*Paladin Einhart Habinger, wie er leibt und lebt, nutzt die Stunden der Ruhezeit um heimlich wieder an den Memoiren von Franz zu arbeiten. Seltsam findet er jedoch, wo er sie gefunden hatte - nicht etwa in seiner Truhe mit seinen Habseligkeiten, nein, rein zufällig bei einem Streifengang Richtung Marmoria. Staubig, trocken und verbrannt lag es im warmen Sand - der Einband war kaum leserlich. Wie zum Henker ist es bloß da hingekommen..?*
Vorwort -
Paladin Franziskus Maximilian Gerber, Solaner Orden Neu-Corethon
Bevor ich dieses Kapitel anschlage, möchte ich noch auf etwas eingehen, dass ich in den vorherigen Kapiteln ungenügend beschrieben Habe. Die Auferstehung meines Priors, Raphael Bonnington, kam nicht ohne Konsequenz. Raphael behauptete, an jenem Tag ein Schweigegelübde abgelegt zu haben. Ihr, meine Ordensritter, solltet jedoch die Wahrheit wissen: Raphael hatte seine Stimme verloren, als Bestrafung für meine Inkompetenz und Untätigkeit an jenem schicksalshaften Tage. Viele Monate danach jedoch erlang er seine Stimme wieder, während ich die Meine verlor. Die Antwort, wie das zu Stande kam ließ ich stets unbeantwortet, doch es wird Zeit dass ich meine Geheimnisse mit euch teile um euch auf das vorzubereiten, was kommen wird. Ich tat nichts anderes, als mit dem Heiligen Sôlerben höchstpersönlich zu verhandeln! Ich forderte meine Stimme im Gegenzug für die von Raphael. Doch für meine Dreistigkeit wurde ich auch bestraft, denn durch diesen Handel wurde meine Haut für immer fürchterlichst versengt, entstellt, auf dass sie niemals heilen möge. Sôlerben machte mir so klar, dass ein jeder Mensch verbrennen wird, der sich der Sonne zu stark nähert.
Wie ich, der einfache Franz, dies geschafft habe werde ich in einem späteren Kapitel näher erläutern. Ich rate euch aber tunlichst davon ab, es mir nachzumachen: Ihr solltet nicht nur aus meinem Niedergeschriebenen lernen, was ihr tun sollt, sondern auch was ihr auf keinen Fall tun solltet! Schmettert, was ich euch hier beschreibe, nicht als Wahnvorstellung oder Manie ab, denn damit würdet ihr euch weigern, mich und damit die Wahrheit anzuerkennen. Seid offen für die unfassbare Macht der Götter, und der Ehrlichkeit eures Mitstreiters und dem Glaube an die Menschheit!
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Schatten über Melissengespenst - Lenzmond 1345
Wir Solaner auf Neu-Corethon haben in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erregt. Nicht nur auf der Insel, ihren Bewohnern oder den Dämonen die wir bezwungen haben, sondern auch jenseits des leändischen Ozeans wurden viele wachsame Augen auf die Ereignisse, die sich hier abgespielt haben, geworfen. Der Decrapia-Skandal rund um Freibaron Alexander von Zahern, Raphaels Theorie, dass die Sonne sich im Mittelpunkt unseres Sternsystems befindet, der Einbruch in die Schwarzwasserakademie, der mit den sieben Kelchen zusammenhing und schließlich den sagenumwobenen Stein der Weisen zugegen brachte, die Einmischung in die geheimen Pläne der Agenten Meier & Mayer und natürlich die Publizierung der heiligen Schriften in allen Sprachen dieser Welt! Spätestens der letzte Punkt brachte das Fass zum Überlaufen. Wir konnten nicht länger in die Geschicke der Kircheninstitutionen reinpfuschen, ohne Rechenschaft abzulegen, immerhin haben wir auch stellvertretend für Zandig entschieden, die Übersetzung der heiligen Schriften zu unterstützen und uns damit gegen die ganze sorridianische Glaubensgemeinschaft gestellt. Das wird unsere Kollegschaft am Festland nicht unbedingt gut geheißen haben.. Ich hatte schon eine Vorahnung, dass der Tag der Abrechnung kommen würde.
