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Sonstiges Kesslers Monolog

#1
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Charakter

Dirk Kessler ist Kartograph, Informant und ein Mitglied der Gilde der Kartographen. Ihm wurde die Ehre zuteil, den Vorstoß in die Westwind-Inseln anzuführen, als lokaler Gildenmeister der Kolonie Neu Corethon. Aber seine Aufgaben beschränken sich nicht nur auf das Führen jener Gilde, als hartgekochter Informationsjäger besitzt er noch ganz andere Motive. Ich möchte mit diesem Charakter eine Geschichte erzählen, an der die gesamte Spielerschaft beteiligt sein kann. Es ist schwierig, eine komplexe Geschichte mit einer Masse an Spielern durchzuführen, sei es aus Gründen der gegenseitigen Terminabsprache, Arbeitsaufwand oder auch der Übersichtlichkeit. Ich habe das Versprechen gemacht, ein Event für alle Spieler zu ermöglichen, nicht nur für einzelne Fraktionen. Die Lösung dazu liegt in einem Erzähler, jemanden der die Geschehnisse kommentiert und als Leitfigur dienen kann. Aus diesem Grund existiert 'Kesslers Monolog', kein geschriebener Bericht, wie man ihn sonst vermuten würde. 

Dirk Kessler ist der Archetyp eines hardboiled Detectives im Film Noire-Setting, nur werden alle Unstimmigkeiten an den Zeitgeist unserer Spielwelt angepasst. Daher werdet ihr recht schnell feststellen, dass ich mit Tropes und Anspielungen in diesen Texten arbeite, welche diese ganz bestimmte Stimmung erzeugen sollen. Die raue Stimme aus dem Off, die mit vielen Metaphern und Vergleichen über seine eigene Erlebnisse berichtet. Unsere Hauptfigur hat ein großes Mysterium aufzuklären, an dessen Fortschritt ihr unmittelbar beteiligt seid. Dieser Monolog entsteht für ein fiktives Publikum und ist in keinem Notizbuch oder dergleichen zu finden, er dient rein eurer eigenen Unterhaltung und Mitbekommen der Geschichte. Am Anfang wird euch der Charakter geheimnisvoll und fremd vorkommen, mit jedem Kapitel werden sich neue Charakterzüge und Hintergründe offenbaren, die ihm etwas Leben einhauchen werden. Kessler hat viele Probleme in seinem Leben, eines davon sind die Stimmen in seinem Kopf, die ihm ständig Anweisungen zuflüstern. Ihr als Kollektiv übernehmt die Rolle dieser Stimmen, wie genau, erfahrt ihr im nächsten Abschnitt.

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Besonderheiten

Die Umfragen werden an jedem Ende der einzelnen Kapitel zur Verfügung stehen. Hier beginnt die erste Interaktionsmöglichkeit im Verlauf dieser Geschichte, denn ihr entscheidet über die nächsten Schritte von Dirk Kessler. Welchen Ort soll er für seine Recherchen aufsuchen? Soll er einmal diesem Wachmann etwas näher auf den Zahn fühlen? Nase brechen oder mit einem blauen Auge davonkommen lassen? Wie in einem Choose-your-own-Adventure werden eure Entscheidungen Konsequenzen mit sich bringen. Kessler könnte sich mit den falschen Personen angelegt haben und landet für die nächste Zeit in einer dunklen Zelle. Er überlebt den Anschlag auf seine Person nur knapp, doch alle seine Aufzeichnungen verschwinden im Feuer. Womöglich entdeckt man eines Morgens auch nur noch seine Leiche im feuchten Graben. Wie weit diese Geschichte erzählt wird und welche Antworten in diesem Mysterium an das Tageslicht kommen werden, liegt also in euren Händen. Dirk Kessler ist zu Teilen eure Marionette und ihr entscheidet, ob er diese Insel lebend oder in einem Sarg verlässt. Im Prolog wird sich noch keine Umfrage befinden, doch ab dem ersten Kapitel wird es interaktiv.

Die Musik findet sich am Anfang jedes Kapitels als Symbol in der oberen linken Ecke. Dabei handelt es sich um Ambiente oder Kulisse, die ihr euch im Hintergrund während des Lesens anhören könnt. Denn was ist ein schon ein guter Noire-Krimi ohne den weichgespülten Jazz und dem an die Scheiben tropfenden Regen?

Das Notizbuch wird sich als Grafik unter den Beiträgen finden und beinhaltet in der Regel die Fragen, welche in diesem Mysterium aufgeklärt werden sollen. Es dient der Übersichtlichkeit für den Leser und den Fortschritt dieses Falls. Werden die Fragen mit der Zeit beantwortet, werden sie im Notizbuch durchgestrichen.


Spielwelt

Doch Dirk Kessler besitzt natürlich noch die offensichtlichste Interaktionsmöglichkeit. Als Charakter dieser Spielwelt und Gildenmeister wird er auch auf der Insel zu finden sein. Er wird durch die Gegend schleichen und bestimmte Ereignisse im Rollenspiel ausspielen. Eure Charaktere besitzen dann die Möglichkeit, auf den Ausgang der Geschehnisse einzuwirken. Sei es als Zeuge, Partner oder auch Gegenspieler. Die besonderen Informationen, welche sich in diesem Monolog offenbaren, dürfen natürlich nicht zu eurem Charakterwissen zählen, aber das sollte bereits offensichtlich sein.

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#2
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Prolog

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Der Auftrag

Es hat schwer geregnet, die Art von Regen von der man sich erhofft, er würde den Schmutz von den Straßen waschen. In der Gilde der Kartographen war es still geworden, verdammt still. Einzig das undichte Dach in meinem viel zu kleinen Arbeitszimmer war zu hören. Tropfen für Tropfen lief der letzte meiner Eimer wie mein gereiztes Gemüt langsam über. Aber in diesem traurigen Verein hört sowieso niemand auf mich, diese verdammten Hurenknechte.

Mein Name ist Dirk Kessler, ich bin schon längere Zeit Mitglied der Abenteurer-Gilde, so wie sie hier in der großen Stadt genannt wird. Meines Zeichens bin ich Kartograph und Informant, zumindest steht es so auf meiner Eingangstür. Das goldene Zeitalter unserer Vereinigung scheint verebbt zu sein und hat sich genauso schnell verflüchtigt, wie es hereingeschneit war. Es ist lange her, dass mal jemand meine Dienste in Anspruch genommen hat und wenn nicht bald etwas reinkommt, wird es wohl die dritte Woche Bauernbrei.

Schließlich trat Sie durch die Tür wie eine Gepardin in ein kalifatisches Waisenhaus - erdbeerblond und Beine bis zum Abwinken. Keine Frau ihres Alters hätte sich ein derartiges Kleid leisten können und ihre Gangart gab mir einen guten Hinweis darauf, wie sie es wohl bekommen hat. Auf ihrem Gesicht standen schlechte Nachrichten - so wie das nächste Seidenembargo.

