haus. Stille. Dann mehr Stille. Die beiden Handwerker hinter mir starrten mich nur weiter verwirrt an. Keiner von ihnen sagte etwas. Bis "Jaahaaa, hier bin ich" von oben zurückgerufen wurde. Mit verschränkten Armen wartete ich auf den Hausherren. Ein sichtlich gealterter Litwer schritt, etwas klapprig auf den Beinen, die steilen Treppenstufen hinab. Sein Gesicht war merklich eingefallen und sein letzter langer Schlaf muss Wochen hergewesen sein. Dennoch zog er seine Mundwinkel angestrengt in die Höhe, als er mich erblickte. "Aah, Schwester Amélie! Was für ein unerwarteter Besuch. Willkommen in der Maschinendruckerei Litwer, bald das beste Druckhaus ganz Velhards!" Er fing an leise in sich hinzulachen. Nachdem er die letzte Treppenstufe hinter sich gebracht hatte, stützte er sich an der Wand ab und blickte zu mir hinauf. "Nun wirklich ein unerwarteter Besuch. Es ist etwas ungemütlich hier unten, vielleicht kommt ihr mit hoch? Und ihr strammen Arbeiter dort drüben, ich bezahle euch nicht fürs Schnacken, sondern fürs Herrichten dieses Hauses." Mit ein paar grummeligen Widerworten machten sich seine Untergebenen wieder an die Arbeit. Litwer drehte auf der Treppenschwelle um und begab sich wieder auf den Weg nach oben. Es brauchte keine überragenden Kenntnisse, um festzustellen, dass er dabei seine Schwierigkeiten hatte. Ich griff ihm daher unter den linken Arm und führte ihn die hohen Treppen hinauf in den ersten Stock. Mit zittriger Hand deutete er auf eine Tür. Hinter ihr verbarg sich ein hergerrichteter Bibliotheks- und Werkraum mit allerlei Instrumentarien. Allen voran stapelten sich aber Bücher rings um seinen Schreibtisch und sein Bett. "Vielen Dank für eure Hilfe. Verzeiht mir bitte, aber mittlerweile bin ich ein wenig wacklig auf den Beinen." Er machte eine Pause zwischen seinen Worten, setzte sich in dem großen und ebenso zerfallenen Ledersessel nieder. Litwer schnaufte hörbar. Er war in schlechter, nein, miserabler Verfassung. Dennoch schaute er mich mit denselben hoffnungsvollen Augen an, die er bei unseren vorherigen Treffen an den Tag legte. Zumindest bis zu dem Tag, an dem sein engster Partner kaltblütig ermordet wurde. "Nun, nun .. was führt euch zu mir, meine werte Amélie? Wie viele Jahre ist es her? Ein halbes Jahrzehnt? Es ist schön Euch wiederzusehen. Ich könnte dir viel erzählen, viel von dem, was ich so gemacht habe. Aber setz dich erstmal auf .. eh .. ". Sein suchender Blick fuhr durch den Raum. Ich lächelte abwinkend. "Es ist auch schön euch wiederzusehen, Martynas. Es freut mich dich noch einmal sehen zu können. Ich höre mir gleich gern deine Geschichten und Taten an. Du hast schließlich unsere Heilige Schrift für jedermann zugänglich gemacht. Dennoch, ich bin nicht ohne Grund hergekommen. Diese Welt wird schließlich geprägt von Mysterien, die es im Namen des Herrn zu lösen gibt, nicht?" Martynas nickte bei jedem einzelnen meiner Worte. "Wohl wahr, hehe. Aber auf dieses alte Wiedersehen..." Er unterbrach kurz. "...könntest du mir zwei der Gläser von dort drüben geben? Sie liegen auf diesem Buch, eh .. der ...". Mit ausgestrecktem Finger wies er mir den Weg zu einem kleinen Haufen Geschirr, der sich auf seinen gesammelten Werken befand. Ich nahm die obersten beiden Gläser in meine Hände und fand darunter – "auf der Heiligen Schrift, hm?". Ich musste schmunzeln, stellte ihm die beiden Gläser auf den vollgepackten Schreibtisch und platzierte die Heilige Schrift an einem geeigneteren Ort. Mit einem Klicken öffnete Martynas eine Schublade seines geräumigen Schreibtisches. Mit kreisender Hand fuhr er über dessen Innenraum, dessen Einblick mir von einem mächtigen Stapel Bücher versperrt wurde. "Woher kamst du gleich noch, Amélie? Ich werde leider auch ein wenig vergesslich." Wieder lachte er herzlich auf. "Geboren in Patrien unter sorridianischer Flagge, weshalb fragst du?" "Ah, da habe ich etwas ganz Feines aufbewahrt. Irgendwann kommt immer ein Moment für solch einen Tropfen, man darf ihn nur nicht hinauszögern." Mit ungeahntem Schwung beförderte er eine Flasche Montebriller Cera auf den Tisch. Die verkorkte und sogar versiegelte Flasche war bereits von einer Schicht Staub überzogen. Martynas zögerte keinen Augenblick den Korken aus der Flasche zu ziehen und beide Gläser reichhaltig vollzuschenken. Fröhlich grinsend schob er mir ein Glas rüber. "Komm, wenigstens ein Gläschen. Auf unser Wiedersehen." "Wie kann ich da ablehnen?" Sanft lächelnd lehnte ich mich vor, griff mir das vollgeschenkte Glas mit dem intensiv riechenden Weißwein und stieß mit ihm an. "Auf unser Wiedersehen" sprachen wir nahezu gleichzeitig. Der Cera hinterließ seinen typisch markanten Eigengeschmack in meinem Mund. Bis wir von einem unserer Abenteuer zurückkehrten hatte ich stets in völliger Enthaltsamkeit gelebt. Aber nach schweren Schicksalsschlägen und grauenhaften