Im Lenzmond kam schlussendlich ein Brief, mit dem Siegel des Erzdekan Michael Bonnington aus Asmaeth. Der Inhalt war wenig überraschend. Aufgrund der Tatsache, dass Raphael der Bruder von Michael ist, wurde auf den Erzdekan immens Druck ausgeübt - immerhin hatte dieser ihn nach der Rebellion auf Neu-Corethon pardoniert, zur silvanischen Konfession gezwungen und als Prior des Solaner Ordens wieder eingesetzt, und das obwohl der Orden den tasperinischen Gouverneur Liam von Mainruth damals nicht unterstützt hatte. Die Erwartungen waren deshalb hoch, und dass erneut soviel Aufruhr um Raphael Bonnington und seinen Orden entstand machte uns jenseits des Ozeans sicherlich keine Freunde. Deswegen mussten wir, auf Befehl, so rasch wie möglich nach Asmaeth kommen und bei Erzdekan Michael Bonnington Rechenschaft ablegen, wir hätten ja selber ein Ordensschiff mit dem wir segeln können. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, beunruhigt gewesen zu sein - im Gegenteil! Ich war noch nie in Weidtland, geschweige denn Großalbion, und meinen Bruder könnte ich dann hautnah erleben, als persönliches Schutzschild des Erzdekans!
Wir ankerten schließlich in der beeindruckenden Hauptstadt Weidtland's, dem Regierungssitz der ambitionierten und geschickten Königin Elsbeth I. Ob sie wohl je erfahren hat, unter welchen katastrophalen, grausamen und verabscheungswürdigen Umständen sie geboren wurde? Vielleicht war es ihre schwere Geburt, die sie zu so einer außergewöhnlichen Person hat werden lassen - aber dazu mehr in einem späteren Kapitel des Götterplans. Nachdem Raphael sich mit der undurchsichtbaren Bürokratie der Weidtländer beschäftigt hat (Aufenthaltsgrund, Dauer, Ankergebühr, Stadtbetregungsgebühr, Stadtbleiberechtsgebühr - Gnade einem Deyn!) und Jule als auch Friedrich im örtlichen Marktplatz die Chance nutzten, um ausgelassen exotische Gegenstände zu erwerben, fanden wir uns im Büro des Erzdekans wieder - jedoch, zu unserer Enttäuschung, war weder er noch mein Bruder zugegen. Ein junger Priester speiste uns ab, meinte, wir wären zu spät, denn der Erzdekan und sein Leibwächter wären nach Rodstedt gereist, die Heimatstätte Raphael's und Ursprung der Bonningtons. Sie bewirtschaften dort ein wohlhabendes Weingut, dass der älteste Bonnington-Sohn, Uriel, übernommen hat. Selbstverständlich ließen wir uns davon nicht abhalten, im Gegenteil: Sogleich wurde Reiseproviant erworben und sich zu einer Wanderung nach Rodstedt aufgemacht.
Nur wenige Stunden, nachdem wir den Marsch durch das milde weidtländische Klima angetreten hatten, meinte Ordensritter Salvyro Notfink, er wolle uns mit etwas Flötenmusik erheitern. Er spielte die Flöte leidenschaftlich - zu leidenschaftlich, denn Raphael und Friedrich schliefen plötzlich ein! Geschockt und wutentbrannt zugleich fühlte ich es in meinem Bauch - schädliche Magie war am Werk! Wutentbrannt schnappte ich mir Salvyros Flöte, und noch bevor ich ihren schädlichen Einfluss mit meinen Händen auch nur spüren konnte zerbrach ich sie entzwei und trampelte auf den Resten herum. Verdattert erklärte Salvyro mir, dass er das Instrument damals noch von Vincent Viscount erworben hatte. Oh, ich zweifelte an Salvyro. Aber nicht an seiner Rechtschaffenheit, sondern an seinem gesunden Menschenverstand.
Schließlich, gegen Nachmittag, kam die nüchterne Enttäuschung: Die Straße, welcher wir folgten, wurde durch einen abgeholzten Berghang unter sich begraben und machte den Weg Richtung Rodstedt unpassierbar. Wir suchten nach einem Umweg, und entdeckten schließlich einen Trampelpfad, der sich durch die Mischwälder der Lage, dem großen Fluss Weidtland's, schlängelte - der Weg führte offenbar zu dem berühmt-berüchtigten Kloster Melissengespenst! Die Geburtsstätte des flüssigen Seelenheils, Klosterfrau Melissengespenst, und Lehrstätte von Raphael in seiner Jugendzeit. Während wir dem Weg folgten, erzählte er nostalgisch von seiner wunderschönen Zeit dort - und wie das Kloster von einem seiner Vorfahren, Balthasar Bonnington, erbaut wurde, nachdem dieser in der nahe gelegenen Elspethgrotte eine göttliche Vision erhalten habe, das Kloster zu errichten. Viele mögen daran zweifeln, doch ich tat das keine Sekunde lang, im Gegenteil: Heute weiß ich, dass der Herr einen bedeutsamen Grund dazu hatte, das Kloster errichten zu lassen. Die Bonningtons hatten schon immer ihre Rollen im Götterplan zu spielen, und das keine Kleinen. Es dauerte nur leider nicht mehr lange, bis die allgemeine Erheiterung in Misstrauen und Alarmbereitschaft mündete.