Sie stellte sich vor, ein Name der genauso falsch war wie das Lächeln auf ihren vollmundigen Lippen. Anscheinend war sie nur das Bindeglied aus verschwörerischen Hintermännern. Schweigend überreichte sie mir einen roten Umschlag, der blutige Farbton erinnerte mich an meinen letzten Auftrag. Die Tür knallte zu, noch ehe ich einen Blick auf den Inhalt werfen konnte, im gleichen Zug stürzte auch mein letzter Regeneimer über den Teppichboden.

Eigentlich nehme ich keine Aufträge mehr von Geheimniskrämern an … und das habe ich auch nie getan. Es war mein Vorgesetzter Krüger, der mir mit ziemlich viel Druck deutlich machte, dass es jetzt Zeit wird, meine sieben Sachen zu packen. Er schickte mich wie ein ausgesetzter Straßenköter über den Leändrischen Ozean, in Richtung der unbekanntesten Lande, die unsere beschissene Welt überhaupt noch zu bieten hat.

Die Schiffsreise war übel – obwohl nicht nur übel, sie war saumäßig scheiße. Es gab keinen Tropfen Absinth auf diesem Seelenfänger und den Gossenhauer den sie mir anboten, hätte ich ihnen am Liebsten querlängs in den Rachen gestopft. Zu allem Überfluss hatte ich auch meine Streichhölzer in der falschen Jacke stecken gelassen, also ließ mich auch die Pfeife nicht auf friedliche Gedanken kommen. Ich war trockener als die Damacht-Wüste im Hochsommer, zumindest meine Frau wäre jetzt einmal zufrieden gewesen. Aber sie hätte sicherlich etwas anderes gefunden, mein kleines Miststück.

Ewigkeiten später kam ich endlich am Ziel meiner Reise an – Neu Corethon. Ein Drecksloch sondergleichen, schon beim ersten Anblick musste ich kotzen. Könnten auch die Überreste des Gossenhauers gewesen sein, dem ich mich in meiner schwächsten Stunde doch noch zugewandt habe. Der Auftrag der Kartographen-Gilde war eigentlich ziemlich einfach, möchte man zunächst meinen. Ich soll hier in Arsch-der-Welt-hausen den Namen der Gilde weitertragen und lukrative Aufträge an den Mann bringen. Hauptaugenmerk ist laut den Sesselfurzern die Kartographierung der Westwind-Inseln, irgendwo muss man schließlich anfangen. Aber musste ausgerechnet ich das kürzeste Streichholz ziehen?

Doch da ist noch diese andere Sache, die zusätzliche Arbeit abverlangt, eine ganz andere Größenordnung. Dieser ominöse Fall, für den ich anscheinend nur Antworten an diesem abgeschiedenen Plätzchen finden kann. Ich krame den zerknitterten, roten Umschlag aus meiner Jackentasche. Schon unzählige Male habe ich mir dessen Bedeutung durch den Kopf gehen lassen und selbst während der Wochen auf hoher See wollte mir immer noch keine Antwort auf diese eine, verdammte Frage einfallen.

„Was bei allen großen Göttern habe ich am 5. Dezember ‘47 gemacht?!“



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#3
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Kapitel 1

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Die Fronten

Es war die Art von schwüler, schwarzer Nacht, die sich an dich klammert wie etwas Greifbares – ein dunkles Gewebe aus Tyrannei, Täuschung und Tod. Ich wachte schweißgebadet an meinem Schreibtisch auf, die Schreie waren wieder verklungen. Kann mich kaum noch daran erinnern, wann ich das letzte Mal einen ruhigen Traum hatte. Vier Jahre lagen seit dem Zwischenfall zurück, die Gesichter werde ich immer noch nicht los. Ob die Gläser Absinth schon am Morgen gut für mich wären? Nein, aber sie ließen mich immerhin auf andere Gedanken kommen.

Ich verfluchte die Gilde der Kartographen für ihren sparsamen Kurs und reckte mich in den wenigen Quadratmetern, die für mich Schlaf- und Arbeitszimmer waren. Immerhin ließen einen die Einheimischen nicht hängen, tüchtig waren sie ja. Während ich mich langsam an diese schreckliche Hitze gewöhnte, konnten sich die Leute mit meiner Visage zurechtfinden. Diese Stadt und mein Fall waren ein echter Knaller. Für meinen persönlichen Auftrag habe ich ein paar Runden gedreht und die Lauscher aufgesperrt.

Die Hebel von Neu Corethon werden von verschiedenen Fronten geführt, die Bewohner scheinen alle nur Marionetten in einem grausamen Puppenspiel. Fragt sich nur, wer an den Seilen zieht. Da hätten wir Recht und Ordnung, die von der ansässigen Garnison verunglimpft wird. Der Kommandant trägt den passenden Namen Morgenstern und verhält sich wie die Axt im Walde. Scheint ein ziemlich grober Typ zu sein, der seiner Meinung gerne mal mit Nachdruck das nötige Gewicht verleiht.

Dann hätten wir den Stadtmeister Erbach, kaum der Rede wert. Ein aufgeblasener Niemand, ohne Tiefe und einzig darauf bedacht, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. Anders sieht es da schon bei den Exoten aus: Magister Gramberg. Da soll noch jemand sagen, das Leben hätte nichts magisches mehr an sich. Zurückgezogen im wortwörtlichen Morast dieser Stadt fristet er Seines in scheinbarer Isolation. Doch die stillen Wasser sind bekanntlich die Tiefsten, was ihn wohl dazu gebracht hat, ausgerechnet hier eine Magierakademie anzuleiten? Einzig der Gouverneur dieser Stadt, von Siedenbruck, ist noch unantastbarer – keine Chance für mich an ihn ranzukommen. Was er wohl den ganzen Tag in seinem Kämmerlein anstellt? Der Adel ist doch bekannt für seine ungewöhnlichen Vorlieben.

Kommen wir zum Letzten der Giganten, das wahre Gesicht dieser Stadt. Als Oberhaupt der lokalen Kirche wirkt Prior Bonnington wie der Leibhaftige persönlich. Ehemaliger Bürgermeister, Berater des Gouverneurs und richterliche Instanz in Einem. Kein Mensch der Welt kommt an so viel Titel, ohne ein paar Leichen im Keller zu haben. Bonnington zieht seinen eigenen Personenkult um sich, es geht sogar so weit, dass sie ihm Unsterblichkeit unterstellen. Unglaublich, was diese vertrottelten Hinterwäldler für ein bisschen Seelenheil alles schlucken. Der Kerl lügt einem frech ins Gesicht und lächelt dabei noch dämlich. Doch da wird es absurd – die Fassade kauf ich ihm nicht ab. Für mich wirkt er wie ein Kultführer, der ganz genau weiß, welche Räder er in Bewegung setzen muss.