Anblicken habe auch ich gelernt, dass dieses Zeug manchmal hilft. Besonders in rauen Mengen. "Martynas, ich bleibe gern ein wenig länger, um mit dir über das ein oder andere Thema zu sprechen. Lass mich aber bitte gleich zum Kern meiner Reise kommen. Du erinnerst dich an Franz Gerber? Sicher tust du das." Er nickte bestätigend. "Auch an sein Verschwinden?" Ein weiteres Nicken. "Gut. Ich weiß selbst nicht, was mit Franz passiert ist. Aber jeder, der an seiner Seite stand. Jeder, der mit ihm den Kampf gegen das Chaos bestritten hat, ereilt zweierlei Schicksal. Zunächst taucht ein Gegenstand aus dem Vermächtnis Franz' auf. Er ist unverkennbar angeschmolzen, als wäre es ein Zeichen Deyn Cadors selbst." Litwer hob die Hand. Bevor er zu mir sprach, nahm er einen großen Schluck des Cera und schenkte sich selbst nach. Auch in meine Richtung hielt er die Flasche, aber ich lehnte für den Moment ab. "Ich verstehe, Amélie. Franz Gerber, hm? Euer impulsiver, gewaltätiger und vom Leben gezeichneter Bruder? Er hat so viel durchgemacht, man hat es ihm alles angesehen. Auf seiner Seele lastete weit mehr, als ein Mensch hätte verdient. Ich glaube, dass ich etwas in meinem Besitz habe, wovon du sprichst. Du bist sicher nicht hier, um mich aus Freundlichkeit darüber zu informieren. Gib mir gleich ein wenig Zeit, ich finde es hier in meiner Unordnung für dich. Aber für den Moment, bleib bitte so nett und leiste mir ein wenig Gesellschaft. Den zweiten Teil dieses Schicksals kannst du mir erzählen, wenn ich dir den ersten Teil gegeben hatte." Er lächelte. Ich lächelte, und wandte meinen Blick tief ins Glas. "Einverstanden. Meine Ohren sind ganz bei dir. Was hast du all die Jahre getrieben? Wie lief die Verbreitung der Heiligen Schrift.?" Mit seinem Glas in der Hand lehnte er sich weit im Stuhl zurück. "Oh, das ist eine lange Geschichte. Aber ich bitte dich schließlich auch ums Zuhören. Wo fange ich am besten an? Ah, ja genau, hier. Schon von Neu Corethon aus habe ich noch einige Sicherungen vorbereitet. Ihr habt ja selbst gemerkt, wie gefährlich das Unterfangen war. Ich habe es erst zu spät realisiert. Da war er schon tot. Einfach vergangen. Möge Deyn ihm seelig sein. Ich bin mir sicher, dass er jetzt an einem besseren Ort ist." Martynas verleibte sich einen weiteren großen Schluck ein. "Nun, wo war ich? Meine Vorbereitungen, sicher. Ich habe den Kirchenrat informiert und eine Zusammenarbeit angeboten. Sie waren natürlich wenig begeistert, würde doch das Wort Deyns für jedermann zugänglich. Und so könnte eine ganz eigene Auslegung fern der Silvanischen Kirche in der Welt entstehen. Zuerst drohten sie mir, dass sie mich bis ans Ende der Welt verfolgen würden, um mich aufzuhalten. Eine Vorstellung, die mich ab diesem Punkt nicht mehr abhalten konnte. Außer meinem Lebenswerk hatte ich schließlich kaum noch etwas zu verlieren. Also streute ich die Teile. Hier ein Stück, dort ein Auszug. Überall bei Freunden und Bekannten, die mir im Laufe meines Lebens so begegnet waren. Angekommen am Festland konnte ich den Kontrollen der Silvanischen Kirche halbwegs gut entgehen. Zumindest gelang es mir einige Dutzend Exemplare zu drucken und durch die Welt zu senden, bis ich aufflog. Sie brachten mich in irgendwelche Kammern und hielten mich wochenlang gefangen. Essen gab es nur, wenn ich ihnen wieder unwichtige Details erklärt. Schläge, wenn ich nicht weiter wusste. Glücklicherweise bekam ich Fürsprecher, als das Werk verteilt wurde. Die Kunde ging herum, dass die Heilige Schrift nun für alle Menschen lesbar wäre! Besonders als der Leändische Herold davon erfuhr und meinen Wunsch um die Welt trug, war es zu spät für die Obrigkeiten. Sie schwenkten nahezu völlig um, unterstützten mich plötzlich beim Druck. Einige gaben sogar an, dass sie mir schon seit Jahren geholfen hätten oder ich nur ein kleines Rad im Getriebe gewesen sei. Wenn er das nur hören könnte.. Was wir nur auf uns genommen haben, damit andere am Ende den Ruhm einheimsen, hm? Tja, wie kam ich hierher? Der Verkauf der Heiligen Schrift wurde recht schnell unter die Hand der Silvanischen Kirche gestellt. Wer Zugang zum Kaiser hat, kann seine Forderungen eben direkt durchsetzen. Der kleine Martynas Litwer ging leer aus. Sogar so leer, dass ich Druckanleitungen fertigen musste, aber keinerlei Münze dafür bekam. Versteh mich nicht falsch, es ging mir nie um die Gulde. Aber auch ich muss von etwas leben können. Brot und Druckertinte bezahlen sich nicht von alleine. Also nahm ich allerlei Aufträge an der Seite an, bis die Kirche ihre eigenen Druckerpressen etabliert hatte. Sie verdrängten mich einfach aus dem Geschäft. Meinem eigenen Geschäft. Nicht ein Wort des Dankes oder ..". Martynas unterbrach und schüttelte den Kopf. "Das ist doch nicht gerecht. Was hätte Jeffrey nur getan, wenn er in derselben Situation gefangen wäre? Mir fiel nichts