Wir entdeckten, im schlammigen Pfade, einen außergewöhnlichen Fußabdruck - tiefe Rillen, wie eine dreizackige Forke, jede "Zinke" etwa 20 Zentimeter lang, ergänzt durch eine Art kurzer "Stachel" in der Mitte. Und als ich diesen Abdruck sah, fuhr die allmächtige Erleuchtung in mich - ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits genug unheilige Schriften gelesen und Monster geschlachtet, um solche Spuren nicht als das entblößen zu können, was sie waren: Die Spur einer fürchterlichen, hinterhältigen Kreatur Sahaet's, die ahnungslose Wanderer in dunklen Nächten auf ihren langen Schwingen in den ewigen Nachthimmel davon tragen, direkt in den verdammungswürdigen Schlund Skrettjah's. Nichts desto trotz setzten wir unseren Marsch fort, und während ein sanfter Nieselregen einsetzte, erkannten wir im faserigen Nebel die Konturen verschiedener Gebäude. Etwa ein Dutzend einfache Lehm- oder Fachwerkshäuser heimischer Bauern, die meisten einstöckig, viele mit Scheunen und Stallungen zu einem Hof angeordnet. Die Häuser sahen gut gepflegt aus, doch der Schein trügte - es herrschte eine mörderische Stille in dem kleinen Dorf. Viele der Häuser waren von innen verriegelt, doch fast immer wurden die Türe oder die Fensterläden mit brachialer Gewalt aus den Angeln gerissen, teilweise fand man im Lehmverputz erneut diese tief eingegrabenen Rillen. An einer Stelle zog sich getrocknetes Blut in einer Lache quer über den Fußboden, oberhalb des Fensters an der Hauswand weiter und verlor sich erst am Dach! Wir suchten in dem einzigen Steingebäude, das wohl dem aufsehenden Vogt gehören musste, Unterkunft - und waren zu unserer Überraschung nicht alleine.
Als ich die Holzstiegen in das Obergeschoß betrat, stürzte sogleich ein wahnsinniger Knecht mit einer Axt auf mich los, geistesgegenwärtig wie ich war konnte ich den jungen Burschen aber rechtzeitig entwaffnen ohne ihn schwer dabei zu verletzen. Sein Hemd war zerrissen und blutig, die Augen aufgerissen, der Geist sichtbar gebrochen. Er konnte sich beruhigen, wurde durch unsere Hilfe verarztet und murmelte dabei irgendetwas von "flatternden Schatten", die in der Nacht kamen um die Dorfbewohner zu holen - und mit ihnen im Nachthimmel verschwanden. Die Nacht brach herein, und aufgrund der Notwendigkeit verbarrikadierten wir das Gebäude und fanden dort Ruhe; zumindest solange, bis wir selber dieses Flattern hörten, wie von ledrigen Schwingen. Das Geräusch umkreiste uns, entfernte sich oder kam mal wieder näher, bis ein lieblicher Gesang sämtliche andere Geräusche erstummen ließ. Durch ein Fenster sahen wir, durch die Nebelschwaden hindurch, in der Weite ein Feuer, was auch schnell als die Quelle des Gesangs ausgemacht wurde. Wer, bei Skrettjah, würde in dieser Nacht am Lagerfeuer singen, nach dem unheiligen Massaker, dass in diesem Weiler vor sich ging? Das ganze roch nach einer Falle der Dämonenschar, weswegen nach einer erhitzten Diskussion entschieden wurde, die Sicherheit des Steingebäudes nicht aufzugeben. Tatsächlich verstummte der Gesang nach einigen Stunden, und wir fanden unseren Schlaf. Wir sollten aber, als wir am nächsten Morgen dort am Lagerfeuer nach dem Rechten sahen, unsere feige Entscheidung noch bereuen.