Habe versucht mich unter die Einheimischen zu mischen und bin dabei so aufgefallen wie ein Hecht im Karpfenteich. Die missbilligenden Blicke habe ich an die Adressaten zurückgeschickt. Des Nachts traf ich auf einen Weiberhelden, der naiven Frauen auf der Straße hinterhergaffte. War mir völlig egal, was ihn zu Solcherlei trieb, aber er hatte wenigstens Feuer dabei. „Hier...?“ Der Kerl antwortete zögerlich. „Ihr müsst doch etwas von dieser Auferstehung gehört haben.“ spuckte ich. Ich landete mit meinen Fragen immer bei den tauben Nüssen, aber das hier war schlimmer als sonst. Irgendwann lenkte ich das Gespräch um und er kam auf das Gilden-Zeichen an meinem Helm zu sprechen. Meinte wohl, dass die Abenteurer-Gilde hier schonmal ihr Glück versucht hatte. Merklich irritiert über diese Information wurde ich zum lokalen Friedhof verwiesen, hinterfragte es aber nicht weiter. Hier muss man jeden Tropfen nehmen, den man kriegen kann.

Tatsächlich fand ich das Grab meines scheinbaren Vorgängers, doch ich hatte noch nie etwas von dem Namen gehört. Mein nächster Schritt bestand darin, den Totengräber aufzusuchen, vielleicht konnte er mir für ein paar Münzen etwas über dieses Grab erzählen. Dann begann dieser Fall mir echtes Kopfzerbrechen zu bereiten. Der Totengräber war heute früh verstorben. Doch keine Leiche, keine Verdächtigen, nicht einmal eine wirkliche Todesursache. Die Angehörigen hatten so viel Grips wie ein verschimmeltes Holzbrett und waren eine entsprechende Hilfe. Es lastet auf meinem Beruf wohl wie ein Fluch, dass die Leute wie die Fliegen um einen herum sterben – aber das war eine Nummer zu auffällig gewesen. Was wird hier für ein Spiel gespielt?

Ich staubte meine Jacke ab, zündete meine letzte Pfeife an, packte meinen Helm und ging hinaus. "Nein, das kann kein Zufall sein.", dachte ich laut. Dieser Totengräber war einer der eingesessensten Männer dieser Insel. Womöglich einer der Wenigen, die sich noch an dieses göttliche Wunder hätten erinnern können – oder meinen toten Vorgänger. Es gab nur eine einzige Person, die länger hier verweilte: Prior Bonnington… der natürlich alles daran setzte, den Mythos aufrecht zu erhalten. Dieser Piratenangriff vor einigen Tagen, schön und gut, aber diese ansonsten vorgesetzte Idylle kaufe ich hier keinem ab. Irgendetwas stinkt in Neu Corethon ganz gewaltig – und damit meine ich nicht den Knochensammler vor den Stadttoren.



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#4
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Kapitel 2

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Die Akademie

Die Hitze rollte langsam über die Gassen, hier in der kleinen Stadt war die Luft erstickend geworden. Die Sonne ging bereits unter und strahlte ihre letzte Wärme aus. Es war ein harter Tag gewesen und ich wischte mir das angesammelte Blut aus dem Gesicht. Das einzige, was mich tatsächlich zerknirscht, ist der Verlauf dieses Falls. Diese Sache mit dem Totengräber war heißer als ich dachte, aber die Spur drohte mir langsam zu verebben. Ich hatte alle Informationen zusammengesammelt, die mir zur Verfügung standen – nach wie vor war es ein Deyn verdammtes Mysterium geblieben.

Vor einigen Tagen trieben mich meine Instinkte von der Kirche weg zu einem anderen Ort, einer der für diesen Fall mehr Bedeutung zu haben scheint. Vom Tatort am See war es vielleicht ein Steinwurf bis zur Magierakademie gewesen, eine mögliche Fluchtroute? Den Berichten zufolge trieb sich sogar eine Magierin zum Tatzeitpunkt in der Nähe herum – ich musste dieser Gesellschaft also unbedingt mal einen Besuch abstatten. Der tropische Regen begrüßte mich, als ich meinen Weg durch den Morast antrat und schließlich an diesem überheblichen Klotz ankam. Die beiden Wächter starrten mich an, als hätte ich selbst einen Mord hinter mir – vielleicht hatten sie damit irgendwo auch Recht.

Die Gestalten, die mich schließlich in die Akademie ließen, waren fast schon zum Kotzen freundlich. Ich habe mich gefragt, ob dahinter nicht irgendein schlechtes Gewissen begraben liegt. Dieser neue Medikus, den es direkt aus Schwarzwasser hierhergeschleppt hat, was mir für meinen Geschmack etwas zu jung gewesen. Als ich ihm mit meinen Fragen etwas auf den Zahn fühlte, begann der Kerl wie ein verlaufener Sorridianer in Nordamar zu zittern. Was auch immer seine wahren Beweggründe gewesen waren, in dieses grüne Exil einzukehren – zu meiner Enttäuschung konnte er nichts mit dem See am Hut gehabt haben. Dafür war zu frisch auf dieser Insel gewesen. Ich ging nicht ohne mir vorher noch die Räumlichkeiten einzuprägen und mir ein paar Rückschlüssel für später zu ziehen.

Ich war gerade rüber zu meinen neuen Nachbarn in die Untergrundtaverne gestolpert und hatte einen starken Sorgenbrecher bestellt, als jemand hereinspazierte, der nach mir suchte – keine Seltenheit. Wachtmeister Kynes stand wie bestellt und nicht abgeholt in meinem Nacken und löcherte mich mit Fragen. Plötzlich scheint sich die Obrigkeit doch noch für diese Sache am See zu interessieren, was mich nicht weiter verwunderte. Sobald jemand mal damit beginnt, den Dreck dieser Stadt aufzuwirbeln, sorgt man für den einen oder anderen Sog.

Noch wusste ich nicht, was ich von diesem Wachtmeister halten sollte. Er wirkte auf den ersten Blick wie ein Schoßhündchen von Kommandant Morgenstern, welcher schon Wind von meinen Aktivitäten bekommen hatte. Vor einigen Tagen traf ich Kynes zum ersten Mal auf dem Friedhof, gerade als ich mich nach dem Grabstein meines Vorgängers umsah – er hatte zwar kein Feuer für mich, aber immerhin verschaffte er mir Zugang zur Straßenlaterne. Mein scharfes Auge und das darauffolgende Gespräch ließen ihn als ein ehemaliges Mitglied der Gebirgsjägerkompanie Rabenfels auflaufen. Ich war nach dem kurzen Plausch gerade daran gewesen, mit meiner Arbeit fortzufahren, als er mich völlig aus dem Konzept warf. Er stellte sich etwas zu laut die Frage, über die ich selbst seit einem Monat brüte - was war an diesem verhängnisvollen Tag des 5. Dezembers ’47 geschehen?

