XV – Drevin Cray
27.02.1352
"Würdest du bitte aufhören dir ständig Vorwürfe über alles und jeden zu machen?" Das waren ihre Worte. Anschuldigend. Vorwurfsvoll. Aber nicht verletzend, eher im Gegenteil.
Jule saß mir im Schneidersitz auf unserem gemeinsamen Bett gegenüber. Ich hockte mit angewinkelten Beinen auf dem Kopfkissen, während mein Rücken gegen die Wand drückte. Immer wieder spielte ich mit meinen Fingern an der verkrusteten, rußschwarzen Haut meines Beines herum. Eines Beines, das eine machtbesessene Magierin einst versengte und in ein schwarzes Stück
Kohle verwandelt hatte. Es war Deyn Cador zu verdanken, dass ich es immer noch benutzen konnte. Wobei, eher wieder benutzen konnte.
"Du bist doch sicherlich nicht ohne Grund eine der ersten Empfängerinnen der Habseligkeiten von Franz geworden. Er wollte, dass du es tust. Nur du kannst es tun."
"Es ist .. es ist nicht so ..". Ich zögerte. Zeigte meine Unsicherheit offen. "Es wäre doch...; Warum hat er es nicht uns allen aufgetragen?"
"Du brauchst uns nicht, Amélie. Vergiss nicht, auch Franz war allein. Wir haben ihm eben nur ein wenig unter die Arme gegriffen. So wie Raphael und Rhys dir auf Neu Corethon mit Kessler unter die Arme greifen. Sie übernehmen nur einen kleinen Teil für dich, die Prüfungen und Hürden musst du selbst nehmen. Mit ihm war es damals doch auch nicht anders. Du weißt doch am besten von allen, was Franz durchgemacht hat."
"Unter die Arme greifen und trotzdem allein sein, hm? Hat er wirklich so viel Bürde allein getragen?"
Sie wurde wütend. Nicht in einer aggressiven Art, sondern durch bloße Empörung. Ihre Arme verschränkte sie mit verzogenem Gesicht vor ihrer Brust, bevor sie mir mit lauter Stimme eine Staundpauke hielt. "Natürlich hat er das! Natürlich, natürlich, natürlich! Wie oft habe ich euch zwei im Garten beobachtet, als er dir – und nur dir – wieder von seinen Strapazen berichtet hat. DIR hat er seine Rolle im Orden anvertraut, damit er sich für uns an vorderste Front stellen kann. Für uns alle hat er es getan! Er hat sich geopfert, Amélie, für dich und mich und Raphael und alle anderen! Willst du das wegwerfen oder schlechtreden? Das lasse ich nicht zu! Du wirst doch nicht seit Monaten wie ein verschrecktes Huhn durch die Welt ziehen?!"
Manchmal tut es weh die Wahrheit gesagt zu bekommen. Manchmal tut es gut die Wahrheit zu erfahren. Und manchmal ist es eine Mischung aus beidem. Heute war es zweifelsfrei eine gefühlvolle Kombination aus Befreiung und Verzweiflung.
"Nein, nein, ich will doch gar nicht... Ich meinte doch nicht, dass Franz nichts für uns getan hat. Es fühlte sich nur stärker an, als wären wir alle im selben Boot. Würden den selben Pfad beschreiten, aber vielleicht .. vielleicht hätte ich ihm noch mehr zuhören sollen. Mehr mitfühlen müssen oder ihm eine bessere Schulter sein. Verzeih mir, Franz."
"Es ist auch zu spät dich zu entschuldigen. Ich glaube aber nicht, dass er so eine halbherzige Entschuldigung überhaupt hören wollte. Er wusste, was ihm bestimmt war. Das hast du seinem gebrochenen Herzen doch anhören können. Es wird ihm wichtiger sein, dass du ihm jetzt hilfst. Das du jetzt an Sôlerbens Seite weiterkämpfst. Und zwar ohne dich ständig zu bemitleiden oder fertigzumachen."
"Ach, Jule, du hast ja so, so sehr recht. Wie oft dachte ich mir dieselben Dinge oder wollte genau das tun. Aber immer wieder fiel es mir so schwer. Und dann waren da diese Träume. Immer wiederkehrende schreckliche Träume, die mir meinen Kopf vernebeln und keinen klaren Gedankengang mehr zulassen. Ich weiß weder woher sie kommen, noch wie ich sie loswerde. Am schlimmsten ist aber, dass ich viele von ihnen nicht verstehe."
"Komm her hier und hör für einen Moment auf zu grübeln." Ihre abwehrende, verschränkte Haltung öffnete sich mit dem freundlichen Lächeln, das sie auf ihre Lippen legte. Jule streckte ihre Arme und Beine aus, deutete mir an zu ihr zu kriechen. Ich folgte ohne jegliche Gegenwehr. Mit angewinkelten Beinen legte ich mich über die halbe Länge des Betts und ließ meinen Kopf in ihren Schoß sinken. Mit sanften, beinahe kaum spürbaren Bewegungen strich sie mir über den Kopf.
Es war ein angenehmes, beruhigendes Gefühl. Es stiftete mir inneren Frieden und bot eine ungewohnt gewordene Geborgenheit.
"Augen zu. Erzähl mir alles, was noch auf dir lastet." Das waren ihre letzten Anweisungen, bevor ich meine Augen schloss. Nur noch das sanfte Streichen an meinem Kopf, ihre weichen Beine und ihre wohlige Stimme erfüllten mich.
"Ich verstehe es nicht. Was ist mit Franz? Wo ist er? Warum ist er nicht mehr hier? Und warum all das?"
"Halt, halt, halt." Das Streichen hielt für einen Moment an, bevor sie fortfuhr. "Zu viele Fragen auf einmal! Erstmal, keiner von uns hat eine Ahnung, was hier vor sich geht. Ich habe sogar mit Karl darüber gesprochen, doch auch aus diesem grausamen Buch hat er nichts mitgenommen, was uns helfen könnte.
Amélie, ich kann dir auch nicht sagen, wo er hin ist. Aber er ist für uns gegangen. Für Deyn Cador und Sôlerben. Was auch immer Franz gemacht hat, es war wichtig. Vertrau ihm, das haben wir doch sonst auch immer gemacht. Aus irgendeinem Grund sendet er, oder irgendjemand für ihn, uns Zeichen. Du verschmähst doch nicht plötzlich göttliche Zeichen?!"
"Nein, nein, keine Sorge. Ich mache mir nur allerlei Gedanken. So viele Empfänger von Gegenständen sind gestorben, weißt du? Ich habe Rupert Seelbachs Leiche baumeln sehen, nachdem ich am Vortag noch mit ihm gesprochen habe. Hugo Feuerstein ist eingeschlafen und weilt nicht mehr unter uns. Werner ist auch verschwunden. Und
Drevin? Selbst er sieht aus, als hinge er am seidenen Faden. Ich will nicht... ich will nicht, dass es uns auch eines Tages so ergeht. Ich will dich nicht verlieren. Ich will Raphael nicht verlieren. Oder Karl und Anna. Verdammt, ich habe geschworen euch zu beschützen. Gerade nach Salvyro. Gerade wegen Salvyro. Und hier liege ich, zitternd und voller Angst." Meine Stimme vibrierte. Ich merkte, wie ich wieder nervöser und angespannter wurde. Ich konnte mich kaum beruhigen. Irgendwie verließ ich mich dann aber wieder auf die immerwährenden Streicheleinheiten Jule Webers und fand nach ihren Worten wieder zur Ruhe.
"Du hast viel gesehen, ich weiß. Du hast das alles durchgestanden, nur du. Und das macht dich so stark. Du schaffst das." Sie machte eine kurze Pause und ließ die Stille regieren. Wann hatte Jule gelernt so aufheiternde Reden zu halten? In der Not entdeckt man vielleicht doch noch das ein oder andere Talent, hm?