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Denn dort am Feuer saß mit klebrigen und nassen Haaren, frierend in einem Wollmantel zusammengekauert, ein kleines Mädchen, nicht älter als 5 Jahre. Wir sprachen sie an, untersuchten sie, heizten das Feuer an um ihr warm zu machen, doch nichts konnte das eiserne Schweigen des jungen Mädchens brechen - nicht einmal Raphael Bonningtons warmer Grinser. Es war Amelie, die schließlich noch etwas seltsames an ihr feststellte, als sie das Mädchen trockenrieb und versorgte - ein okkultes Symbol in Form einer Narbe, die vor langer Zeit in ihre linke Schulter eingeritzt worden sein musste. Das Mädchen schien in einer nahe gelegenen, von dem nächtlichen Überfall gezeichneten Hütte zu leben, in denen feinste Frauenkleider nicht wirklich in das Bild der abgeranzten Scheune passten. Der wahnsinnige Knecht war es, der den Verschlag als Behausung der Kräuterfrau Fronika und ihrer Tochter Magdalena offenbarten; jenem Mädchen, das uns mit großen Augen anschaute. Plötzlich alarmierte uns der Anblick von 3 Gestalten, die auf Eseln in das Dorf geritten kamen. Auf unsere Hilferufe reagierend, ritten sie auf uns zu - und an den Kutten erkannten wir Gottesdiener natürlich sofort, dass es Mönche aus dem nahe gelegenen Kloster Melissengespenst sein müssen! Der Anführer, ein blonder, großer Mann namens Arnulf erklärte, dass sich die Dorfbewohner schon am gestrigen Sonntag im Kloster zum beten hätten einfinden sollen, doch niemand gekommen sei. In der Nacht hätte man seltsame Geräusche aus dem dunklen Himmel gehört, da hat Abt Gottfried beschlossen nach dem Rechten sehen zu lassen. Die anderen Beiden, offensichtlich Novizen, waren Michael - zurückhaltend und schüchtern, und Andres, ein höchstens 16 jähriger Junge, ein wissbegieriger und aufgeschlossener Bursche. Als wir sie auf unseren Wissensstand brachten, stand ihnen der Horror direkt ins Gesicht geschrieben. Manchmal vergisst man, dass vor allem auf dem Festland selten jemals Zeuge von Magie, geschweige denn Dämonen oder Schwarzmagier wurde. Nachdem sie sich gesammelt hatten, luden sie uns in das Kloster ein, dort würde man sich um das Mädchen und dem wahnsinnigen Knecht kümmern. Aufgrund fehlender Alternativen und der Tatsache, dass Raphael uns unbedingt seine Jugendlehrstätte zeigen wollte, schritten wir Seite an Seite mit den Mönchen Richtung Kloster.
Der Klosterkomplex an sich bestand aus einer Gruppe von Gebäuden in altsorridianischen Baustil, in eine gerade Bergflanke gehauen. Die Basilika mit ihrem erhabenen Glockenturm sticht jedem Pilger sofort ins Auge, sobald er die schützende Bruchsteinmauer des Klosters passiert. Innerhalb der Mauern sah man Scheunen, in denen die Mönche ihre Gänse, Hühner, Rinder und Schweine bewirtschafteten, hier und da auch Ochsen, Esel und Ziegen. Als wir in das Kloster eintraten, schrie das kleine Mädchen plötzlich erbärmlich auf - Andres, auf Arnulfs Befehle hörend, nahm sie daraufhin in den Arm und brachte sie zu Mönch Gregor, der sich um sie kümmern solle. In seinem Arm jedoch wurde sie plötzlich ganz zahm. Kein Wunder, denn die Beiden wussten es nicht, doch sie waren tatsächlich Geschwister gewesen. Arnulf begleitete uns in die Pilgerherberge, auf den Weg dahin linsten wir nachdenklich zum Stall, denn dort stand ein Pferd mit dem Wappen der Riedländer. Spätere Recherchen brachten zu Tage, dass dies das Pferd eines Riedländer Ordensritters sei, der verletzt in das Kloster kam und wenige Tage nach seiner Unterbringung im Krankenbett verstorben ist. Der Herbergenleiter, Jakob, brachte uns auf unsere Zimmer, in denen wir gnädigerweise einige Tage ausharren konnten - natürlich brachten wir eine angemessene Spende, wie der Anstand es gebührt, für die Unterkunft entgegen. Schon in Kürze würden wir den Abpträses sprechen können, der uns in dem Kloster herumführen würde, bis dahin hat man uns mit Brot, Käse, Wurst und Bier versorgt.