Wieder zurück in der Untergrundtaverne – ich erhob mich von meinem Stuhl mit so viel Rum intus, dass selbst die Frau drei Reihen weiter die Fahne gerochen hätte. Wachtmeister Kynes machte sich mittlerweile auf meine Kosten lustig und zog meine Ermittlungsweise in den Dreck. Ich habe schon zu viel durchgemacht, um mich von den Sticheleien eines Grünschnabels provozieren zu lassen. Aber was mir noch immer quer im Hals lag, war die Tatsache, dass er offensichtlich einen hastigen Blick auf meine Notizen geworfen haben muss. Er konnte sich wohl der Tragweite dieses Datums nicht ganz bewusst sein – also wollte ich ihm auf den Kopf zureden, seine Blicke beim nächsten Mal bei sich zu behalten. Aus einer kleinen Rangelei entwickelte sich im Eifer des Gefechts eine handfeste Prügelei. Es muss wohl der Alkohol gewesen sein, der mich in alte Muster zurückwarf und der Hanswurst ein paar saftige Hiebe zukommen ließ. Sein Hinterkopf schlug ein paar schöne Risse auf den Fliesenboden, dann wurden wir von den Wirten getrennt. Ich drohte ihm noch ein letztes Mal, sich gefälligst aus meinen Angelegenheiten herauszuhalten, bevor ich wieder meinen Helm aufsetzte und den Schuppen verließ.

Er erinnerte mich an einen früheren Fall vor drei Jahren... Ich war frisch auf der neuen Stelle, mit einem dünnen Schnurrbart und einem noch dünneren Geldbeutel. Aber schon damals hatte ich eine scharfe Nase für heiße Spuren. "Die Silberlegion, vielleicht?" Mein alter Partner meldete sich neugierig. "Ähm… Nein - Ich behaupte nicht viel zu wissen, aber ich weiß, dass es nicht die Söldner waren.", knurrte ich. Warum musste ich mit diesem Dummkopf zusammenarbeiten? "Hier ist mein Vorschlag", fuhr ich schließlich fort, "Warum kümmere ich mich nicht um diesen Fall, während du runter zu Hank gehst und dir ein paar Forellenspieße holst?" Er blickte mich amüsiert an und schluckte seinen Stolz runter, ließ sich aber nicht so einfach abspeisen. Hätte ich damals schon gewusst, wie die ganze Sache endet, wäre ich wohl etwas hartnäckiger geblieben. Irgendetwas an meinen alten Partner erinnerte mich an Kynes – kann mir nur noch keinen Reim darauf machen, was es ist.

Mit der aufgeplatzten Lippe hatte ich immerhin einen guten Grund, noch einmal bei diesem Medikus in der Akademie vorbeizuschneien. Vielleicht konnte ich auch endlich diese magische Zeugin Iverssen erwischen und ein paar Fragen zu dem Mordfall am See stellen. Von ihr zwar wieder keine Spur, zu meiner eigenen Freude erwischte ich aber den Hauptgewinn – Magister Gramberg. Es wurde Zeit, etwas im Trüben zu fischen und Wellen zu schlagen. Gramberg war eine zurückhaltende Persönlichkeit gewesen, immer genau auf seine Wortwahl bedacht, so würde ich kaum an nützliche Informationen kommen. Ich schlug einen anderen Weg ein und wollte von dem Totengräber weg, um wieder zurück zu der Vergangenheit dieses Winter 1347 zu kommen.

Der Magister war wohl noch nicht allzu lange an der Leitung dieser Akademie beteiligt gewesen. Begründer dieses magischen Außenpostens der Schwarzwasser-Akademie war wohl ein gewisser Erzmagier Bonhart gewesen. Er war es auch, der diesen protzigen Bau ohne Charme in dem Sumpf versenkte. Sein Nachfolger und der direkter Vorgänger von Gramberg war dann eine ganze Weile ein Herr Volckel gewesen. Auf meine brachiale Frage, ob es deren Adressen für meine Nachforschungen gebe, antwortete der Magister ziemlich abweisend. Ganz bestimmt liegen hier Schriften zur Kontaktaufnahme herum, aber Diskretion ist hier wohl noch so etwas wie eine Tugend. Ich wusste, dass ich hier mit den üblichen Bestechungen nicht weit komme. Daher musste ich etwas rauer in meinem Tonfall werden, um ihn aus der Reserve zu locken.

Hat sich herausgestellt, dass seine Reserve darin bestand, die Akademie-Wächter auf meinen Hals zu hetzen. Bevor ich mich versah, küsste ich draußen die nassen Kopfsteinpflaster. Ich klopfte meine Jacke ab und rieb mir das nun blutende Kinn, welches wunderbar mit meiner geplatzten Lippe harmonierte. „Bingo.“ murmelte ich vor niemanden, außer mir selbst. „Getroffene Hunde beißen.“ Jetzt muss ich nur noch diese Verbindung aus dem Morast ziehen. Aber wie komme ich jetzt an diese verdammten Adressen?



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#5
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Kapitel 3

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Der Einbruch

Regen. Harter, trommelnder, pochender Regen. Er kam schon seit Stunden herunter. Ich hatte diesmal einiges zu tun... fast die gesamte Woche legte ich mich auf die Lauer. Die Magierakademie ständig im Blick, hinter ein paar schattigen Plätzchen, war nur die Langeweile mein größter Feind. Aber zum Langweilen blieb kaum Zeit, ständig dachte ich über diesen Fall nach: Die roten Briefe, die Absicht dieser Gilde und die absurden Leute dieser absurden Insel. Diese Angelegenheiten hatten mehr Löcher als Krügers Finanzpläne für die Kartographen-Gilde.

Die Wächter schienen sich kaum abzulösen oder überhaupt mal menschliche Züge an den Tag zu legen. Die waren lebloser als die Frau aus Zweibach, dessen Leiche sie erst nach sechs Monaten aus der Butterstampfe gefummelt hatten. Man erzählt sich so einiges über diese Wächter, schon damals kursierte die Gerüchteküche. Wenn man dem Ganzen Glauben schenken darf, waren das mal die allerschlimmste Sorte von Verbrechern. In sowas wie einem Akt der Gnade wurde ihnen dann wohl die Wahl gestellt: Todesstrafe oder Wächterstatus. Keine Ahnung, was das für ein Prozedere sein soll, aber Menschlichkeit bleibt wohl kaum übrig. Jetzt sind es die geborenen Sklaven – keine Erinnerung mehr an ihr früheres Ich und kaum Gefühlsregungen. Feige Schweine, ich an ihrer Stelle hätte den Tod gewählt, wäre wenigstens so etwas wie eine Erlösung gewesen.