"Wir wollen dich auch nicht verlieren. Und selbst fürchten wir uns auch vor unserem eigenen Tod. Niemand will freiwillig sterben. Ich bin mir sicher, dass du es schaffst. Wenn du weitermachst, wirst du sicher das Schlimmste verhindern. Denk immer dran – wenn du nicht weitermachst, wird es nie ein gutes Ende geben! Das verstehen sogar Kleinkinder, also merk auch du es dir endlich einmal. Wir erwarten viel von dir, Amélie. Dafür halten wir dir doch den Rücken frei." Wieder beließ sie es bei einem Augenblick der Stille zwischen unseren Worten. Es war Zeit für mich, jedes einzelne Wort durchzugehen und abzuspeichern.
"Erinnerst du dich noch an deine Tatkraft in Szemää? Du hast uns angeführt, warum führst du dich dann nicht selbst?"
Ich seufzte tief aus. Szemää. Es war das Fegefeuer auf Athalon. Noch heute sind mein Körper und mein Geist gezeichnet von den Erlebnissen.
"Aber ich habe so oft gezögert. Wollte lieber abwarten und sehen, was passiert. Mein Warten war der Grund dafür, warum ich erst nach Neu Corethon kam. Mein Warten in Szemää ließ beim Ansturm auf Aironia diese arme Frau und ihr Kind sterben. Weil ich gewartet habe. Weil ich mich alleine nicht getraut habe. Verdammt, ich habe ihnen in die Augen gesehen. Ihre Angst, ihre Hoffnung, ihre pure Verzweiflung. Und dann all dieses Blut." Ich schüttelte meinen Kopf, bis Jule ihn mit beiden Händen festhielt. Erst dann spürte ich die wenige Tränen, die an meiner linken Wange hinabflossen. Mit einem vorsichtigen Wischen trocknete sie mir das Gesicht und ließ wieder Stille walten.
"Es ist nicht deine Schuld, Amélie. Wir haben getan, was wir konnten. Wir haben so viele gerettet. So viele Seelen bewahrt und so viele Ketzer in den Abgrund gestoßen. Du hast deine Aufgabe ganz wunderbar erfüllt.
Jeder Tod ist tragisch, doch du kannst nicht alle verhindern. Deyn Cador und seine Heiligen wachen über dich, soviel steht fest. Sie wissen, dass du immer dein Bestes gibst. Sie führen dich und weinen mit dir, wenn du nicht alle retten kannst. Denk nur daran, wieviele ohne dich verloren wären. Denk nur daran, was diese Welt – was unsere Heimat ohne dich wäre. Ich will mir keinen Orden ohne dich vorstellen, soviel ist sicher."
Ich biss mir auf die Unterlippe. Nicht stark und auch nicht so fest, dass meine alten Wunden wieder aufrissen. Aber immer noch ausreichend, um den lastenden Druck auf mir zu fühlen.
"Es nagt alles an meinem Geist. Ich kann es nicht loslassen. Selbst, wenn ich verstehe, dass ich es nicht hätte besser machen können. Selbst dann kehren diese Geister der Vergangenheit zu mir zurück. Sie klammern sich an mich. Als ob die Hände der Toten aus der Erde steigen und mich festhalten. Ich .. will sie auf eine Weise nicht loswerden, aber auf der anderen Seite .. behindern sie mich."
"Wenn du sie nicht loswerden willst, was willst du dann?" Jules sanfte Berührungen hätten ewig so weitergehen können, sie würden nicht ausreichen, um all den Schmerz und all die Last von mir zu nehmen. Sie sorgten aber immerhin dafür, dass ich langsam immer verstehen konnte. Erst jetzt verstand ich, wie lange ich all meine Taten verdrängt hatte. Hinter einer festen Wand waren all die schrecklichen Erlebnisse verschlossen. Und in der Einsamkeit brach diese Wand auf. Denn ich hatte Zeit. Zeit zum Nachdenken. Zeit zum Verarbeiten.
"Ich will .. ich will Ruhe. Ich will verstehen und die Vergangenheit nicht vergessen, weißt du? Nicht vergessen, aber damit leben. Es soll in mir ruhen und bleiben. Ich will daraus lernen, um solche Fehler nicht wieder zu machen."
Mit einem lautstarken Schnippser flippte sie mir ihren Zeigefinger gegen die Stirn. Irritiert öffnete ich meine Augen und blickte in das vom flackernden Kerzenschein erhellte Grinsen meiner Ordensschwester. "Sag nie wieder, dass ich die Ungeduldige von uns beiden bin. Du bist längst dabei. Amélie, du hast längst damit begonnen. Vielleicht stehst du sogar kurz vor dem Abschluss." Sie zuckte mit den Schultern. "In jedem Fall hast du schon für dich selbst entdeckt, was du tun musst. Dein ständiges Grübeln und Jammern sind wohl deine verquerte Form der Verarbeitung." Sie fing an zu kichern und grinste mich weiter an. "Das mit dem Seelenheil habe ich mir gut bei Rhys abgeschaut oder?"
Ich wusste nichts darauf zu sagen. Stattdessen musste auch ich anfangen zu Lachen. Zum ersten Mal seit langer Zeit.
Am nächsten Morgen verließ ich die Taverne fürs Erste und besorgte uns beiden ein brauchbares Frühstück. Glücklicherweise gab die Tasperiner Backkunst allerlei schmackhaftes Gebäck her, dazu ließ ich die Sôlaner Tradition des
Eierverzehrs aufleben. Wenngleich lieber gekocht, anstelle der rohen Zandiger Essweise. Ich musste nach unserem Gespräch irgendwann eingeschlafen sein. Auch Jule ließ die Kerze abbrennen und fiel dann neben mir in das Reich unserer Träume. Es war keine ruhige Nacht, fast wie erwartet. Aber immerhin verstand ich ein wenig mehr. Vielleicht halfen mir die grausamen Träume wirklich langsam, aber stetig, über alle Erlebnisse nachzudenken und sie einzuordnen. Ich bin wahrlich kein Paradebeispiel für einen glaubenstreuen Ordensritter; noch für einen ideellen Menschen. Aber ich versuche alles zu geben. Jetzt mehr denn je.
Als auch meine Zimmerpartnerin endlich erwacht war und der Kirchturm zur zehnten Stunde schlug, war es Zeit zu frühstücken. Während wir uns die Bäuche vollschlugen, setzten wir unsere Unterredung von gestern fort.
Jule begann, fast schon aufbrausend und fordernd. "Hast du verstanden, was ich dir sagen wollte, Amélie?"
"Ich denke schon. Ich bin zumindest ein bisschen schlauer, als vorher. So langsam sehe auch ich, was mir vorher vielleicht verborgen geblieben ist. Etwas, was ich nicht sehen wollte sondern immer versteckt habe. Auf die ein oder andere Weise." Ich zog meine Mundwinkel nach unten. "Danke, Jule. Danke."
Sie schaute mir gar ein wenig zu stolz, doch bei ihrem zuckersüßen Lächeln konnte ich nur schwach werden. "Die eigentliche Frage, Amélie, und bitte gib mir dafür nicht wieder Latrinendienst, ist: Wofür stehst du?"
"Wofür ich stehe? Na, für ... " Tja, wofür stehe ich? Für den Solaner Orden? Für Deyn Cador? Für meinen Orden? Für die Ordnung? Für meine eigenen egoistischen Interessen? Es ist sicherlich keine einfach zu beantwortende Frage. Doch mit irgendeiner sinnvollen Antwort müsste ich ihr Interesse doch stillen können. Ich grübelte. Währenddessen biss ich von einem meiner hartgekochten Eier ab und blickte unschlüssig durch Jule hindurch. Ebenso einfach könnte ich wohl die Frage nach dem Sinn des Lebens beantworten. Oder eben nicht.