ein. Ich stürzte mich erst in Schulden, dann verkaufte ich die ersten Pressen und über kurz oder lang bin ich hier. Mit meinen letzten Münzen, ebenfalls alle geliehen, bin ich hier eingekehrt. Keiner kommt hier freiwillig hin, aber Drucken und Worte sind mein Leben. Ich kann doch nichts anderes. Ich bin mir sicher, Deyn ist wieder auf meiner Seite. Und das hier wird ein Erfolg." Er nahm noch einen tiefen Schluck und goss sich sein Glas wieder voll. "Deyn Cador wird deine Opfer nicht vergessen, Martynas. Bedenke stets, dass deine Taten auf dieser Welt dir die Pforte zum Himmelsreich eröffnet haben. Rückschläge dürfen dich nicht niederstrecken. Ich bin froh, dass du nicht aufgegeben hast. Immer weitergemacht hast." Ich versuchte ihm aufmunternd zuzulächeln, doch gelang es mir nicht. Er war in einer Art nachdenklicher Trauer versunken. Sprach mehr vor sich her, als das er mir zuhörte oder auf mich einging. "Mag schon sein, mag schon sein. Das hier wird Erfolg haben. Ich habe die ein oder andere Idee, wie ich wieder auf alte Höhen zurückfinde. Was hältst du von einer kinderfreundlichen Version der Heiligen Schrift? Oder der im haldarischen Dialekt? Dann können die Sôlaner vielleicht einen friedlichen Versuch dort im hohen Norden starten? Die Handwerker müssen nur dieses Gebäude erstmal fertigstellen und, und, und .. ". Ich folgte seinen vielfältigen Ausführungen weiter lächelnd. Dem Glas in meiner Hand verpasste ich ab und an einen kleinen Schwenker. Martynas erzählte mir sicher zwei Stunden von seinen genialen Ideen, die mir allesamt wie Träume einer einst schillernden Persönlichkeit vorkamen. Heute war er aber ein verblasstes Darbild seines vergangenen Daseins. War es die Silvanische Kirche, die ihn gebrochen hatte? Der Verlust seines so engen Freundes? Oder doch die Zusammenkunft der schlimmen Schicksale, Rückschläge und Niederlagen? Er tat mir wirklich Leid. Hier fand er immerhin Hoffnung. Ich wollte sie ihm keinesfalls nehmen, denn nur diese Hoffnung erhielt ihn am Leben. Ohne sie wäre alles sinnlos und seine Zeit auf Athalon bald zuende. Daher hörte ich zu. Stumm nickend. Immer lächelnd. Nach immer wirreren und verklärten Vorschlägen, wie eines Groschenromans über "Thoni die Flunder" (was auch immer das sein mag) oder einer handgeschriebenen Auflage seiner eigenen Übersetzung, hörte er glücklicherweise auf. Froh blickte er mich an. "Was hältst du davon, Amélie?" "Eine gute Idee." Ich lächelte weiter sanft auf ihn ein. "Wärst du so gut und suchst mir den Gegenstand heraus, den du bekommen haben willst? Ich werde uns derweil etwas zu Essen besorgen. Einverstanden?" "Oh sehr gut, ich verhungere bald! Einverstanden, komm aber bald wieder. Nicht das mir noch etwas passiert, während du weg bist." Martynas lachte wieder auf. Ich wusste mir nicht besser zu helfen, als ihn weiter müde anzulächeln und sein Gemach zu verlassen. Nicht, dass ihm etwas passiert. Aber hier länger auf das Unvermeidliche zu warten, wäre auch kein Weg gewesen. Über die knarzende Treppe verließ ich das baufällige Gebäude wieder. Ich ging an den beiden erneut faulenzden Arbeitern vorbei und nahm beim Dritten Yuki in Empfang. Er schien ihn durchgehend mit Streicheleinheiten versorgt zu haben, sodass er wohlig schnaubend vor der Tür wartete. Meine beiden Beobachter auf der anderen Straßenseite hatten es sich mittlerweile auch auf einem alten Baumstumpf bequem gemacht. Während meines Weges heraus aus dem zerfallenen Viertel folgten sie mir wieder auf Schritt und Tritt. Sie wirkten zumindest deutlich entspannter, nun wo sie wussten, wohin es mich überhaupt verschlagen hatte. Es war bereits später Nachmittag. Über der Stadt hing ein dunstiger Schleier dunklen Rauches, der eine viel zu frühe Dämmerung einläutete. Das vorherige Treiben hatte sich glücklicherweise beruhigt, sodass ich unbesorgt auf Yukis Rücken über die Straßen wandern konnte. Von hier oben sah ich das Elend noch deutlicher. Als würde es mir auf einer Bühne vorgeführt werden. Hungernde Kinder, obdachlose Arbeiter und ausbeutende Landsherren. Sie warfen ihre schwer schuftenden Tagelöhner mit einem kargen Tageslohn aus der Türe, jeden Abend aufs Neue. Keiner könnte sich überhaupt eine Unterkunft für die Nacht leisten, geschweige denn die Familie versorgen. Ich konnte nur schweigend durch ihre Mitte gleiten. In stiller Trauer. Niemals hätte ich ihnen allen helfen können, es war eine Aufgabe, die niemals ein Ende hätte. Und wenn man damit beginnt diesen armen Seelen unter die Arme zu greifen, nutzen es die Reichen und Mächtigen ohnehin noch mehr aus. Meine Arbeiter erhalten eine karge Armenspeisung? Ein Grund mehr ihnen noch weniger Lohn zu zahlen. Es war bedrückend. In den Straßenzügen fand ich irgendwann einige kleine Tavernen, die ein halbwegs ansprechendes Essen feilboten. In der ersten Spelunke wurde ich jedoch direkt