Konnte mir ihre Wachgänge und Positionen gut einprägen, auch der Magister blieb nicht ungeachtet. Scheint die Annehmlichkeiten dieses fehlplatzierten Klotzes sehr zu genießen, verlässt kaum sein Arbeitszimmer. Zumindest einmal die Woche muss er sich aus dem Haus wagen, da treffen sich wohl die hohen Tiere mit dem Gouverneur und nehmen ihre Beraterposition ein. Der Magister wirkt neben dem Rest vermutlich wie das fünfte Rad am Wagen – aber irgendein Gesetz wird ihn wohl das Recht zusprechen. Würde mich nur fragen, was wohl unser Sektenführer Bonnington darauf gibt. Vermutlich fischen sie Gramberg auch irgendwann aus einem See heraus, mit zwei Stichen im Hinterkopf und Verdacht auf Altersschwäche.

Heute war es wieder soweit – Magister Gramberg würde sein Arbeitszimmer verlassen müssen. Ich beobachtete die tief fliegenden Spatzen, heute würde es ordentlich gießen. Im Schutze der Nacht und einem Wolkenbruch, der sogar das Kalifat in eine Oase verwandelt hätte, brach ich auf. Ein Großteil der Stadt hatte am Hochseeangeln der Kirche teilgenommen, mein Weg in den Sumpf war von ungewohnter Ruhe geprägt.

Mein scharfes Auge brachte mir einen guten Einstieg in die Akademie ein. Alle Seiten waren vorbildlich gesichert worden, jeder Eingang war mit ein paar Außenposten ausgestattet gewesen – bis auf die Nordseite. Der Blick auf die ungezähmte Wildnis im Norden bot wohl nicht genug, als dass man sie schützen müsste. Die Außenfassade am Schornstein war über und über mit Efeu und Ranken jeglicher Art überwuchert gewesen. Ich überprüfte die Festigkeit schon während meiner Probegänge und wiegte mich auf der sicheren Seite. Der ständige Regen kam mir zwar etwas in die Quere, aber er dämpfte sämtliche Geräusche ab, die meine Kletterpartie von sich gaben.

Oben angekommen rief mir mein Körper ins Gedächtnis, dass sich meine Gänge in die Kneipe wohl eher als lebensverkürzend erwiesen hatten. Doch ich kniff das Arschloch zusammen und begann über die Dachhänge zu kraxeln. An einem der Balkone angekommen blickte ich verwundert auf einen offenen Zugang, welche wohl in die Bibliothek der Anlage führte. Über diese Schludrigkeit war ich zwar mehr erfreut, als verwundert, aber diese Bücherhallen waren nicht das Ziel meiner Reise gewesen. Also schleppte ich mich weiter über das Seitendach, bis ich schließlich am obersten Punkt angelangte: Der Balkon zum Zimmer des Magisters, welches natürlich an oberster Stelle thronte.

Während ich unter schwerem Atem die letzten Hürden überwunden hatte, wagte ich einen letzten Blick nach unten. Das waren locker 20 Meter, die sich zwischen mir und meinem verfrühten Ruhestand befanden. Irgendwann würde ich gerne wissen, wann ich in meinem Leben die falschen Abzweigungen genommen hatte, um hier zu landen. Im Blick durch die Landschaft irritierte mich ein einzelner Lichtpunkt, welches querfeldein durch den Sumpf tanzte, aber ich vermutete nur umtrunkende Glühwürmchen. Die letzte Tür war schließlich kein Problem mehr gewesen – so befand ich mich in der Höhle des ausgegangenen Löwen.

Während ich so darüber nachdachte, in was für ein Tier sie mich wohl verwandeln würden, wenn sie mich jetzt erwischten, grub ich mich durch die Aktenberge. Ich suchte alles gründlich ab, was auch nur im Entferntesten mit Bonhart oder Volckel zu tun hatte. Die meisten Informationen übertrug ich in mein Notizbuch. Manche Beizettel, die sicherlich nicht ins Gewicht fallen würden, habe ich direkt eingesackt... und oh Junge, waren da ein paar sehr pikante Dinge im Besitz des Magisters gewesen. Also hatte der Kerl doch mehr zu verbergen versucht, als er der heilen Studentenschaft hier vorgaukelte. Zufrieden trat ich den Rückweg zurück über den Balkon an, zurück in das Unwetter.

Himmel, Arsch und Zwirn – als ich seine Stimme vernahm, erstarrte ich förmlich. Auf dem Dach wurde ich von der Gestalt überrascht, die mir seit meiner Ankunft ständig in die Quere kam. Wie konnte es also anders sein, dass ich wie ein Hase vor der Klapperschlange ausgerechnet in die Augen von Wachtmeister Kynes starrte. „KESSLER! Ihr seid festgenommen!“, blaffte der Kerl selbstverdrossen. Die Brust hervorgequollen und folgsam wie das Schoßhündchen, das er schlussendlich doch war. Was hatte er hier verloren?

Meine Möglichkeiten waren begrenzt und die anschließende Verfolgungsjagd war nur von kurzer Verweildauer. Einige Stürze später, die Kynes wahnsinnig schnell aufholte, fand ich mich in einer ausweglosen Situation wieder. Auf einem Dachvorhang stehend, im Rücken mindestens vier Stockwerke Fallhöhe und die Aussicht auf dunkle Kerkertage vor mir. Wachtmeister Gernegroß hielt mir seine Schwertspitze an die Kehle und stellte mich zur Rede. Ich hatte mir zwar nicht vorgestellt, heute noch Buße ablegen zu müssen – aber das Ergebnis war einschlagend.

Darauf hoffend, wie er beim letzten Mal reagierte, sprach ich wieder von diesem verhängnisvollen Wintertag, der von der Welt vergessen wurde. Meine rhetorischen Versuche schlugen an – er senkte das Schwert irritiert – doch dann macht mir der liebe Deyn Cador einen Strich durch die Rechnung. Das anhaltende Unwetter im Hintergrund zog zu Höchstformen an. Schließlich schleuderte es eine heftige Entladung auf die Gestalten am höchsten Punkt weit und breit – hatte ich erwähnt, dass Kynes ein Eisenhemd trug?

So stürzten wir paralysiert vom Dach, den gemeinsamen Schock noch immer in den Knochen steckend. Wir tauchten in kaltem Wasser ein, der Tümpel auf der Nordseite stellte sich als unsere Rettung heraus. Zumindest meine, ich konnte mich wieder an die Oberfläche kämpfen. Anders sah es da bei unserem Wachtmeister aus: Ich blickte auf seine fruchtlosen Versuche am Grunde des Tümpels, das Eisenhemd vom Körper zu schnallen. Eine Weile dachte ich über die Ausgangsmöglichkeiten nach – doch recht schnell schaltete mein Verstand aus: Ich sah nur noch Oskar um sein Leben ringen.