Jule lächelte nach einer ganzen Zeit wieder schmatzend auf. "Sehr gut. Sehr gut. Keine Antwort heißt du denkst nach und bist dir noch nicht sicher. Auch das ist eine Antwort. Denn falsch gibt es bei mir nicht. Ich wünsche dir, dass du die Antwort auf deiner Reise findest. Ach was, ich bin mir gar sicher, dass du eine ganz wunderbare Antwort entdeckst."
Ich musste schmunzeln. "Vielleicht solltest du doch eine Heilstube für die Seele eröffnen? Da hast du dir aber einiges bei Rhys abgeschaut. Obwohl, eigentlich kann ich mir nicht vorstellen, dass das alles von ihm kommt."
"Ich bin immer wieder für Überraschungen gut, oder?"
"Mhh, goldrichtig. Ansonsten würde es langweilig werden." Ich nickte beiläufig.
"Beantworte mir aber bitte noch eine Sache, Amélie: Brauchtest du wirklich erst mich um endlich hinter deinen Ausflüchten zu verschwinden und selbst in den Schein der Sonne zu treten?"
Ich nickte. Mein Blick glitt langsam zur Decke, bis ich mich auf den Rücken fallen ließ. "Ich schätze schon, ja. Ohne dich wäre ich manchmal heillos verloren, Jule Marina Weber. Du hast mir wieder einmal geholfen eigenständig stehen zu können. So leid es mir nun einmal tut, von nun an brauche ich dich nicht mehr."
Ich schoss wieder nach oben. Vor mir baute sich ein entsetzt dreinblickendes Gesicht auf. Ihr Mund stand meilenweit offen, beinahe wären ihr noch die Reste des Frühstücks entglitten. Ich musste also schnell handeln. "Als Seelenklempnerin, Jule. Meine werte Sôlaner Ordensschwester wirst du immer bleiben. Ob du willst oder nicht."
Ihr Gesicht entspannte sich ebenso schnell wieder, wie es zuvor ihre Panik ausdrückte. Fast hätte man das Rattern ihres Kopfes hören können, bis sie endlich verstand. Klick. Entsetzen wurde zu Freude. Und das Frühstück war beendet.
Bevor wir uns nach Zandig aufmachen wollten, beschloss ich noch einmal nach Drevin zu sehen. Ich wäre ihm wenigstens eine Verabschiedung schuldig, natürlich immer in der Hoffnung, dass ihn kein schreckliches Schicksal erleiden würde. Ich ließ Jule vorerst alleine zurück und begab mich auf die belebten Straßen der Stadt. Es musste kurz vor der Mittagsstunde gewesen sein, denn die Sonne stand hoch oben am Himmel über Weissenstein. In der Luft lag ein gewisser Hauch von Kälte, und der pfeifende Wind machte es in meinem metallenen Panzer nicht gerade angenehmer.
Mit eher müßigem Gang suchte ich mir meinen Weg entlang der Stadtverwaltung und kleineren Läden, vorbei an Handelskontoren und einer innerstädtischen Windmühle. Ihre durch die Luft gleitenden Flügel erhoben sich hoch oben über den Dächern der Stadt. Runde um Runde drehten sie unablässig, auch als ich schon weit an ihr vorbeigeschritten war. In den Gassen der Stadt tummelten sich allerlei beschäftigte Menschen, die vermutlich nicht immer Gutes im Sinne hatten. Aber als Hort des Sôlaner würden diese zwielichtigen Gestalten hier nicht lange verweilen können. Die Ordnung obsiegt, stets und ständig.
Und eben diese Ordnung begrüßte mich auch am Haupttor der Akademie von Weissenstein. Ein gutes Dutzend Sôlaner Ordensritter kontrollierte die ein- und ausgehenden Personen genauestens, aufgrund der gestrigen Ereignisse, wie mir mitgeteilt wurde. Es bildete sich eine kleine Warteschlange vor mir, die auch ich geduldig abwarten musste.
Zunächst ließen die Wachen zwei Lieferburschen mit einem Stapel Papieren voran. Ihre Leiber wurden abgetastet, die mitgeführten Schriften genaustens kontrolliert und sogar teilweise quergelesen. Es vergingen sicher mehrere Minuten, bis sie überhaupt die Vorhalle betreten durften und ich einen Schritt weiter nach vorn kam. Der nachfolgende Ordensbruder hielt seinen
Passierschein hoch in die Luft und wurde nach einem kurzen, offensichtlich vertrauten Pläuschchen, eingelassen. Wieder kam ich einen Schritt näher an die Türe. Nur noch eine junge Dame und ihre kleine Tochter trennten mich vom Einlass. Ich war innerlich bereits damit befasst mir eine gute Begründung auszudenken. Viel wichtiger war jedoch, dass man mich nicht erkannte oder dem gestrigen Tumult zuordnete. Es hätte mir sicher einige Stunden geraubt eine qualifizierte Aussage zu tätigen und mein Verhalten zu begründen. Nichts, was ich hätte gebrauchen können. Und vor allem Nichts, woran ich ein gehobenes Interesse hatte.
Auch die mitgebrachten Waren der beiden Damen wurden auseinandergenommen. Sie würden einen Verwandten der Kleinen besuchen wollen, für den sie eigens aus Leinburge angereist seien. Vor wenigen Monaten hatte man ihn als Magier identifiziert und vor die unablässige Wahl gestellt. Seine Entscheidung, welche Gründe er auch immer gehabt haben mag, war Weissenstein. Und hier standen sie nun, als zerissene und niemals wieder vereinte Familienangehörige. Meine Ordensbrüder nickten, wollten ihr schon fast den Weg hineinweisen. Bis einer von ihnen auf eine Leibesvisitation bestand. Die Mutter begann zu protestieren, ihre kleine Tochter würde weder schmuggeln noch sei sie irgendeine Gefahr.
Ich witterte meine Chance und mischte mich in erhabener Dreistigkeit in das Gespräch ein.
"Verzeiht bitte, werte Dame, aber wäre es euch recht, wenn ich euch hineinbegleite? Dann müsste eure Tochter nicht von meinen Ordensbrüdern überprüft werden. Zumal ich euch den richtigen Weg weisen könnte."
Ihre Mutter nahm das Angebot sogleich dankend an. Die Sôlaner warfen mir aber den ein oder anderen fragenden Blick zu. Von der einen Seite wurde gefragt, was überhaupt der Grund für meine Anwesenheit sei. Von einer anderen Seite kam die Forderung nach einer durchgehenden Kontrolle. Angesichts der weiter anwachsenden Warteschlange in meinem Rücken ließ man Gnade walten. Schon bald führte ich die Dame an den als Empfangstresen gestalteten Eingangsbereich und wartete geduldig mit ihr.
Innerhalb weniger Minuten wurden mehrere Papiere ausgetauscht, bis sie schließlich durchgelassen wurde. "Ihr kennt den Weg?" fragte die mürrische Dame am Schalter. "Er wird mir gezeigt." kam als angenehm freundliche Antwort zurück.
Gemeinsam mit meinen neuen beiden Wegbegleitern, die sich während unserer kurzweiligen Suche als Hilda mit ihrer kleinen Tochter Agnes vorstellte, fanden wir schon bald den gesuchten Saal. Ich ließ die beiden allein zurück und folgte den langen Gängen zurück zu Drevins Schlafsaal.
Während meines Ganges konnte ich mehrere gefüllte Lehrsääle betrachten, in denen allerlei Theorien und Zeichnungen auf die verstaubten Kreidetafeln geschrieben wurden. In den Innenhöfen wurden Leibesübungen und ein gemeinsames Gebet durchgeführt. Zwischendrin entdeckte ich sogar eine Lehrstunde der Zauberkunde, in der die Anwärter die richtige Körperhaltung zur Aufrechterhaltung ihrer Kräfte einstudierten. Für jeden Fehler gab es einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf. Schlussendlich aber traf ich vor dem Schlafsaal ein. Ich ergriff die Türklinke und wurde enttäuscht. Die Tür war verschlossen. Keine Seele weit und breit schien auch nur irgendetwas mit diesem Raum zu tun zu haben.