Der Abt selber, Gottfried Heidenreich, schien auf dem ersten Blick ein wortgewandter, gepflegter Mann mit feinen Manieren zu sein. Wir brauchten aber nicht lange, um festzustellen, dass mit dem Abt definitiv etwas nicht stimmte - teilweise wurde sein warmer Blick glasig, er sprach mit sich selbst und war geistig völlig abwesend. Auf dem Rundgang führte er uns an der berühmt berüchtigten Elspethgrotte vorbei und meinte, dass jeder, der dort eine Nacht ohne Essen verbringe, seine Bestimmung erkennen würde. Ich dachte, keinen Bedarf dafür zu haben - doch nun erkenne ich, wie töricht es war, sie nicht früher herausgefunden zu haben. Nachdem wir das Kloster mit all seinen Gebäuden und Räumen erkundet haben, landeten wir in den Räumlichkeiten des Abtes, wo er uns gleich neugierig mit Fragen zu den Dorfbewohnern, dem Mädchen und dem wahnsinnigen Knecht löcherte. Er riet uns, einige Tage zu bleiben bis der Weg nach Rodstedt frei werden würde, um das Mädchen und dem Knecht würde man sich hier bestens kümmern. Ansonsten gewährte er uns Freigang, ermutigte uns Solaner dazu, das einfache Mönchsleben auszuprobieren und mit all seinen Vorzügen zu genießen. Wir ließen uns nicht lumpen, und konnten uns trotzdem genau so wenig unserer verbissenen Art, dem Verschwinden der Dorfbewohner nachzuforschen, erwehren. So liebenswert das Kloster und seine Mönche auch schienen, letzte Nacht war ein fürchterliches Massaker geschehen, das dringend Aufklärung benötigte. Und so nutzen wir den Tag, um uns mit den Bewohnern des Klosters auseinanderzusetzen, und stießen dabei auf so manch Fürchterliches.
Von einem jungen Skriptor, der perverse Zeichnungen zur Befriedigung der fleischlichen Gelüste anfertigte, über versoffene Herbergsleiter bis zu einem Medikusgehilfen, der wohl dem eigenen Geschlecht zugeneigt war - und dies waren noch die verzeihbarsten Sittenverluste, die in dem prestigeträchtigen Kloster Melissengespenst vor sich gingen. Seltsam.. wenn ich so darüber nachdenke, dass ich dem Medikusgehlifen, Karl, bei unserer ersten Begegnung für seine vermeintliche Homosexualität ins Gesicht schlug, man sich dann aber später in dem Schlachtfeld namens Szemäa erneut begegnete und unaufgefordert gegenseitig das Leben rettete - da frage ich mich, wie viel noch Götterplan und was reiner Zufall ist. Eine nachvollziehbare Verrohung der Mönchsgemeinschaft, bedenkt man, dass die Meisten sich nicht freiwillig diesem Leben widmeten, sondern entweder von ihren Eltern gezwungen wurden, vor dem Gesetz flüchteten oder aufgrund eines Bastardstatuses schlicht und ergreifend keine andere Lebensweise ohne Scham wählen konnten. Die Wenigsten schienen aus herzensguter Liebe zum Herren Deyn Cador hier zu sein. Viel erschreckender, jedoch, ist, dass Gerüchte besagten, dass der Abtpräses die Kräuterfrau Fronika aus dem attackierten Dorf oft im Kloster traf und dort mit ihr trank, vielleicht Unzucht mit ihr trieb. Auch wurde uns unter vorgehaltener Hand berichtet, dass der verstorbene Riedländer wohl seltsames Gut bei sich trug - einen langgezogenen Schädel, ohne Augen und dafür mit messerscharfen Reißzähnen, als auch einen längeren, hölzernen Gegenstand den man aber nicht identifizieren konnte. Der Mann hatte einige verheilte Schnittwunden, war aber stark abgemagert. Er schien auf dem Weg zur Besserung zu sein, als er am vierten Tag urplötzlich verstarb. Ein Mönch jedoch beobachtete das Ganze, und berichtete, dass der Abt den Riedländer in einem Streit erwürgte! Der sterbende Ordensritter verfluchte den Abt, sein eigen Fleisch und Blut soll ihn erschlagen - dann heimste der Abt seinen Besitz ein und machte sich rasch aus dem Staub. Bei Deyn, dieses Kloster war ein verdammungswürdiger Sündenpfuhl geworden, der es verdient hatte, von Grund und Boden gefegt zu werden! Und mein Wunsch sollte erhört werden.