abgewiesen. Meinesgleichen sei eher nicht erwünscht. Möge Deyn ihnen stets auf die Finger schauen. Und Marcos ihnen gerechte Geschäfte einbringen. Im zweiten Wirtshaus gefiel mir das Angebot nicht hinreichend, sodass ich auf die dritte Gaststätte auswich. Hier konnte ich ein däftiges Kartoffelgericht mit einer halben Schweinshaxe für uns beide kaufen. Eingepackt in eine hölzerne Schachtel, die ich später wieder zurückzubringen hatte, konnte ich frohen Gewissens wieder den Rückweg zu Martynas antreten. In der Zwischenzeit musste er sicherlich unter den Haufen des Chaos das Objekt meiner Begierde gefunden haben. Als ich kurz vor Einbruch der echten Dunkelheit wieder im äußeren Bezirk des Stroms angekommen war, stiefelten mir meine beiden Beobachten sogleich wieder hinterher. Dieses Mal ließ ich mich nicht von ihnen ablenken. Stattdessen hielt ich demonstrativ unsere Holzschachtel in die Höhe und stolzierte auf Yuki zu Martynas Druckereigebäude durch. Mein Streitross band ich an einem Holzbalken vor der Tür an. Dann rief ich Litwer bereits aus dem Ergeschoss zu, dass ich zurück war und trat hinauf in seine Kammer. Versteckt hinter völlig umgeordneten Bücherstapeln lag er mit dem Kopf voran auf dem Tisch. Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich ließ die Schachtel vor Schreck zu Boden fallen. Der Deckel der Holzkiste sprang ab, ein Teil der gedünsteten Kartoffeln verteilte sich über die alten Dielen. Dennoch – keine Reaktion von Martynas Litwer. Er war doch nicht .. , er konnte doch nicht... Nein! Verschreckt schnellte ich zu ihm ihn. Sein Körper war intakt, ich erkannte keine Verletzungen. Doch war er gespenstisch ruhig. Er rührte sich kaum. Nicht einmal eine Atmung konnte ich erkennen. Ich biss die Zähne zusammen. War er während meiner kurzen Abwesenheit eingeschlafen? Dabei konnte ich ihn nicht einmal warnen, vor dem zweiten Teil von Franz' Schicksal. Einem Schicksal, das er mit uns allen teilt. Vorsichtig packte ich ihn an der Schulter, um ihn wieder in eine aufrechte Haltung zu setzen. Als ich meine Hand an seinen kalten Körper legte, schreckte er plötzlich wie ein wildgewordener Haldare auf. Vor Schreck stolperte ich zurück und knallte mit dem Rücken an eines seiner vollgestopften Bücherregale. Durch den Aufprall fielen mir mindestens drei Werke auf den Schädel, bis ich Gelegenheit zum Aufatmen hatte. Ein gleichermaßen verschreckter wie verschlafener Martynas Litwer schaute mich an. "Amélie! Was machst du denn?! Die Bücher!". "Was ich mache?? Was ich mache, Martynas? Warum schläfst du einfach auf deinem Tisch ein? Ich dachte du wärst gestorben! Einfach eingeschlafen! Ich habe sogar unser halbes Essen deswegen verschüttet. Martynas, Deyn bewahre!" Ich war außer mir. Mein Herz schlug sogar noch schneller, als in dem Moment, wo ich ihn innerlich für tot erklärte. Ich war außer mir. Vermutlich habe ich sogar so laut gebrüllt, dass diese merkwürdigen Gestalten vor der Tür alles mitgehört haben. Und dann war auch noch das Essen auf dem Boden verteilt. Deyn bewahre. Martynas schien hingegen die Ruhe weg zu haben. Nur um seine Bücher wirkte er besorgt. Sogar so stark, dass er aufstand und sie liebevoll einzeln vom Boden aufhob und an ihre ursprüngliche Position zurückstellte. Ich presste währenddessen meine Lippen aufeinander. Ich konnte nicht anders, als ihn bei seinem merkwürdigen Schauspiel zu beobachten. Wie in Deyns heiligem Namen konnte er mich jetzt einfach so stehen lassen? Ich verstand nicht. Dementsprechend konnte ich nur während eines eindringlichen Kopfschüttelns versuchen unser Abendessen zu retten. Mit einem seiner Teller sammelte ich die am Boden liegenden Kartoffeln auf, tischte jedem von uns die Hälfte auf. Dabei achtete ich stets darauf, dass jeder die gleiche Menge am Boden liegende und in der Holzbox befindliche unversehrte Stücke bekam. Die halbe Haxe wurde entzwei geteilt und ebenso gerecht aufgeteilt. Martynas war unterdessen weiter damit beschäftigt seine Bücher zu sortieren, bevor ihm wieder einfiel, dass auch ich im Raum war. "Amélie! Ich habe Hunger." "Ach." Ich setzte ihm den Teller vor die Nase. "Martynas, was haben sie nur mit dir gemacht?" murmelte ich leise vor mich hin. Während er sich bereits die erste Kartoffel in den Mund schob und mich fröhlich kauend anschaute, vernahm ich nur ein schmatzendes "Wwahs?" Die nächsten Minuten verbrachten wir mit unserem kaltem, aber durchaus akzeptablen Abendmahl. Nachdem wir fertig waren, stimmte ich ein kleines Gebet an. Wenn wir schon nicht vor dem Essen beten, weil er sich das erste Stück direkt in den Mund schiebt, dann wenigstens danach. Martynas sprach die Worte, wie ein junger begeisterter Klosterbruder nach und klatschte am Ende in die Hände. "Amélie, das war schmackhaft. Ich danke dir. Und hier, fang!" Wie aus dem Nichts warf er mir mit einem kraftlosen, ungezielten Schwung