Leicht frustriert lief ich über dieselben Gänge wieder an den Schlägen auf den Hinterkopf, der Gebetsstunde und den Kreidetafeln, entlang. Als ich wieder in der Empfangshalle angekommen war, erkundigte ich mich bei der Dame am Schalter nach Drevin und seines aktuellen Zustands. Sie konnte mir nicht nur keine Auskunft geben, nein, sie versteinerte bei seinem Namen. Langsam aus ihrem Zustand erwachend, bat sie mich noch einmal um meinen Namen. "Wer seid ihr gleich nochmal? Was wollt ihr von diesem Novizen?"
Ich schluckte. Ihre Rückfragen, dazu ihr kritischer Blick und eine abwehrende Haltung, konnten nichts Gutes verheißen. Ich hatte aber keine andere Wahl, als sie zu fragen. Ihn im endlosen Labyrinth der Akademiegebäude selbst zu finden, war ein sinnloses Unterfangen. Also beantwortete ich ihr wiedermal, ehrlich, ihre Fragen. Sie bat mich auf einer der Steinbänke Platz zu nehmen. sSie würde sich mir wieder widmen. Mich zur gegebenen Zeit aufrufen. Ich entschied mich für denselben Sitz, auf dem auch Drevin auf mich gewartet hatte.
Es verging einige Zeit. Leute kamen und gingen. Allen voran Sôlaner Ordensritter, mal in voller Montur, mal nur in einfacher Leinenbekleidung. Oftmals trugen sie Stapel von Schriften oder Büchern unter ihren Armen, gelegentlich brachten sie auch größere Kisten mit in das Gebäude. Aber niemand von ihnen kam zu mir. Ich wartete und wartete. Bis mir ein wenig die Geduld fehlte. Auch nach meiner Nachfrage, bat mich die Dame weiter zu warten. Sie hätte alles in die Wege geleitet und würde nach ihm suchen lassen. Es sei nur derzeit schwierig ihn zu finden, sie könne auch nicht sagen warum. Immerhin reichte sie mir eine neue Ausgabe des Herolds. Ein wenig Lektüre würde mir zumindest etwas die Zeit vertreiben und mich auf den neuesten Stand bringen.
Während ich mir also die neuesten Reaktionen zum Vertrag von Corastella oder den Unruhen in der Akademie von Schwarzwasser zu Gemüte führte, stieß ich auf einen kleineren Artikel im regionalen Teil der Zeitung. Mir fiel sofort ein Name ins Auge, den ich seit vielen Jahren nicht mehr gelesen hatte. Es schien fast, als hätte ich ihn einfach verdrängt. Gar gelöscht. Aber hier erschien er mir so klar und eindeutig, als wäre unser letztes Treffen erst gestern gewesen: Martynas Litwer.
Wir hatten uns einst kennengelernt, als es um die Dechiffrierung geheimer Passagen in einem der bedeutendsten Schriftwerke Athalons ging. Er, derjenige der die Heilige Schrift ins Tasperin übersetzte, half uns auf die richtigen Ansätze zu kommen. Martynas Litwer spielte einen ebenso großen Teil im Leben des Franziskus Maximilian Gerber, wie ein Rupert Seelbach oder Hugo Feuerstein. Er war gewissermaßen nur eine Bekanntschaft gewesen. Es wäre in jedem Fall falsch gewesen ihn als Freund zu bezeichnen, aber diese Reise dient nicht dem Zweck alte Freundschaften wiederzubeleben. Sondern einzig das Mysterium um Franz zu klären. Und die Frage, warum seine alten Wegbegleiter die angeschmolzenen Gegenstände erhalten.
Als ich den Namen Martynas Litwers im Herold las, wusste ich sogleich, dass ich auch ihm einen Besuch abstatten müsste. Und wer hatte jüngst eine neue Druckerei in der Stadt am Strom etabliert? Ganz recht, eben jener Martynas Litwer.
Doch für den Moment war die Freude über meinen Fund beiseite gestellt. Nicht noch länger wollte ich mich aufhalten oder abwimmeln lassen. Genug der Warterei und vorgeschobenen Beschäftigung. Ich spürte, dass etwas nicht stimmen konnte. In der Akademie von Weissenstein könnte ein Novize nicht einfach so verschwinden. Es war nicht möglich einfach ungesehen unterzutauchen und nicht mehr auffindbar zu sein. Insbesondere, wenn eine Sôlanerin um ein Gespräch bittet. Obwohl mir schon ein wenig flau im Magen war, fragte ich erneut nach und wurde wieder mit Entschuldigungen abgewimmelt. Man wüsste nicht, wo er sich gerade befindet, aber wenn ich noch ein wenig länger warte, würde er schon wieder auftauchen. Ich wusste, dass es nur eine Lüge sein konnte. Sein musste.
Entschlossen wagte ich mich wieder in das Innere der Akademie. Im Hintergrund hörte ich die Kirchenuhren zur vierzehnten Stunde des Tages verklingen. Ich hatte noch ausreichend, aber nicht mehr viel Zeit, wenn ich ihn heute noch sprechen wollte. Und das musste ich. Dieses flaue Gefühl in meinem Magen wollte nicht verschwinden; dabei hat es sich bisher immer bewahrheitet. Waren es Sorgen? Um einen Magier? Deyn, vergib mir, was passiert hier nur mit mir?
Zunächst machte ich mich wieder zu seinem Schlafsaal auf. Mit einem festen Griff drückte ich die Klinke wieder herunter. Verschlossen.
Nach einem minutenlangen Marsch kam ich an der Rückseite des Saales an, an der sich ebenfalls eine Tür befand. Zu meiner Verwunderung saßen zwei Novizen und eine Novizin auf dem Boden vor dem Saal. Als ich aus einiger Entfernen auf sie zukam, starrten mich bereits sechs Augen an. Wenige Meter von ihnen entfernt, sprangen sie im Gleichschritt auf und stellten sich ordentlich vor mir hin. "Die
Tür ist verschlossen, nur deswegen sitzen wir hier. Verzeiht bitte unser Ungehorsam. Wärt ihr bitte so gütig uns die Tür aufzuschließen?"
Ich zuckte ein wenig mit den Schultern, winkte erstmal ab. "Euch sei vergeben. Wo finde ich den Schlüssel?" Ich wollte an Drevins Sachen, sie würden mir vielleicht einen Hinweis geben. Auf der anderen Seite könnte ich anschließend seine Mitschüler außerhalb neugieriger Ohren befragen, was mit ihm am gestrigen Abend noch passiert war.
"In der Wachstube am Ende des Ganges. Wir dürfen dort aber nur in Notfällen stören." Ein Fingerzeig wies mir den Weg zu einer massiven, eisenbeschlagenen Holztür. Nickend zog ich von den drei Schülern wieder ab, die sich rücklings wieder auf den Boden setzten.
Ich hob meine Hand vor der Tür hoch in die Luft. Im Begriff anzuklopfen, ließ ich es doch sein und öffnete einfach die Tür. Ich bin schließlich Sôlanerin, eine Wachstube zu betreten sollte nicht allzu schlimm sein. Im Inneren fand ich neben einer eher spärlichen Einrichtung nur einen schlafenden Waffenbruder vor. Sein Schnarchen überdeckte jedes einzelne Geräusch, das ich in diesem Raum auch nur hätte verursachen können. Es war so penetrant laut, dass sogar Leibecht neben ihm als ruhiger Schläfer gelten könnte. Ohne größeren Zweifel griff ich den Schlüssel vom Brett, hoch lebe die Sôlaner Ordnung.