Noch während wir auf der Suche nach dem Abt unsere Gedanken sortierten, die Motive hinter den Schandtaten von Heidenreich hinterfragten und nach dem roten Faden suchten, rannten wir einer Person über den Weg, über die in alle Ewigkeit Lieder der Lobpreisung gesungen werden sollten: Prior Hugo Feuerstein, ein alter Mann mit einem beträchtlichen, grauen Bart und narrenähnlicher Kappe auf dem Kopf. Während die Abenddämmerung über uns hereinbrach, flüsterte er uns zu, ihm in die Elspethgrotte zu folgen - er brauchte wohl dringend den Rat der Solaner Ordensritter. Jegliches Misstrauen, dass ihm entgegengebracht wurde stellte sich glücklicherweise als falsch heraus - Prior Feuerstein berichtete besorgt von den Missständen im Kloster, behauptete, der Abt sei von einer dunklen Macht besessen, und dass der Schädel des verstorbenen Riedländers damit etwas zu tun haben muss. Er bestätigte, dass der Abt tatsächlich Unzucht mit Fronika betrieb, und zwei Kinder mit ihr zeugte, eines davon der junge Mönch Andres, das andere das stumme Mädchen Magdalena. Auch schien er über die Schrecken Bescheid zu wissen, die die Dörfler entführten, genau wie ich - und ergänzte, dass sie nur in der Nacht auftauchen würden und jegliche Flammen in ihrer Nähe erlöschen lassen würden, als auch alles Vieh aufschrecken und in den Wahnsinn trieben würden. Fronika sei auch vor einigen Tagen in das Kloster gekommen, aber nie wieder gegangen, da vermutet er dass der Abt sie entweder irgendwo gefangen hält.. oder Schlimmeres. Auch meinte er, dass er hier in der Nähe der Elspethgrotte Selbstgespräche und Flötenspiel hörte, es schien von den Wänden, der heiligen Quelle selbst irgendwo zu kommen, doch konnte er keine Quelle ausmachen. Wir schworen Prior Hugo, den Abtpräses für seine Verbrechen gerade stehen zu lassen und mit ihm die Missstände nach und nach aufzuklären, als auch das Auftauchen der geflügelten Bestien zu erklären und sie zurück zu Skrettjah zu schicken. Das sollte uns auch schlussendlich gelingen, doch die Götter wissen, wie viel Blut dafür vergossen werden musste. Der blutige Höhepunkt war bald erreicht.
Als wir nach draußen traten, lag die Nacht bereits über dem Land. Das Vieh war unruhig, überall flatterten aufgebracht Hühner im Hof umher. Auf dem Dach des Claustrums hüpfte jemand, wahnsinnig lachend, von einem Bein auf das Andere, der irre Waffenknecht Rudger. Noch bevor wir versuchen konnte, ihn zu beruhigen oder herunterzuholen, packten ihn plötzlich zwei pechschwarze Klauen und verschwanden mit ihm im Nachthimmel, von Rudger hörte man nur noch Schreie in Pein und Qual.. bis sie gänzlich verstummten. In diesem Moment brach die Hölle über das Kloster herein. Die Bestrafung für die Sünden der Bewohner fiel ihnen auf den Kopf, überall waren Mönche und Laien die um ihr Leben rannten, beteten und flehten. Doch auch das heiligste Tier von allen drehte durch, ich sah, wie ein Laienbruder zu Boden stürzte und von dem Geflügel Augen und Zunge herausgerissen bekam! Ich drehte mich um, doch sah nur noch die flatternden Roben meines geliebten Priors - ich hatte mich in der Menge verloren, war auf mich allein gestellt. Danach spürte ich schon die unheiligen Klauen, wie sie sich um meine Brust schnallten und mich mit in die Höhe zogen; sie krochen in die Ritzen meiner Rüstung und KITZELTEN mich! Ich sah mein Ende schon gekommen, doch schaffte ich es tränenlachend, einige Meter über den Boden meinen Anderthalbhänder zu ziehen und das garstige Vieh zu treffen, da ließ es mich los und ich krachte harsch auf dem gepflasterten Boden auf. Langsam kämpfte ich mich wieder auf die Beine, besinnungslos torkelte ich umher, während ich sah wie die Dämonenschar Laie um Laie in den Himmel zogen, die Hühner ein Blutbad anrichteten und aus einigen Fenstern giftiger Rauch aufstieg. Orientierungslos schwang ich mein Schwert und kämpfte mich von Gang zu Gang, bis ich mich im Skriptorium wieder fand, wo ich den perversen Skriptor, Gutbrecht, unter seinem Tisch kauern sah. Ich packte ihn am Kragen und stürmte mit ihm über den Innenhof, mit dem Anderthalbhänder streckte ich alles nieder das uns in die Quere kam, bis ich ihn im gut verriegelbaren Braukeller verstecken konnte. Herbergsleiter Jakob und Braumeister Gunther waren auch hier - so wie Raphael, Amelie, Jule, Salvyro und Friedrich! Sie waren unverletzt und heilfroh, berichteten, das Zimmer des Abtes durchsucht zu haben und einen Geheimgang in eine Grotte gefunden zu haben, die sie als die wahre Elspethgrotte vermuteten. Dort fanden sie eine seltsam geschnitzte, okkulte Flöte, den stinkenden Leichnam der Kräuterfrau Fronika.. und auch den Leichnam des Abtes Gottfried Heidenreich!