einen ledernen Köcher zu. Ich musste einen ganzen Schritt nach vorn machen, um das Lederstück überhaupt greifen zu können. Mit ausgestreckten Armen bekam ich gerade noch einen breiten Riemen zwischen die Finger. Inspizierend hob ich den Köcher an und fand schon bald die feurig angeschmorten Spuren des Franziskus Maximilian Gerber. Es war ohne Frage sein Köcher. Ich wusste es in diesem Moment, dass ich nicht falsch liegen konnte. Auch mit Martynas Litwer sollte ich Recht behalten. Litwer grinste mich während meiner Begutachtung an. "Und? Ist es das, was du suchst?" Ich nickte. "Ja, alter Freund. Auch du hast einen Gegenstand von Franz bekommen. Magst du mir verraten, wo du es gefunden hast?" Er nickte und legte sogleich wieder mit seinen umfassenden Ausführungen los. "Ich dachte zuerst, dass ich mir den Köcher erträumt hätte. Wofür brauche ich schließlich einen Köcher? Noch nie habe ich solch ein Teil benutzen müssen, ich kann ja kaum eine Bogensehne spannen. Diese Hände sind für Druckmaschinen gemacht." Er hob beide seine Hände freudig in die Höhe und wackelte mit seinen Fingern herum. "Ich bin eines Morgens aufgewacht, das war vor vielleicht einem Jahr? Ja, das muss ein Jahr gewesen sein. Da war ich noch in anderen Städten Tasperins unterwegs, genau. Ich habe vielleicht einen über den Durst getrunken und bin recht spät aufgewacht. Und was erblicken meine Augen da? Stapelweise Bücher, wie immer! Richtig geraten." Ich musste schmunzeln. Seine Erzählungen waren wirr, aber nicht uninteressant. Irgendwo versteckte er doch die Wahrheit. Man musste nur genug Geduld aufbringen und sie abwarten. "Ich ging mich also waschen. Wobei, um ehrlich zu sein gehe ich mich selten waschen. Jedenfalls suchte ich nach etwas Essbarem, aß einen ganzen Apfel und kehrte zurück in mein damaliges Zimmerlein. Als ich zurückkam, hing an der Ecke eines vollgestellten Regals dieser Köcher. Es war sogar dieses Regal da!" Mit beiden ausgestreckten Zeigefingern zeigte er auf das kantige Regal, an das ich zuvor angestoßen war. "Ich habe ich mich gefragt, woher das gute Stück kommt und erstmal abgenommen. Offenbar habe ich es vergessen und trotzdem mitgenommen. Was für ein Glück. Du wolltest mir noch den zweiten Teil des Schicksal der Finder oder dergleichen erzählen? Das klingt nach einer spannenden Geschichte für ein Buch, vielleicht schreibst du ja eines Tages eins. Also, nun raus mit der Sprache. Ich seufzte tief. "Ja, vielleicht schreibe ich eines Tages eines. Eines mit positivem, glücklichem Ende. Ein Buch, das mir gefällt. Martynas." Ich blickte ihn fest an, kam sogar einen Schritt näher und hoffte, dass er mir gut zuhörte. Ob er verstand und verarbeiten konnte, was ich ihm sagen würde, konnte ich nicht beeinflussen. Aber ich wollte ihm zumindest die ganze Wahrheit sagen. Alles, was ich zu diesem Moment wusste und wissen konnte. Ich holte tief Luft. Und begann. "Martynas, jeder, der ein solches Objekt findet, ereilt ein grausames Schicksal. Jede Person, die ich besucht habe, ist kurz danach gestorben. Oder war bereits tot. Es ist wie ein unvermeidliches Grauen. Ich muss dich aufsuchen, damit ich an diesen Gegenstände komme. Für Franz. Für Deyn. Für diese Welt. Denn ich weiß, dass wir Widersacher haben. Und wer gegen Deyn agiert, kann nicht im Namen der Ordnung handeln. Doch stoße ich dich und jeden anderen damit unweigerlich in den Abgrund. Ich nehme euch die Grundlage des Lebens. Besiegele euer Schicksal." Erst als ich es in Worte gefasst hatte, verstand ich. Es war mein Besuch, der die Räder in Bewegung setzte. Unwissenheit ist Glückseligkeit. Bis man das alles zerstörende Wissen erlangt. Und nur durch dieses Wissen in den Schlund des Abgrund gezogen wird. Ich will nicht noch mehr Freunde und Kameraden verlieren, doch ist es unvermeidlich. Es gibt keinen anderen Weg. Es sind nicht nur Namen auf einer Liste. Es sind meine Freunde. Meine engsten Kameraden. Es sind die wenigen Menschen, denen ich auf dieser Welt alles und mein Leben anvertraut habe. Und genau diese Menschen reiße ich mit in den Abgrund. Ich kann es nicht aufhalten. Ich werde es nicht aufhalten. Denn ich bin der Auslöser. Während ich in Martynas müde lächelnde Augen blickte, liefen mir Tränen über die Wangen. Sie kamen auf seinen liebgeschätzten Büchern auf und doch unternahm er nichts. Stattdessen raffte er sich auf. Ich konnte seine Knochen von der Anstrengung aufschreien hören, wusste das sein Körper und Geist zerbrechlich waren. Und doch. Und doch nahm er mich einfach in den Arm. Er sprach nur zwei Worte. "Ich weiß." Und nahm mich in den Arm. Er drückte so fest zu, wie er es auch nur irgendwie vermochte. Meine Trauer schlug in Form meiner Tränen auf dem Boden nieder. Ich wusste, dass ich ihn mit meinem Besuch verdammt hatte. Er wusste, dass ich ihn damit verdammt hatte. Und doch vergab er mir. Hier und jetzt. Martynas