Ebenso schnell, wie ich die drei Novizen verlassen hatte, kehrte ich wieder zu ihnen zurück. Mit einer kurzen Handbewegung schloss ich die Türe klickend auf, woraufhin die drei eilig das Zimmer betraten. Ich folgte ihnen und verriegelte den Raum von innen. So schnell war ich allein mit drei Magier-Novizen in einem verschlossenen Raum. Ich hätte vermutlich alles mit ihnen tun können, was mir beliebte. Aber ich brauchte nur Informationen. Ich wollte nicht schaden. Wozu auch?
Während ich mich an Drevins Habseligkeiten zu schaffen machte, wurde ich bereits kritisch von hinten beäugt. Sein spärliches Besteck und auch seine Ersatzroben waren allesamt noch in der Kiste unter seinem Bett verstaut. Zum Vergleich zog ich die Kiste des Nachbarbetts hervor, in der sich nur wenige Gegenstände mehr versteckten. Besteck, Kleidung, aber auch ein Ledersack mit einigen Münzen und wenige selbstgezeichnete Bilder. Drevin fehlte Geld, sogar das Münzbeutelchen selbst und alle persönlichen Objekte. Es schien fast, als hätte er all das mitgenommen, was ihm persönlich gehörte. Oder es wurde mitgenommen.
Ich verzog ein wenig das Gesicht. Hatte ihn etwa schon die Vergangenheit eingeholt? War ich mittlerweile sogar zu langsam, um mich zu verabschieden? Ich wollte es irgendwo nicht wahrhaben. Vielleicht habe ich auch deswegen nicht aufgegeben nach ihm zu suchen. Und damit vielleicht nur alles noch schlimmer gemacht?
Ich ließ mich auf seiner Bettkante nieder und blickte in die drei fragenden Gesichter der Weissensteiner.
"Wo ist Drevin Cray?" fragte ich möglichst nüchtern. Es wäre aber sicher einfach gewesen meinen leicht emotionalen Klang zu vernehmen.
"Ich weiß nicht, er war gestern Abend noch hier. Also nach allem." sagte die junge Novizin. Sie war nicht einmal volljährig gewesen sein. Nein, sie war noch ein Kind, vielleicht um die fünfzehn Jahre alt? Ihre jugendliche Naivität sah man ihr vollends an. Sie verstand mit Sicherheit nicht, warum sie hier war. Oder das sie den Rest ihres Lebens hier verbringen würde.
"Mhh, er sollte sich einfach nur hinlegen. Aber heute Morgen war er weg. Fehlte auch bei der Anwesenheitskontrolle." brachte mir einer der beiden, nur wenig älteren, männlichen Novizen entgegen.
"Was hat er gestern noch gemacht oder gesagt?" Ich schob sogleich die nächste Frage auf. Rückfragen konnte ich zwar direkt abschmettern, aber .. wollte ich das?
"Nun, er ist ins Bett gekrochen. Er schien wieder mal ziemlich fertig zu sein, nachdem Urtes ihn so zusammengeschlagen hat. Moment mal – seid ihr nicht die Sôlanerin von gestern? Wegen der wir Urtes endlich los sind?"
"Doch, doch, das muss sie sein. Wir bedanken uns ganz ausgesprochen bei euch. Er war kein guter Mensch. Ganz besonders gegenüber Drevin nicht." schob der Dritte im Bunde ein.
Kein guter Mensch, hm? Ihr sollt alle keine gute Menschen sein. Weil ihr Magier seid. Weil ihr immer Magier gewesen seid. Deswegen seid ihr hier. Und doch seid ihr Menschen. Wie ich und alle anderen.
"Mhh, ich schätze, ich war es, ja. Dankt mir jedoch nicht, auch ich erfülle nur meine Pflicht. Warum habt ihr nie etwas gesagt oder gemeldet, wenn auch ihr leiden musstet?"
"Hätten wir den Mund aufgemacht, dann wären wir hier nicht lebend rausgekommen. Urtes hat uns alle bestraft, wenn wir Drevin beschützen wollten oder ihm irgendwie zur Hilfe kamen. Und wenn wir den Wachen etwas gesagt hätten, dann hätte er uns noch viel Schlimmeres angetan. Besonders den wenigen Frauen hier." "Er war wirklich furchtbar. Drevin hätte jetzt sicher seine Ruhe, er war aber einfach weg heute Morgen."
Vielleicht warst du doch nicht so allein, wie gedacht. Zu ihrem eigenen Schutze haben sie dich leiden lassen. So wie es oftmals ist, ist sich jeder selbst der nächste. Möge Deyn uns in eine bessere Welt führen, irgendwann einmal. Egal, was passiert ist. Egal, was passieren wird. Wichtig war nur, wo Drevin hingebracht oder hingelaufen ist.
"Habt ihr gesehen, wie Drevin den Raum verlassen hat? Oder herausgebracht wurde? Wisst ihr, wo er sich sonst aufhält"?
Auf meine ersten beiden Fragen erhielt ich ein einheitliches, gar synchronisiertes Kopfschütteln. Nur zu seinen Aufenthaltsort konnte mir die Novizin immerhin einen wichtigen Hinweis geben. "Er mag den Nordhof, dort gibt es eine von Efeu überwachsene Mauer. Er hat mal gesagt, dass sie ihn an seine Heimat erinnert. Wo auch immer das gewesen sein mag".
Ich nickte, und bedankte mich. Mit einem Dreh des Schlüssels öffnete ich die Tür wieder und ließ die drei Novizen allein im Zimmer. Den Zimmerschlüssel hing ich wieder in den Wachraum zum immer noch schlafenden Waffenbruder. Dank der Karte des Akademiegeländes neben meinem äußerst wachsamen Ordensbruder fand ich dieses Mal schneller meinen Weg. Der Nordhof lag, wie bereits der Name verrät, tatsächlich im Norden der Akademie. Er schien mir nur unwesentlich größer, als die restlichen Innenhöfe, war aber durch zahlreiche Grünanlagen geziert. Mit ein wenig Geschick konnte man sich hier wirklich verstecken oder zurückziehen, aber war dies der Platz an den Drevin gehen würde? Und was, wenn er weggebracht wurde? Ist weggebracht überhaupt der richtige Ausdruck? Verschleppt oder entführt? Ich war mir zu dieser Zeit noch sehr unsicher, was überhaupt mit ihm vor sich ging. Also suchte ich nach weiteren Spuren oder Anhaltspunkten, immer in der Hoffnung nicht mit leeren Händen dastehen zu müssen.
Die Efeuwand von der seine Mitschülerin sprach, war nicht zu übersehen. In voller Pracht sprossen die grünen Triebe in die Höhe. Sie überwucherten fast die gesamte Gebäudewand. Aber ansehnlich? Das war sie sicherlich nicht. Jeder gesunde Mensch hätte die Rosenbeete oder die großen Birken vorgezogen. Warum also der Efeu? Die Antwort ist ebenso einfach, wie schwierig. Weil es nicht der Efeu war, der Drevin anzog. Sondern das, was ich nach einiger aufwendiger Suche darunter fand. Ein kleiner Tunnel in die Keller des Gebäudes, verborgen unter den großen Trieben und Blättern. Ich würde mich nicht als besonders große oder kräftige Frau beschreiben, doch auch ich hätte nicht durch diesen kleinen Verschlag gepasst. Der noch kleinere Drevin hingegen mit einiger Mühe bestimmt. War es ein Zufall oder folgte ich einer völlig falschen Spur? Es gab nur einen Weg genau das herauszufinden.
Hinab. In die Kellergeschosse der Akademie von Weissenstein. Nur mit einiger Mühe fand ich Zugang zu den Kellern, die hinter mehreren Wachräumen verborgen lagen. Unten angekommen war ich in einem noch verzweigteren Labyrinth aus Lagerräumen und Gängen gefangen, als ich es in den oberen Stockwerken zuvor war. Kisten und Fässer aus aller Welt stapelten sich in den Ecken, manchmal sogar mitten auf dem Gang. Nur dank einer Öllaterne konnte ich überhaupt in der finsteren Dunkelheit sehen und versuchen das Loch ausfindig zu machen. Ich irrte sicher eine halbe Stunde durch die Gegend, bis ich zum ersten Mal den Schein einer anderen Öllaterne vernahm.