Von dem Täter war keine Spur, doch das war momentan auch unwichtig. Dort draußen waren noch viele gute Mönche, die gerettet werden mussten - als auch das Mädchen Magdalena! Während wir lauthals diskutierten, wie wir alles Beenden, drang ein penetranter Klang durch das Kloster. Jemand schlug hilferufend die Glocke der Basilika an, und als wir nach draußen blickten, sahen wir wie die Heerschar der geflügelten Dämonen sich um den Glockenturm wand, wie ein schwarzer Mantel der sich ununterbrochen windete, krampfhaft versuchte, etwas zu erwischen doch nie nah genug heran käme. In dieser Heerschar flackerte traurig ein Licht, wir hörten wir eine männliche und weibliche Stimme, wie sie altsorridianische Verse laut vortrugen: Magdalena! Da die Wesen auf den Glockenturm konzentriert waren, war es uns ein Leichtes über den Hof zu rennen und diesen von innen zu betreten - dachten wir jedenfalls. Denn urplötzlich wurden wir von drei Wesen angegriffen, doch der Angriff währte nur kurz. Schallend lachend, tanzte der legendäre Prior Hugo Feuerstein, mit einem Kessel hellrot brennenden Feuers in unsere Richtung, schwenkte sein flüssiges Verderben auf die Bestien und ließ sie zu Staub zerfallen! Manisch erhob er die Stimme: "Ihr Dämonen der Ahnen, Schrecken aus der Hölle, ihr könnt mir nichts tun, denn ich gebiete allein über das Feuer der Sorridianer, jene Waffe, die schon die Esh'Ajen das Fürchten lehrte. Dagegen könnt ihr nichts ausrichten!" Der altehrwürdige Prior nahm es allein mit den Bestien auf - er steckte zwar dabei das ganze Kloster lichterloh in Flammen, dennoch hatte er sich mit dieser Darbietung für immer in unsere Herzen eingebrannt. Nur durch seine Hilfe schafften wir es bis zum Glockenturm, bestiegen ihn von innen nach oben und sahen den Novizen Andres und die junge Magdalena, wie sie gemeinsam aus der heiligen Schrift rezitierten, vor ihnen der unheilige Schädel des Riedländer Heinrich's. Andres gestand alles - dass er es war, der seinen Vater, den Abt, erschlagen hat nach dem er von seiner Zeugung erfuhr und den Leichnam seiner Mutter fand. Er behauptete, dass er mit dem Schädel diese Bestien gerufen habe um sie für immer zu verbannen, doch er schafft es einfach nicht! Der Schädel würde zu ihm sprechen, meinen, dass er mit seiner Hilfe alles abwenden könne, doch weiß er nur zu dass er lügt. Die Monster kreisten immer näher auf den Turm zu, drohten, ihn zum Einsturz zu bringen, da schoss es Raphael, wieso das Mädchen noch lebte und sie sich nicht Andres und Magdalena holten - ihre okkulte Narbe auf der Schulter war ein Schutzsymbol, dass sie zurückhalten muss! Deswegen war sie die einzige Überlebende aus dem Dorf!