Litwer zeigte seine Güte und Barmherzigkeit. Er offenbarte mir in diesem Moment, wer er wirklich war und woran er glaubte. Wofür er sein Leben lang lebte und kämpfte. Es tat so unendlich weh. Als ob mein Herz von einer unsichtbaren Kraft gewunden und zerdrückt wurde. Als ob all meine Gefühle aus meinem Körper mit krachenden Schlägen herausgeprügelt wurden. Als ob ich alles, wofür ich stehe und wofür ich jemals gekämpft verraten hätte. Dieser Besuch bei Martynas Litwer zeigte mir viel. Zuerst dachte ich, dass ich hier einen der ruhigsten und angenehmsten Aufenthalte haben werde. Und doch wurde mir gerade hier unter Beweis gestellt, wie zerschmetternd die Realität ist. Und doch, wurde unter Beweis gestellt, was wahre Gnade ist. Das die Barmherzigkeit lebt. Ich weinte. Lange. Und Martynas blieb mit mir stehen. Stets murmelnd: "Ich weiß". Als ich mich nach langer, langer Zeit wieder gefangen hatte und auf einem seiner Bücherstapel saß, öffnete er wieder seine Schublade im Schreibtisch. "Deine Ehrlichkeit ist bewundernswert, Amélie." Martynas wirkte wesentlich gefasster und geistig gesammelter, als ich es hätte erwartet. Es erschien mir fast so, als würde er in alter Stärke aufgehen. "Nur wenige hätten es mir so ehrlich in mein Gesicht sagen können. Ich weiß weder, warum du dich dieser Aufgabe stellen musst, noch was uns alle erwarten wird. Aber dieser Tropfen ist für diesen Tag reserviert gewesen. Ich wollte ihn einmal mit Jeffrey trinken. Dann, wenn wir unser Werk vollbracht hatten. Aber, ich teile ihn auch gern mit dir. Denn für alles andere ist er zu schade. Und schließlich wollte ich ihn wenigstens noch selbst kosten." Er lachte. Seine Stimme klang frei und erlöst. Als hätte er eine Last von seinen Schultern geworfen, die ihn jahrelang hinabgezogen hatte. Es war ein paradoxes Spiel und doch die Realität. Mit einem geschickten Schwenk goss er beide Gläser voll mit dem aufgehobenen Tropfen. "Weißt du was das ist?" Er lächelte verlegen. "Ich sage es dir direkt. Klosterfrau Melissengespenst. Von vor dem Brand im Kloster. Wenn ich ihn verkauft hätte, hätte ich sicher ein Vermögen gemacht. Aber wie könnte ich? Es war schließlich unser Siegesgetränk. Nachdem er weg ist, müssen wenigstens wir anstoßen." Wir hoben unsere Gläser. Mit einem lauten Klirren schwappte sogar ein Teil des Melissengespenst über, doch selbst das machte uns nichts aus. Selbst ich genehmigte mir einen tiefen Schluck zu Ehren Jeffrey Gietzels. Der nächste Schluck galt Martynas selbst. Er schaute mich selbstbewusst an, atmete tief durch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. "Vielleicht habe ich dir nicht die ganze Wahrheit vorhin erzählt. Ich glaube aber, dass du ehrlich mit mir warst. Wenn ich mich recht entsinne, hast du zumindest in meiner Gegenwart noch nie gelogen? Ich erkenne solcherlei eigentlich recht schnell. Und nun, wo ich weiß, was mir droht, soll wenigstens dies nicht vergessen bleiben." Er holte nochmals tief Luft und genehmigte sich einen weiteren Schluck des gereiften Melissengespenstes. "Amélie, das war weitaus nicht alles, was die Silvanische Kirche mit mir gemacht hat. Ich sehe nicht so aus, weil sie mich gut behandelt haben. Monatelang haben sie mich in ihren Verließen eingesperrt, bis die Öffentlichkeit nach mir verlangt hat. Ich wäre dort unten gestorben. Sie haben mich gehalten, wie einen wertlosen Viehkadaver. Wie einen Verräter. Was ist falsch damit das Wort Deyn Cadors an jeden Bürger, jede Bürgerin und jeden Menschen dieser Welt zu bringen?" Er pausierte. "Ich kenne deine Antwort. Und ich bin froh über sie. Du hast mir schließlich nicht ohne Grund geholfen. Ihr, auf Neu Corethon, ihr wart auch erst vorsichtig. Doch habt ihr schnell meine, nein, unsere Ideale geteilt. Aber hier auf dem Festland wurden wir als wahre Gefahr angesehen. Es war unerträglich. Sie haben mich zerschunden. Fertig gemacht. Und danach ausgenommen. Dieser Kirchenrat verbirgt viel mehr, als er zugibt. Aber du bist nicht dumm. Du weißt längst, dass viel mehr hinter unserer Welt steht. Dinge, die ihren Lauf nehmen und nicht abwendbar sind. Solch etwas hast du mir schließlich auch heute präsentiert." "Martynas, es ist schwer für mich die richtigen Worte zu finden. Ich schwebe über dem Abgrund und werfe dich hinein, damit ich ein Stück weit länger bestehen kann. Das ist nicht das, was ich mir gewünscht habe. Das ist ... falsch. Aber doch ist es der Weg der Ordnung. Ich kann es nicht aufhalten. Ich kämpfe für euch und doch ... fühlt es sich so falsch an." "Du machst das sehr gut. Ich glaube, dass du deine Fähigkeiten und deine Rolle unterschätzt. Mit so stolz geschwellter Brust, wie Franz Gerber aufzutreten, ist sicher nicht der richtige Weg. Aber du wirst dich nicht auf deinen Weg gemacht haben, um zu scheitern. Und allen voran Amélie – du hast auch einen Gegenstand von Franz