Ich blieb stehen. Mir war mehr als bewusst, dass es viel zu spät zum Umkehren war und man den Schein meiner Lampe bereits gesehen haben musste. Ich hatte keinen guten Grund hier unten zu sein, ich gehörte ja nichtmal zu den Sôlanern der Akademie. Meine Rüstung öffnet viele Türen, aber so komfortabel war sie nun auch wieder nicht. Ich biss mir ein wenig auf die Lippe, da wurde ich schon vom hellen Schein einer zweiten Laterne erfasst. Ich folgte der Laterne zur tragenden Hand, und dieser zum Gesicht des Trägers. Und dort erblickte ich ein bekanntes Gesicht.
Ein junger Priester mit sanfter Stimme lächelte mir bereits zum zweiten Mal seit dem Beginn meines Aufenthalts in
Weissenstein zu. "Wie unerwartet, so sehen wir uns also wieder! Was treibt ihr hier unten? Ich dachte, ihr seid nur hier um einen unserer Novizen zu "besuchen"?". Ich merkte schon bei seiner Art "besuchen" auszusprechen, dass ich nicht viel verheimlichen musste. Schließlich schien ich ohnehin aufgeflogen zu sein, wenn man es denn so nennen möchte. Seine leicht ironische Sprechweise tat ihr übriges.
Ich schaute ein wenig beschämt zu Boden und lehnte mich mit dem Rücken gegen die kalte Steinwand des Kellers. "Seit meinem letzten Besuch wird dieser Novize gewissermaßen vermisst. Ihr wisst nicht zufällig etwas darüber?"
Gewissenhaft schüttelte er seinen Kopf. "Ich habe nichts damit zu tun, falls ihr das meint. Es fällt mir aber durchaus leicht mir vorzustellen, warum ihr in den Kellergeschossen sucht. Folgt mir doch bitte, euren Durst nach Wissen kann ich zumindest für den Moment stillen. Und da draußen im Felde seid ihr ohnehin deutlich besser aufgehoben, als ich, werte Protektorin."
Ich schauderte. Innerlich. Hoffentlich habe ich mir nichts anmerken lassen. Wenn ich mich recht entsinne haben wir weder Namen noch Ränge ausgetauscht und uns eher als zwei Fremde behandelt. Hatte Drevin etwas gesagt oder er sich durch die Unmengen von Akten an den Türen gewühlt? Sicherlich hatte er nur mit der Dame am Empfangstresen gesprochen, das musste es gewesen sein. Was auch immer dieser Bruder hier war, ein gewöhnlicher Priester stand nicht vor mir.
"Novize Cray hatte schnell eine Affinität für den Nordhof. Erst für seine Ruhe, dann wegen der Wand." berichtete mir der Mann in Priesterkutte im Gehen durch die engen, abgewinkelten Gänge. Ich konnte mir sein leichtes Grinsen förmlich vorstellen. Wie er mich an die Hand nahm, durch die Gänge führte und schließlich zur der anderen Seite des Loches brachte. Ohne, dass ich auch nur ein Wort darüber verloren hatte. Ich zog einen Stoß Luft, konzentrierte mich. Erst dann blickte durch den engen Erdspalt hinauf auf das saftige Grün des Efeus.
"Kam er hier durch?" fragte ich knapp. Ich hätte mir meine Frage sparen können, so offensichtlich war die Antwort. Leicht feuchte Erdbrocken und frische Blätter lagen auf dem Boden, direkt unter dem vermutlich von Drevin gegrabenen Durchbruch.
"Allem Anschein nach, ja, werte Protektorin. Aber so weit wart ihr auch schon, nicht?"
Ich nickte. Seine Freundlichkeit schien mehr als nur gespielt, vielmehr war sie eine Taktik. Eine Fassade, hinter der er die Wahrheit versteckte. Er bildete eine Wand aus seinem Lächeln, die ich hätte unmöglich durchdringen können. Dennoch schadet es nie nach den Hintergründen zu fragen. "Wärt ihr so gütig und würdet mir verraten, wer ihr seid? Was ihr hier macht?"
Seine Fassade schien vorbereitet, abgehärtet, nahezu unzerstörbar. Mit seinem unverschämten Lächeln konnte er jeden Versuch ohne Worte abschmettern, aber gleichzeitig so viel damit sagen. Stattdessen bekam ich jedoch eine unerwartete Antwort. "Alles zu seiner gegebenen Zeit. Vorerst würde ich euch bitten Drevin Cray nachzugehen." Er stellte die Öllaterne auf einer Holzkiste ab und wandte sich mir voll und ganz zu. "Ich war so frei und habe bereits ein wenig umher geforscht. Seht es als kleine Hilfe meinerseits. Von hier aus gibt es drei Ausgänge in die Obergeschosse, die er hätte nehmen können. Einer davon war verschlossen. An einem weiteren wurden heute allerlei Umbauten vorgenommen, er wäre in seiner beschmutzten Robe sicher aufgefallen. Bleibt nur noch eine Tür in die Freiheit. Sie führt aus einem Lagerkeller in eine Seitenstraße, von dort aus seid ihr auf euch gestellt."
Ich merkte die Anspannung in mir. Aus meiner Verabschiedung wurde erst eine Suche nach Drevin. Man könnte sogar sagen eine Suche aus Sorge oder Anstand. Aber dieser Kerl? Er sorgte dafür, dass ich ihn zu jagen hatte. Anscheinend war er wirklich geflohen, davongelaufen. Warum ist mir schleierhaft, waren seine Probleme doch endlich gelöst. So dachte ich zumindest. Mit einem "Worauf wartet ihr?" machte der Herr in Priesterrobe seinen Unmut deutlich. Was sollte ich anderes tun? Wirklich warten und zusehen, wie andere Sôlaner ihn finden? Das hatte er nicht verdient.
Obwohl ein Verlangen in mir brannte, herauszufinden, wer dieser geheimtuerische Kerl ist, musste ich zu Drevin. Und zwar als Erste. Eilig folgte ich der Wegbeschreibung des Mannes. Und ließ ihn allein in den schier endlosen Räumlichkeiten der Keller zurück.
Nach weiteren schiefen Gängen trat ich hinaus, in die Freiheit der Seitenstraße. Mehrere Kutschen und Lastenkarren standen auf beiden Straßenseiten, der Handel schien in vollem Gange zu sein. Während mich ein Esel anquiekte, wechselte ich die Straßenseite und versuchte einen halbwegs guten Überblick zu bekommen. Nur wenige Orte boten eine annehmbare Aussicht auf den vor mir liegenden Weg – und damit auf Drevins Fluchtweg. Ich versuchte mein Glück daher bei mehreren Händlern und in vier der kleinen Läden, bis mir – Deyn sei Dank - eine Dame weiterhelfen konnte. Sie sei gerade am Dekorieren des Schaufensters ihrer Schneiderei gewesen, als sich ein Blondschopf in der Kleidung der Akademie mit schnellen Schritten gen Norden bewegte.
Ich bedankte mich und setzte ihm nach. Im Norden lagen noch mehrere Stadtviertel, bevor die Stadtmauer das Ende Weissensteins markierte. Dahinter würden nur Wiesen und Wälder liegen. Gewiss würde Drevin nicht in der Stadt bleiben wollen, wenn er tatsächlich eine Flucht gewagt hatte. In seiner Kutte wäre es ihm aber auch nicht einfach möglich durch das Stadttor zu spazieren. Sie hatten dort sogar Bücher mit Zeichnungen aller Mitglieder der Akademie für solche Fälle. Und wenn nicht gerade mehrere Leibechts im Wachdienst waren, würde er niemals durch das Torhaus kommen. Ich musste also herausfinden, wie man in dieser Stadt ungesehen die Mauer überwinden kann.