Geistesgegenwärtig zückte Salvyro plötzlich die okkulte Flöte, die der Abtpräses von dem ermordeten Riedländer gestohlen hatte, und begann sie zu spielen. Ich wollte ihn davon abhalten, erinnerte ich mich doch an den Anfang unserer Reise, doch die Bestien blieben in der Luft stehen, sie verharrten; da donnerte Salvyro lauthals den Befehl, dass sie zurück in ihren Höllenschlund fahren sollen wo sie hergekommen waren! Ein Mark und Bein durchdringendes Flattern durchzog die Luft, der Wind peitschte uns um die Ohren als alle Biester auf einmal den Rückzug antraten - und dann waren sie fort. Salvyro hatte wieder eine böse Flöte gespielt, doch dieses Mal uns alle damit gerettet. Geblieben ist lediglich das brennende Kloster, die erbarmungswürdigen Leichen der friedfertigen Mönche und dieser verfluchte Schädel. Eindeutig von einem bösen Geist besessen, war es der Schädel welcher den Untergang über das Kloster hereinbrachte. Er muss den ohnehin schon sündhaften Abtpräses beeinflusst haben; dieser hatte, aufgrund des Fluches des Riedländers, das sein eigen Fleisch und Blut ihn erschlagen würde, soviel Angst, dass er die Bestien über das Dorf herfallen ließe um seine uneheliche Tochter, Magdalena, zu töten - ihre Mutter hatte er in der Elspehtgrotte bereits umgebracht, um das fürchterliche Geheimnis seiner Bastardkinder zu wahren. Jedoch rechnete er nicht mit dem Schutz, den ihre Mutter ihr schon vor langer Zeit in die Schulter hat einritzen lassen und auch nicht damit, dass es sein Sohn sein würde, der ihn schließlich zur Strecke bringt. Alles, was noch lebte und halbwegs bei Verstand war, löschte was gelöscht werden konnte, doch die meisten Gebäude waren zerstört. Abtpräses Hugo Feuerstein dankte uns für unser Mitwirken, bedauerte die ganzen Vorfälle und bat uns um einen letzten Gefallen: Wenn wir bei den Bonningtons in Rodstedt ankommen, um finanzielle Mittel zu fragen um das einstige fromme, wunderschöne Kloster Melissengespenst wiederaufbauen zu können. Wie konnten wir unserem Lebensretter diesen Wunsch ausschlagen?
Die Tage in Rodstedt waren wunderschön. Nachdem wir uns erklärt hatten und Michael als auch Werner den Schock überwundet hatten, dass Raphael seine Stimme wieder hatte und ich die meine verloren, als auch noch den Vorfall im Kloster erklärten, verbrachten wir die Tage auf einer freundschaftlichen, gar familiärer Basis. Wir tranken Wein, tauschten Geschichten aus, wanderten in den Weinfeldern umher und erholten uns von unseren Strapazen. Wir genossen die Zeit, die man uns gab, denn sie würde für eine sehr, sehr lange Zeit die letzte Art von Erholung sein die wir jemals empfinden würden. Damals hielt ich den Erzdekan noch für einen ehrbaren Mann, der auch einiges an Bodenständigkeit besaß. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nichts von seinen bereits begangenen, unmenschlichen Verbrechen, und wie er uns alle nach Strich und Faden belogen hat, sogar seinen eigenen Bruder. Auch erzählte er, Hals über Kopf mit den Vorbereitungen für die Expedition nach Corethon beschäftigt zu sein, denn er will die Überreste seines guten Freundes Jannes Starkwetter bergen - jene Insel wird er schlussendlich nie mehr verlassen. Mit Werner habe ich auf unsere Eltern getrunken, auf Patrick, und dass unsere Linie niemals aussterben möge. Wir hatten Sahaet besiegt, und ließen uns ausgelassen dafür feiern, bevor wir den weiten Weg zurück nach Neu-Corethon antreten würden. Das sorridianische Feuer, dessen Rezeptur Hugo uns als Dank mitgab, würde uns auch in Zukunft eine nützliche Waffe im Kampf gegen Skrettjah's Heerschar sein. Auch wenn nun alles vorbei war, musste ich erkennen, dass auch dieser Aufenthalt eine Prüfung des Herren gewesen sein muss. Ab diesem Tag kam mir das erste Mal der Gedanke, ob es denn wirklich gerecht sei, dass allein für meine Prüfung stets so viele Menschen ihres Leben beraubt werden, eine Frage, die ich mir in Zukunft noch öfter stellen würde.
*Habinger hält sich die Hand vor den Mund - was schreibt Franz da? Weiß er etwas von dem Ableben des Erzdekans? Hat er ihn vielleicht gar selbst.. nein! Franz war sein Vorbild, ein wahrer Solaner. Niemals würde er Hand gegen den Klerus anlegen. Aber dennoch war nicht jeder Zweifel Habinger's bereinigt, was auch der Grund ist, wieso er mit der Wiederherstellung der Memoiren nicht aufhören kann..*