erhalten, oder?". Er hatte mich durchschaut. "Ja. Ich habe vor über drei Jahren Franz' Bogen gefunden. An einem Ort, an dem Deyn Cador unserer Welt so nahe ist, wie sonst nirgendwo." "Siehst du. Mach dir keine Sorgen. Er ist auf deiner Seite. Wir sind alle auf deiner Seite, denn wir kämpften und kämpfen für dieselbe Sache oder? Du darfst nicht aufgeben. Mach weiter, bis zum bitteren Ende. Es wird sich lohnen. Was wäre gewesen, wenn Jeffrey und ich aufgegeben hätten? Stell es dir bitte vor. Innerhalb von wenigen Jahren wurde es nahezu normal, dass jeder die Heilige Schrift lesen kann. Bewahre unsere Welt vor Schlimmerem. Sonst wärst du schließlich nicht hier." "Ich hoffe, dass ihr mich nicht nur Mut und Hoffnung machen wollt." Ich zog mein Glas Melissengespenst in einem Zug leer. Martynas schenkte mir großzügig nach. Der perzige Geschmack nach gebrannten Kräutern blieb zwar in meinem Mund, aber immerhin betäubte er für ein paar Augenblicke meine Sinne. Ich war so froh wie geschockt über dieses Treffen. Wie fühlt es sich an, einem Menschen anzukündigen, dass er bald sterben wird? Wie fühlt es sich an, ihm mitzuteilen, dass er wegen meinen Handlungen bald von dieser Welt scheiden wird? Grausam. Zermürbend. Katastrophal. Ich verzog mein Gesicht. "Na aber, schau nicht so drein. Ich kann dich verstehen, aber bitte, es ist mehr als beeindruckend, dass du so lange durchhältst. Du ziehst unablässig durch, wo andere schon längst aufgegeben hätten. Amélie, ich verstehe, dass du nicht die Heldin in dieser Geschichte sein willst. Du bist es auch nicht. Wir sind alle nur Mittel zum Zweck für Deyn Cador, doch was wären wir ohne ihn? Gib nicht auf. Wehe, du gibst auf. Jeffrey und ich warten dort oben auf dich." Ich konnte wieder einmal nur verwundert Schumzeln. Martynas schien in dieser Nacht wohlauf. Es wirkte fast, als hätte ihm Deyn Cador noch ein letztes Mal ein Geschenk seiner Güte überreicht. Wir beide verstanden es zu nutzen und unterhielten uns die restliche Nacht. Schluck um Schluck wurde die edle Flasche Melissengespenst geleert. Der Wert eines einzigen Lebens zeigte sich hier einmal mehr. Deyn Cador – mein Herr über Leben, Dasein, Tod und Vermächtnis. Der allumspannende Weltenherrscher. Eine Gottheit, der ich mein Leben gewidmet habe und weiter widmen werde. Die Ordnung stellt weder reine Güte noch reine Nächstenliebe dar. Deyns Ordnung ist unverzeihlich. Sie räumt aus dem Weg, wer nicht mehr gebraucht wird. Und doch ist sie der einzige Weg auf dieser Welt. Dahinter liegt nur Chaos und Dunkelheit. Die Zerstörung des Lebens. Die Sonne erschien bereits wieder am Horizont, als Martynas sich zu Bett legen wollte. Die Flasche war längst leergetrunken. Wir verabschiedeten und mit einer tiefen Umarmung. "Lass mich nicht hängen." flüsterte er mir ins Ohr. War das ein Wunsch oder eine Drohung? Ich wusste es nicht. Vermutlich beides. In jedem Fall stolperte ich vor die Türe seines Hauses und suchte mir einen Unterschlupf für die Nacht in seiner Nähe. Wir beide wussten, dass diese Nacht seine letzte gewesen sei. Es war so unvermeidlich, wie die Verschiebung der Sterne. So berechenbar, wie der tägliche Aufgang der deynistischen Sonne. Und so unvermeidlich, wie das Schicksal von Franziskus Maximilian Gerber. Wir würden es nicht verhindern können. Also beendeten wir es redlich. Ich legte mich für diese Nacht ebenso schlafen, wie Martynas Litwer es getan hatte. Und so begannen meine Träume auf ein Neues. Ich wurde nicht zerissen von Monstern oder Dämonen. Mein Leben blieb mir verschont. Stattdessen fand ich mit an einer wohlbekannten Klippe wieder. Das Himmelsreich schimmerte in seiner grenzenlosen Farbenvielfalt und Herrlichkeit im Hintergrund. Die Schlucht Dysmar mit ihrem unerbittlich verschlingendem Abgrund lag zu meinen Füßen. Während zahllose Seelen ihr Ende in der Schlucht fanden und in den Abgrund gezogen wurden, schafften mindestens genau so viele den letzten Sprung in die ewige Rettung. Durch Deyns Kräfte getrieben fiel es ihnen spielend leicht ihr weltliches Leben gegen eines der Glückseligkeit im Himmelsreich einzutauschen. An meiner Seite stand heute nicht mehr Drevin Cray, sondern Martynas Litwer. Als hätte ich es erwarten können. Als hätte ich es erwarten müssen. War es eine Vorausschau? Oder war es die Gegenwert? Martynas Litwer stand neben mir an dieser Klippe, die unser aller Schicksal einmal lenken wird. Wir blicken in den Abgrund und er wird uns antworten. Schützt Deyn Cador uns vor dem ewigen Leid oder wird er uns verdammen? Heute würden wir die Antwort für einen ebenso treuen wie eindrucksvollen Weggefährten erfahren. Er hatte viel für die Verbreitung des Wortes Deyns getan. Martynas Litwer war ein Mann der Prinzipien. Er tat stets das, was er für richtig hielt. Er wandte sich gegen die Kirche. Und genau das wurde ihm zum Verhängnis. Seine ehemaligen