Für solche Fragen gibt es gewissermaßen zwei Anlaufpunkte. Erstens die Stadtwache und zweitens die Schurken dieser Stadt. Wenn die Ersteren allerdings die Wege der Zweiteren kennen, bauen diese Neue. Weissenstein stellte sich aber bedeutend anders da, als die Hafenstadt Asmaeth. Wo ich spielend leicht mit ein paar Münzen einem Seebären oder Hehler Informationen hätte entlocken können, patrouillierten hier tasperinische Heerestruppen und Sôlaner. Manchmal macht einem die staatliche Ordnung und Kontrolle das Leben schwer, hm? Ich folgte daher schlussendlich dem Weg nach Norden, zum oberen Stadttor.
Auf dem Weg dahin sah ich allerlei umherspazierende Weissensteiner mit dazugehörenden Sôlanern, ratternde Karren und tratschende Städterinnen. Aber nirgends einen Drevin Cray. Wie auch? Er war sicher schon in der Nacht geflohen und ich wäre mehrere Stunden hinter ihm, selbst wenn ich mich jetzt auf Yuki schwingen würde. Weissenstein scheint auf den ersten Blick eine völlig verklemmte, staatliche Planstadt zu sein. Und auch auf den zweiten und letzten Blick erfüllt sie alle diese Klischees. Nichts an diesem Ort gefiel mir. Seine negative Atmosphäre, die herabgezogenen Gesichter. Außer den kirchlichen Geldern gab es nicht viele Gründe herzuziehen, wahrlich nicht. Und dann setzte auch noch der Regen ein. Erst fingen leichte Tropfen an auf den Boden zu plätschern, irgendwann schlugen die Wassermassen unerbittlich auf mich ein. Als ich am Nordtor angekommen war, schüttete es prasselnd aus Eimern. Ich war bis auf die Knochen durchnässt und jeder Schritt fühlte sich wie ein Sprung ins Wasser an. Aber – ich wollte ja nicht mehr aufgeben und mich hinter irgendetwas verstecken. Also machte ich weiter.
Unter den steinernen Pfählen des Tores angekommen, blieb ich ein wenig neben einer lodernden Kohlenpfanne stehen. Ich wollte wenigstens ein bisschen trocknen. Das Wetter war unangenehm und die Temperaturen mir nicht besonders wohlgesonnen. Ich atmete tief durch. Jule saß sicher gerade im Trockenen. Ihre beide Füße hatte sie auf meinem Kopfkissen abgestellt, während sie zusah, wie der Regen an der Fensterscheibe abprallte. Es wäre schön gewesen bei ihr zu sein. Angenehm. Warm. Trocken. Aber ich? Ich war auf der Jagd nach Drevin Cray. Einem geflüchteten Magier der Akademie zu Weissenstein. Das war die traurige Realität. Das Ergebnis meiner Handlungen. Unserer Taten. Ich werde für sie einstehen und auch diese Bürde tragen. Wie eine weitere schwere Last auf meinen Schultern.
Doch war ich nicht allein. Zumindest nicht allein auf der Suche nach ihm. Bald hörte ich die Rufe einiger zurückkehrender Reiter. Ihre Öllaternen waren im Regen erloschen und die Pferde wurden scheu. Sie brachen ihre Jagd nach dem Entlaufenen ab, obwohl er nicht weit gekommen sein soll.
In meinem Kopf schrillten alle Alarmglocken. Wenn sie mir zuvorkamen, dann .. kann ich nicht Schlimmeres verhindern. Dann wird Drevin sich wirklich bald an der Schlucht Dysmar vorfinden, und den Weg in die Dunkelheit schreiten. Ich .. wusste nicht, ob ich es verhindern konnte. Ich wollte es aber in jedem Falle versuchen. Das war mein Wunsch. Eine persönliche Schuldbegleichung. Vielleicht vorgeschoben, aber immerhin ehrlich.
Hastend sprintete ich durch die verlassenen Straßen der Stadt, so sehr, wie es meine Rüstung eben zuließ. Die Menschen hatten sich in die warmen und sicheren Innenräume geflüchtet. Es war keine Flucht, wie die von Drevin. Nein, es war .. Ich verstand ihn nicht. Hatte er aus Verzweiflung gehandelt? Angst? Während meine plätschernden und klimpernden Schritte das ewige Rauschen des Regens unterbrachen, dachte ich viel an ihn. An mich. An Schuld und Vergänglichkeit. Ich wollte ihn fragen. Seine Sicht der Dinge hören. Seine Motivation. Ich wollte nicht, dass sein Leben hier endet. Würde ich ihn gehen lassen, wenn ich ihn finde? Ich wusste es nicht. Es wäre falsch gewesen. Und auf der anderen Seite nur richtig. Die ewige Leier der Moral wird niemals aufhören, ganz besonders dann, wenn man sie immer wieder gebrochen hat. Brechen will.
Triefend kam ich an dem Stall an, in dem ich Yuki untergestellt hatte. In wenigen Minuten legte ich ihm Sattel und Zaumzeug an, bevor ich ihm beide Hacken in den Hintern rammte. Wir ritten durch den kalten Regen, der unsere Leiber hinabrannte. Unablässig und unnachgiebig. In Minuten waren wir wieder am Tor angekommen, das wir ohne jede Worte passierten. Vor uns lag nur das Dunkel des Sturmes, erhellt vom niedergehenden Donner. Er konnte nicht allzu weit gekommen sein, schließlich war er zu Fuß. Ohne gutes Schuhwerk. Ohne Vorräte. Was hatte er sich nur gedacht? Ich konnte seine Gedanken nicht nachvollziehen, denn ich weiß auch bis heute nicht, wie es ist keine Zukunft zu haben. Auch in der dunkelsten Stunde war Deyn an meiner Seite. Er wies mir immer einen Ausweg, eine Tür in die Freiheit. Aber Drevin? Drevin wurde weggeworfen. Hierhin. In dieses Gefängnis mit dem zelebrierenden Namen "Akademie".
Ich schlug in die Zügel, bis wir vom Dunkel des Sturmes aufgesogen wurden. Irgendwo zwischen Wäldern und Wiesen blieb Yuki ruckartig stehen, als wollte er mir ein Zeichen geben. Unsere nassen Leiber klebten längst aneinander, bis ich verstand. Ich erhob meine Stimme in die Dunkelheit, auf das sie das Licht ist, das uns leitet. Uns verbindet und vereint.
Krächzend hallte es "Drevin? Drevin, wo bist du?" durch die einbrechende Nacht. Es blieb still. Keine Antwort.
Yuki galoppierte von selbst weiter, suchte sich seinen Weg durch die Unterhölzer, während ich meine Augen aufhielt. Meine Stimme verklang zahllose Male in den Wäldern und an den Steinformationen oberhalb der Stadt. Irgendwann sah ich nicht einmal mehr die Hand vor Augen, so sehr hatte die Dunkelheit uns eingenommen. Wo warst du Drevin Cray? Zeig dich mir, so ich dir nichts antun wollte.
Es schien eine ausweglose Suche zu sein. Ein Versuch, der zu einer Jagd mit einem unbekannten Verbündeten – oder Feind – verkam. Dabei konnte ich nicht einmal mehr aufhören, so sehr hatte ich die Orientierung verloren. Die Nacht und der immerwährende niederprasselnde Regen hatten mich als ein Teil von ihnen verschluckt. Ich spürte das Brennen in meinem Herzen. Ich wollte nicht aufgeben. Nicht schon wieder. Nicht so. Also machte ich weiter. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib, bis sie bald am Versagen war. Nur Yukis ruhiges Schnauben hielt mich davon ab still zu sein. Und dann irgendwann, dann irgendwann endlich hallte es durch die Nacht.