Zurück im kühlen Nass rüttelte ich an seinem schmächtigen Körper, doch das Scheißteil rührte sich kein Stück. Etwas Panik überkam mich, bis ich schließlich auf einen alten Trick kam, den ich schon einmal anwenden musste. Ich zog einen Silberling auf meiner Jacke und begann damit die Schrauben an der Rüstung aufzudrehen. Langsam ging mir die Luft aus, doch bei Kynes sah es noch übler aus. Er schien die Besinnungslosigkeit zu verlieren und regte sich nicht mehr. In meinen letzten Kraftreserven schaffte ich es schließlich, den Burschen nicht zu knapp aus seinem eisernen Gefängnis zu befreien und ihn an den Rand des Tümpels zu zerren.

Eine Weile dachte ich noch darüber nach, was ich hier getan hatte – und fragte mich, ob ich es bereuen sollte. Nachdem ich alles unternommen hatte, um unseren Gesetzeshüter vor Renbolds Griff zu bewahren, sammelte ich rasch alle Dokumente ein, die sich durch den Sturzflug bereits im Umland verteilt hatten. Ich knirschte mit den Zähnen, als mir der Verlust von einigen Beweisstücke klar wurde und begann dann das Weite zu suchen. Bevor mich entweder Dornröschen oder die Wächter der Akademie doch noch in die Finger bekommen würden.

Wieder in meinem Arbeitszimmer begann ich meine chaotischen Gedanken zu sortieren. Würde wohl nicht lange dauern, bis mich die Konsequenzen meiner Taten einholen würden. Ich dachte wieder verdrossen an meinen ersten Fall – und den letzten Fall von meinem Partner Oskar. Damals konnte ich ihn nicht retten, nur seine wässrige Leiche wurde eines Morgens aus dem Hafenbecken gezogen. Die Füße mit einem dicken Anker beschwert, konnten die wahren Täter niemals überführt werden. Oh Oskar… vielleicht hattest du nie Unrecht mit der Silberlegion gehabt – ein Haufen Schufte waren sie doch immer gewesen. Ich musste es schließlich am besten wissen.

Doch die Vergangenheit war die Vergangenheit, daran gab es nichts mehr zu ändern. Ich blickte darauf, was ich jetzt zu tun hatte, mit den Adressen der beiden ehemaligen Magister im Sack. "Zeit, ein paar alten Freunden zu schreiben.", säuselte ich. Ein Glück, dass ich ein paar Unterschriften von Gramberg sichten konnte – hoffentlich habe ich meine Schönschrift nicht ganz verlernt. Aber was tue ich danach, auf mein Schicksal warten? Nein, ich musste meine nächsten Schritte wohlüberlegt planen: Meine Schwerpunkte überdenken und neu setzen.



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#6
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Kapitel 4

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Der Teufel

Es war lebhaft. Der Wind wehte durch meine Jacke als wäre sie ein Sieb. Es war eine schlechte Woche in einem schlechten Monat, vielleicht sogar ein schlechtes Jahr. Ich hatte gerade mit einem echten Untoten gesprochen, Prior Raphael Bonnington. Er schien wie immer drauf gewesen zu sein, nichts auf dieser Welt erlöste mich von seinem deyn-verfluchten Grinsen. Weil ich noch immer nichts Handfestes zwischen die Finger bekommen habe, beschloss ich diesen Mann einmal unter die Lupe zu nehmen.

Die nächste Leiche kam am Donnerstag. Wachtmeister Kynes sprudelte mit der Entdeckung von dem Toten heraus, den sie wohl auf der Müllhalde gefunden hatten. Ich notierte mir zwar die Details, machte mich aber nicht bereit auf einen grausamen, neuen Fall. Ein weiterer Pfeiffer, der das Zeitliche zu früh gesegnet hat, ließ mich natürlich aufhorchen… aber ich hatte aus der Sache vom See etwas gelernt. Selbst wenn ich die Spuren irgendwann auf die Magier oder den Orden zurückverfolgen könnte – mit ihrem Motiv, ein paar lästige Zeugen loszuwerden – würde ich zweifelsohne wieder in einer Sackgasse landen. Die hohen Herren waren zu schlau und gerissen gewesen, als dass sie irgendwelche Spuren auf ihre Einmischungen hinterlassen würden.

Ich wollte mich nicht mehr von lokalen Bauernopfern ablenken lassen, soll sich doch die Garnison darum scheren. Der Weg führte mich daher zur Stadtmeisterei, wo ich meinen Briefverkehr entgegennehmen konnte. Erneut traf ich auf das Ekelpaket von Erbach, der schmieriger als ein Freier im nebelhafener Nachtviertel war. Ich hatte zwar noch keine Antworten von meinem Schreiben an die Magister erhalten, aber mich begrüßten andere, saftige Unterlagen. Diverse Zeitungen, angefragte Berichte und persönliche Schreiben vom Festland gaben mir zumindest das warme Gefühl, dass die Welt da draußen noch irgendwo existiert.

Die folgende Woche sichtete ich alle Informationen zum Prior, die ich irgendwie bekommen konnte. Ich würde meine Quellen als sehr ergiebig bezeichnen: Raphael Bonnington, im Jahr 1296 geboren, als jüngstes Kind einer reichen Brauereifamilie aus Rodstedt, am Rande Weidtlandts. Besuchte seine gesamte Jugend lang ein Kloster Melissengespenst, bis er sich schließlich aus unerfindlichen Gründen dazu entschloss, in die Unbekannten Lande nach Neu Corethon einzukehren. Diese Entscheidung lag nun schon knapp 30 Jahre zurück, sein Werdegang vom einfachen Mönch bis zum Prior eines Solaner-Ordens wirkt laut Biografie sprunghaft und künstlich hervorgerufen. Alle seine geistlichen Vorgesetzten verschwanden unter mehr oder weniger mysteriösen Umständen von einem Tag auf den Anderen.

Ein Großkomtur Martinez, der natürlich rein zufällig auf Neu Corethon strandete, ernannte ihn aufgrund schleierhafter Vorwände zur neuen Führung des lokalen Ordens. Das Ganze wurde später von seinem eigenen Bruder, der das lukrative Amt eines silvanischen Erzdekans schmückt, eher scheinheilig unter Dach und Fach gebracht. Niemand hat scheinbar etwas in Frage gestellt oder angezweifelt. Jahre nach dieser Ernennung kommt es 1341 schließlich zum großen Coup und Meisterstück: Raphael soll vor den Augen zahlreicher Zeugen in einem politischen Attentat schwer verwundet und anschließend an den Folgen verstorben sein. Nur drei Tage später kehrte der Kirchenmann aus dem Totenreich zurück und erhob sich im Gotteshaus der Insel als leibhaftig Wiedergeborener! Sämtliche Sympathisanten als auch Zweifler sind einem unanfechtbaren Glauben an die Wahrhaftigkeit des Prioren Raphael Bonnington ausgesetzt… dieser völlig unerwartete Schritt lähmt jedes logische Vorgehen gegen seine Person.