Herren richteten sich vollständig gegen ihn. Sie nahmen ihn aus, entzogen ihm die Existenzgrundlagen und ließen ihn einsam und verarmt zurück. Doch Martynas gab nicht auf. Nicht ein einziges Mal. Er kämpfte für seinen Glauben. Für seine eigene Güte und Hoffnung. Wir sollten uns alle ein Beispiel an ihm nehmen, dass wir niemals aufgeben dürfen. Ganz besonders ich sollte mir diese Eigenschaft von ihm abschauen. Mit einem letzten verheißenden Blick schaute Martynas zu mir herüber. "Ich danke euch, und ... wir sehen uns." entgegnete er mir. Dann wagte er den letzten Schritt. Sein Fuß schwebte über der Schlucht. Und ich riss meine Augen auf. Mein Schlaf wurde jäh durch einen lauten Knall, gefolgt von rumpelndem Geklimper und aufeinanderschlagenden Klängen unterbrochen. Erschrocken fuhr ich auf. In der Dunkelheit um mich herum, konnte ich kaum etwas sehen. Durch das kleine Fenster fiel nur spärliches Mondlicht, sodass ich mir eilig eine Kerze anzündete. Ich ahnte Schlimmes. Im Schein des flackernden Lichts zog ich mir schnell meine Stiefel über, griff meine Schwertscheiden und rannte die Außentreppen meiner Bleibe herab. Um mich herum fielen die Schneeflocken, wie traurige Boten eines hoffnungslosen Schicksal vom Himmel. Es war eiskalt. Mein rasendes Herz ließ mich die Kälte völlig vergessen. Ich rannte, so schnell es meine Beine zuließen. Vorbei an den wenigen erleuchteten Fenster, deren Bewohner auch von den schreckhaften Geräuschen wachgeworden sein müssen. Vorbei an den im Schnee stehenden Karren und Kisten. Vorbei an all den Menschen, die ebenfalls hierhin geeilt waren. Ich rannte. Nur um das Unvermeidliche erblicken zu müssen. Es war passiert. Wieder einmal. Ich stand vor einer staubverhangenen Ruine eines ehemaligen Gebäudes. Einer Druckerei. Der Druckerei des Martynas Litwer. Sie war zu einem einzigen Haufen Schutt verkommen, völlig vernichtet. Ich musste mich nicht vergewissern, denn es war mir bereits vorhergesagt worden. Das war das Ende von Martynas Litwer. Er war von den Trümmern begraben worden. Sein Körper lag verschüttet unter dem Geröll. Er starb für dieses krude Spiel, dass Deyn Cador hier mit uns treibt. Ein weiterer Zeuge war aus der Welt geschafft. Was für eine Ordnung ist das nur? Ich weinte nicht einmal mehr. Ich hatte längst um Martynas getrauert, als ich bei ihm war. Als ich ihn verlassen habe. In meinen Träumen. Während die ersten Menschen begannen auf den Schutthaufen zu klettern, ging ich auf meine Knie nieder. Die Kälte durchfuhr rasch meine Kleidung, und ich begann zu zittern. Dennoch sprach ich ein Gebet für Martynas. Während sich die ersten Plünderer bereits an seinen Habseligkeiten zu schaffen machten. Höre mich an, Deyn Cador. Blicke auf mich herab und lausche meiner schreienden Stimme. Nimm auf seine Seele und führe sie hinein in dein ewiges Reiche. Nimm auf seine Seele, die solange unter deiner Ordnung gedient hat. Nimm auf seine Seele, damit er endlich die Ruhe findet, die er sich so lange unter deinem Banner erkämpfet hat. Nimm auf seine Seele und führe sie hinein in dein ewiges Reiche. Deyn Cador, gib ihm ewige Ruhe. Deyn Cador, zeig ihm deine Ordnung. Deyn Cador, umgebe ihn mit deinem allumwärmenden Lichte. Nimm auf seine Seele und führe sie hinein in dein ewiges Reiche. Nimm auf seine Seeile in dein Himmelsreiche, lasse ihn bei dir auf ewig sein. Was er aus menschlicher Schwäche gefehlt hat, das tilge du in deinem Erbarmen. Was er an menschlicher Kraft verloren hat, das stelle wiederher in deiner Güte. Was er an menschlichem Geiste aufgab, das gebe ihm zurück in deiner Muße. Nimm auf seine Seele und führe sie hinein in dein ewiges Reiche. Amen. Als ich mein Gebet beendet hatte, waren bereits dutzende Stadtbewohner um den Unglücksort versammelt. Ein Raunen ging durch die Menge, nur wenige wagten sich überhaupt an das eingestürzte Gebäude heran. Diejenigen, die sich auf die Trümmer stürzten, kamen mit Händen voller Bücher oder Papierfetzen wieder auf die Straße zurück. Ich konnte sie nicht aufhalten. Noch hatte ich in diesem Moment die Kraft dazu. Lebe wohl, Martynas Litwer. Auch dich werde ich hoffentlich eines Tages im Himmelsreich wiedersehen. Fröstelnd ging ich wieder zurück in meine Unterkunft. Ich wärmte mich nur ein wenig auf, bevor ich mich rüstete und auf Yukis Rücken stieg. Ich wollte diesen Ort nur so schnell wie möglich verlassen. Eine weitere grässliche Stadt. Ein weiteres unausweichliches Schicksal. Ein notwendiges Übel? Mag sein. Dennoch. An Aufgeben ist nicht zu denken. Eine weitere, harte Prüfung liegt vor mir. Ich schlug in die Zügel und führte Yuki an der Westseite der Stadt hinaus. Wir ließen am Strome hinter uns und betraten die endlosen grünen Wälder des Nordens. Pausenlos fiel der Schnee auf unsere Leiber doch an eine Pause war nicht zu denken, denn das nächste Ziel stand bereits lange fest. Zandig. |