"Hier, am Ufer. Hier bin ich. Hilfe."
Seine Stimme war schwach, nahezu gebrochen. Erst mit einigen weiteren Schreien im Trübsal der Nacht konnten wir zueinander finden.
Drevin lag kümmerlich zusammengezogen am Fuße eines Baumstumpfes. Völlig durchnässt und schwer blutend. Der Pfeil in seinem Rücken schien ihn nicht vom Lächeln abhalten zu können. Blut hatte seine einst weiße Robe tiefrot gefärbt. Ich sprang von Yukis Rücken, kniete mich zu ihm in den Sand und wollte wissen, was geschehen war. Doch bevor ich auch nur ein Wort sprechen konnte, legte er einen Finger auf seine Lippen und sagte: "Psssst. Ich würde gerne noch ein wenig dem Plätschern des Regens auf dem See zuhören. Es ist so lang her."
Ich ließ ihn gewähren. Setzte mich neben ihm in den Sand. Lauschte ebenso dem leisen Klang des Wassers. Der Blitz und mit ihm sein Donner vergingen irgendwann, doch der Regen blieb. Drevin sah elend aus. Aber er war am Leben. Er brauchte dringend eine Behandlung, bevor ihm Schlimmeres drohte. Er musste hier weg. Ich wollte ihm seinen Wunsch aber nicht nehmen. Und so schwiegen wir. Es herrschte so lange Ruhe, bis er selbst die Stimme erhob.
"Sie haben mich doch gefunden. Schneller als gedacht. Ich hielt mich für clever, aber sie waren besser. Immerhin kam der Regen und hat sie vertrieben. Ich wollte doch nur Freiheit. Ein Leben in Freiheit. Das war aber zu viel. Sowas ist einem Magiergesindel, wie mir, nicht vergönnt. Das ist doch, was sie sagen? Was ihr sagt?"
Ich schwieg. Ich ließ ihn reden und hörte nur stumm zu.
"Ich wollte dort nicht enden. Als wahnsinniger Magier, zwischen noch wahnsinnigeren Idioten. Nur um täglich ausgebeutet und bestraft zu werden. Das ist doch kein Leben. Ein wenig Freiheit. Ich wollte diese Kräfte nie. Versiegeln? Dabei gehst du drauf, Drevin. Großartig oder? Als ob ich nichts hätte tun können, als ob mein Pfad direkt in den Abgrund führt. Schnurstracks gerade aus nach unten."
Er schüttelte den Kopf. Neben dem Regen liefen ihm einige Tränen die Wangen herunter. Er war gebrochen. Ich wusste, dass ich besser nichts sage. Ich verstand, dass er seine Wahl längst getroffen hatte. Ob vor meiner Ankunft, danach oder deswegen. Es spielte keine Rolle. Er war frei. Wenigstens noch ein letztes Mal.
"Wenn ihr mich zurückbringt, ziehen sie den Pfeil aus meinem Rücken. Um mich dann zu verbrennen oder zu vierteilen. Bitte, lasst mich hier einfach noch ein Weilchen sitzen. Ich weiß, dass ihr nicht geht. Aber ..". Drevin zögerte. Sein Blick glitt von mir ab, in das tiefe, vor ihm liegende Dunkel.
"Aber beendet ihr es wenigstens. Kurz und schmerzlos. Ich will nicht leiden. Ich will nicht wieder eingesperrt und zu Tode gefoltert werden. Ich will als freier Mann sterben. Nur das."
Ich bekam kein Wort mehr raus. Was ist die richtige Antwort auf diese Frage? Natürlich? Selbstverständlich? Gern? Sogleich? Verflucht.
Also nickte ich. Nickte und nickte und nickte. Drevin lächelte. Mit einem ehrlichen, frohen Gesichtsausdruck wollte er aus der Welt gehen.
"Wir sehen uns vermutlich nicht auf der anderen Seite, aber .. kümmert euch bitte um Franz. Er hat mir nie etwas Schlechtes getan."
Wieder nickte ich. Vorsichtig zog ich meine Klinge und versuchte ihm ein möglichst kurzes, schmerzloses Ende zu bereiten. Beinahe ehrfürchtig erfüllte ich ihm seinen letzten, unaussprechlichen und unendlich traurigen Wunsch.
Mit einem Schnitt war es vorbei. Drevin Cray war tot.
Ich legte meine Hände um mein Holzkreuz und kniete vor seinem Körper nieder. Erst dann merkte ich, dass auch ich längst um ihn weinte. Trauer. Schmerz. Das war es. Die nächste Seele, die diese Welt verlassen hat.
Heiliger Renbold, du ewiger Behüter von Tod und Ruhe,
nimm du auch dich dieser verlassenen Seele an und führe sie
an die Schwelle deiner endlosen Schlucht.
Begleite sie auf ihrem letzten Wege,
als wäre sie ein Kind deiner selbst,
führe sie wie ein leuchtendes Mahnmal
ihres glorreichen Lebens vor die Pforte
des ewigen Himmelsreichs.
Deyn Cador, du Richter über Ordnung und Chaos,
nimm diese Seele als Teil deiner an
und gewähre ihr ein gerechtes letztes Urteil.
Empfange sie mit offenen Armen und gewährte ihr deine Güte,
denn auch diese Seele verdient die Liebe deiner Macht.
Zeige uns, wie sehr sie dir gedient hat und
kümmere dich um sie, damit sie für immer deinem
Reiche und der Ordnung dienen kann.
Umsorge sie mit deiner schützenden Hand,
deinem wärmenden Leib und
sättigendem Blute,
bis diese Seele in dir aufgeht,
wie ein hellerleuchteter Stern.
Ihr Heiligen, zeigt diesem Leben die Gerechtigkeit,
die es verdient hat. Lasset Gnade und Güte walten,
bevor ihr Verzweiflung und Sünde mehrt.
Wir bitten euch, ihr Heiligen, nehmt sie als Kind eurer auf
und verurteilt auch ihre Fehler nicht mit Verstoßung.
Nehmt euch ihrer an, auf das wir eines Tages wieder vereint sein dürfen.
Amen.
Mir war schwummrig und kalt. Reaktionslos blieb ich im Sand sitzen. Ich schloss meine Augen für einen Augenblick und ging in mich.
Mögest du ein gerechtes letztes Urteil erfahren, Drevin Cray.
Als ich meine Augen wieder öffnete, saß sie neben mir und Drevin. Fast schon spielend im Sand lächelte mir Jule Marina Weber aufmunternd zu. "Siehst du, Amélie, du brauchst mich wirklich nicht. Wenn du Sôlerbens Licht sein willst, dann sei es."
Ich war verwirrt. Verstand nicht. Ich war im Begriff meine Stimme zu erheben, doch da verschwand sie einfach. Spurlos und so schnell, wie sie gekommen war. Einfach weg. Eine Einbildung? Ein Zeichen Deyns? Oder doch nur ein Streich meines Kopfes, meiner ewigen Albträume und Hoffnungen? Ich weiß es nicht. Wichtig ist nur, dass sie in dieser schweren Stunde für mich da war. Mir Mut gegeben hat. Den richtigen Pfad aufzeigte. Einen Pfad, den ich selbst beschreiten muss. Und werde.
Vorsichtig legte ich Drevin auf Yukis Rücken nieder und wandte meinen eigenen Blick gen Himmel. Gerade als die letzten Worte meines Gebets gefallen waren, ließ der Regen nach. Schon bald klarrte der Himmel auf und der Mond trat hinter einem Schleier aus
Wolken zum Vorschein. Mit dem Licht der Domenica wies er mir den Weg zurück nach Weissenstein. Im Schatten der Fackeln wartete bereits ein bekanntes Gesicht auf mich.