Insgesamt verließ der Prior die Insel Neu Corethon nur noch sehr selten, neben einigen Expeditionen um die Westwind-Inseln herum, brach er nach seiner Auferstehung nur noch zwei Mal zum Festland auf. Nachdem ein Abt Friedmann im Auftrag der Solaner eingekehrt war, um die lokale Aufsicht zu übernehmen und den Vorkommnissen auf den Grund zu gehen, reiste Bonnington zurück in seine Heimat: In die Stadt Rodstedt zu seinem Bruder Erzdekan Michael Bonnington. Als er heimkehrte, schien sich zunächst nicht viel an seiner Situation geändert zu haben, denn er beugte sich dem Anspruch von Abt Friedmann.

Bis zu diesem verhängnisvollen Tag im Winter 1347. Plötzlich galten sein ehemaliger Vormund Friedmann, als auch sein Bruder Michael als vermisst – Leichen wurden nie gefunden. Bis heute gilt das Verschwinden des Erzdekans in dem Königreich Weidtlandt als unaufgeklärtes Mysterium. Eine Gesandtschaft, welche der Spur von Michael Bonnington folgen sollte – bedenklicherweise führt diese nach Neu Corethon – ist niemals dort angekommen. Die gesamte Gesandtschaft gilt ebenfalls als verschwunden, niemand hat sich mehr dieser durchwachsenen Angelegenheit angetraut. Es ist unfassbar, wie ein einzelner Mensch von soviel Durchtriebenheit und offensichtlicher Boshaftigkeit umgeben sein kann, ohne jemals in das direkte Visier geraten zu sein: Raphael Bonnington du leibhaftiger Dämon.

Ungläubig blickte ich schließlich auch auf den letzten Artikel, der über die Geschehnisse ’46 im Kreuzzug von Szemäa berichtet. Nein, das konnte doch nicht sein. Dort … war er auch gewesen? Ich trank den letzten Schluck meiner grünen Fee und ballte beide Fäuste, die schmerzhaft den Schreibtisch küssten. Dabei versucht, meine Gedanken zu sortieren, blickte ich nur verzweifelt durch das Papierchaos. Morgen würde die Beerdigung von Pedda Pfeiffer stattfinden – der zweiten Leiche der Mordserie. Dort würde er sein… und dann werde ich ihn verflucht nochmal zur Rede stellen. Endlich hatte ich ein paar Druckpunkte.

Wie es oft so kommt, kam alles anders. Die Beerdigung war von schlichter Natur, ein paar einheimische Trottel, die über ihre toten Trottel ein paar schnulzige Worte verloren. Ein kurzes Déjà-vu durchzuckte mich, als auch dieser Sarg in den Erdboden gelassen wurde. Bonnington war auch gekommen. Doch bevor ich mich ihm zuwenden konnte, begann plötzlich jemand aufzuschreien. Rauchschwaden waren aus der Ferne zu vernehmen, die Luft roch feuergeschwängert. Im nächsten Moment begann der Tumult, die Leute verteilten sich in alle Himmelsrichtungen und ich verlor den Prior aus den Augen. Ob er sich wohl auch zu der Katastrophe begeben hat? – oder war das alles nur sein falsches Spiel?

Mamoria brannte lichterloh. Ein kleiner Außenposten an Handwerken, die hier draußen gehofft hatten, das große Glück zu finden. Nun standen ihre Träume in Flammen, doch das war kein Unfall gewesen. Die Einheimischen taten ihr Bestes darin, das Feuer unter Kontrolle zu bringen, dann brachen die Täter aus den Büschen hervor: Ureinwohner! Irgendwie war ich selbst in eine Auseinandersetzung geraten, mit der ich nichts am Hut hatte – wie so oft. Dann erkannte ich Wachtmeister Kynes, der wie der mutige Idiot der er war, Richtung Wasserdamm rannte.

Ich erkannte den Zweck seiner Absicht und rief ihm noch etwas zu, dann sah ich zwei Ordensritter in meinen Augenwinkeln. Sofort wurde mir bewusst, dass das hier kein Zufall mehr war – sondern eine brandheiße Falle. Bevor überhaupt jemand reagieren konnte, warf ich mich querfeldein durch die Hänge und floh bergaufwärts. Aus dem Schutz vereinzelter Bäume schien ich meine Verfolger abgeschüttelt, doch Kynes schien vom Regen in die Traufe geraten zu sein. Er schwebte in Lebensgefahr, sein lebloser Körper im Schlepptau von Ureinwohnern. Ich versuchte eigentlich, es zu lassen, wirklich. Schließlich preschte mein Körper zur Rettung hervor, nur um nach einem Stechen die Besinnungslosigkeit zu verlieren. Mein gerechter Lohn, nachdem ich so hoch gepokert hatte.

Wir fanden uns in einer primitiven Zelle irgendwie tief in diesen beschissenen Dschungeln wieder. Mit wir meinte ich Wachtmeister Gernegroß und einer kleinen Göre, welche schon einmal für mich gearbeitet hatte. Kurz kam ich mir schäbig vor, das kleine Ding für die Gilde in Gefahren zu schicken, aber dann erinnerte ich mich wieder daran, dass ich für niemanden mehr ein Vormund war. Unser gemeinsamer Aufenthalt ist recht schnell zusammengefasst und trotz seiner Kürze gingen mir die beiden Zellengenossen gehörig auf die Nüsse.

Das Mädchen konnte fliehen, nachdem ich mit Kynes ein paar Hiebe ausgetauscht hatte. Eigentlich als Ablenkung geplant, schien der Wachtmeister wohl doch ein paar offene Rechnungen mit mir gehabt zu haben, denn das Blut war echt – scheint sich wohl für seine Niederlage in der Taverne zu grämen. Als ich mir das Blut von der platten Nase wischte, dachte ich an meine Jugendzeit. Ob ich damals wohl auch so ein Schaumschläger war? Nein, ganz sicher nicht.

Jetzt waren wir nur noch zu Zweit und sprachen über Dinge, die uns wohl irgendwie beide betrafen. Seine ständigen Einmischungen… der Einbruch… und den verlorenen Tag. Wir hatten schon vorher so etwas wie einen Kompromiss getroffen – dafür warf er mich wohl in keine Zelle. Noch immer weiß ich nicht, ob ich in ihm einen Verbündeten oder ein Hindernis sehen soll, zumindest schien er viel zu wissen.

Nach unserem letzten Zwischenfall fischte er ein geschmolzenes Objekt aus dem See, in den wir Beide gefallen waren. Konnte mich nicht daran erinnern, es verloren zu haben, aber möglicherweise lag es den Briefen von Gramberg bei. Vermutlich durch den Blitzeinschlag so unkenntlich geworden, dass wir dessen Inschrift kaum entziffern konnte. Doch da war ein kleines Symbol, dass den Schaden überstanden hatte: Eine anmutige Sonne, wie sie unbeirrt im Zentrum der Dinge thront. Meine Vermutungen bestätigten sich, dass die Akademie irgendwas mit dem Orden zu schaffen hat – oder zu schaffen hatte.

Unser junger Gesetzeshüter musste gehen, scheinbar konnte er für irgendwas freigekauft werden. Ich fristete mein Dasein nun alleine in der Zelle. Ich war es gewohnt gewesen, zur Hölle, mein eigenes Arbeitszimmer war kleiner als dieser Kabuff! Angst hatte ich keine, wirklich einsam fühlte ich mich auch nicht… da war nur diese elendige Trockenheit. Wieder einmal dürstete es mich nach meinem Sorgenbrecher, doch keine Verhandlungen ließen mich einen Tropfen bekommen. Dieses Mal konnte ich mir nicht einmal Gossenhauer in die Kehle schütten – es war wie ein Albtraum. Vermutlich löste das auch Selbige aus, die ich nach einigen Nächten immer wieder bekam.

Ich sah mich wieder in voller Montur, das silberne Abzeichen auf der Brust glänzend. Die gigantischen Mauern, das schroffe Bergmassiv… und der verfluchte Gestank nach Tod und Elend. Diesen Geruch werde ich mein Lebtag nicht mehr vergessen. Immer wieder enden meine Fieberträume mit den vertrauten Stimmen. Ich bin eigentlich recht dankbar, dass die Träume an dieser Stelle aufhören.

Schweißgebadet erwachte ich unter tosendem Unwetter, draußen schien ein Tumult hervorzugehen. Ich konnte es selbst kaum fassen, dachte noch an die Unwirklichkeit der Situation, doch sie ließen mich eine Stunde später einfach gehen. Vielleicht hatten sie genug von meiner Visage, vielleicht haben die debilen Städter doch irgendwas rausgehandelt – mir völlig schnuppe, ich trat den Heimweg an. Ein zäher Heimweg soviel sei gesagt, aber ich hatte es geschafft. Nach kurzer Begrüßung von bekannten Gesichtern schleppte ich mich in mein Arbeitszimmer. "Ich brauche eine Beförderung", sagte ich und schenkte mir mein erstes Glas Absinth seit Wochen ein.

Jetzt schnappe ich mir endlich den Orden, einen nach dem anderen: Nur bei welcher verlorenen Seele sollte ich anfangen? – ich musste sie alleine abpassen, da wären sie verwundbarer.



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Kapitel 5

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Das Gespräch

Es war so heiß, wie ich es noch nie erlebt hatte. Die Straße schien Blasen zu bilden. Man könnte das Frühstück direkt auf dem Bürgersteig zubereiten - das heißt, wenn man es ertragen könnte, von der schmutzigsten Oberfläche von Athalon zu essen. Sind die Temperaturen schon immer so wechselhaft gewesen oder komme ich in ein Alter, in dem jedes Wetter zum größten Feind wird?

Kein Weg führte mehr an Bonnington vorbei, ich betrat zum ersten Mal die Höhle die Dämonen. Ein geeigneter Zeitpunkt ergab sich, als seine Sklaven endliche einmal ihr Fort verließen, um einem meiner Aufträge nachzugehen. Ich fühlte mich zunächst klug – später bereute ich es, alleine mit ihm sein zu müssen. Die protzigen Hallen, in denen wir uns befanden, gaben mir einen guten Hinweis darauf, was er bereits für einen Einfluss auf die Stadt ausübte.

Ich hatte mir noch keine Meinung dazu gebildet, ob er im Prunk lebte oder bereits in der Dekadenz versank. Doch als könnte Bonnington meine Gedanken lesen, hob er selbstverdrossen eine Servierglocke an. Der Kerl begann doch tatsächlich Löffel für Löffel an einem Vorrat von schwarzem Kaviar zu naschen – keine weiteren Fragen, euer Ehren. Während er löffelte, schwieg er, eine unangenehme Stille machte sich breit. Ich fühlte mich wie der nächste Happen, den er heute noch verzerren würde.

„Was führt euch denn in meine Priorei… Herr Kessler?“ Endlich durchbrach der Teufel die Stille. Ich bin das Gespräch schon ein paar Mal im Kopf durchgegangen, Zeit hatte ich genug dafür gehabt. Doch das unerbittliche Grinsen und Schmatzen hatte ich nie berücksichtigt – es hatte einen größeren Einfluss auf mich, als ich dachte. Vielleicht waren es auch die fehlenden Augenbrauen, die ihn irgendwie unmenschlich wirken ließen.

Um nicht zu sehr in das Hornissennest zu stechen, blieben meine Fragen zunächst schlicht und von gefasster Natur. Der Prior konnte nicht wissen, was ich bereits über ihn in Erfahrung gebracht hatte… und so sollte es auch erstmal bleiben. Wir unterhielten uns auf einer distanzierten Ebene, immer wieder begann er damit, unser Gespräch durch Anekdoten in eine andere Richtung zu lenken - es nervte mich fürchterlich. Auf die Frage, was aus seinem Vorgänger geworden ist, antwortete er ausweichend: „Abt Friedmann wurde zurück nach Zandig beordert.“

Ich hatte bereits unzählige Menschen lügen gesehen, die meisten verrieten sich auf die eine oder andere Weise. Mit der Zeit bekommt man ein scharfes Auge dafür, auf die Details zu achten - aber der Prior war ein anderes Kaliber. Was mir bei ihm Sorgen bereitete? Seine Lüge war eigentlich in keiner Weise zu durchschauen. Nur durch den Zufall meiner Recherche wusste ich von seinem Spielchen, wieviel von unserem Gespräch wohl aus seinen Märchen entsprang?

Nicht einmal bei seinem Bruder, Erzdekan Michael Bonnington, verzog er eine Mine. Er gab zumindest zu, schon lange nichts mehr von ihm gehört zu haben. Vielleicht der erste seiner Sätze, der nicht der Unwahrheit entsprach. Seine gelassene Art und Weise, wie er über den vermissten Toten sprach, überkam mich mit Abscheu. Hatte dieser Mensch überhaupt keine Reue… kein Schamgefühl… besaß er überhaupt ein Gewissen? Meine Abscheu wandelte sich in Wut, ich brach das Gespräch ab, so hatte das keinen Sinn gehabt. Ich hätte ihn auf der Stelle mit allen seinen Verbrechen konfrontieren können und wäre trotzdem wie an einer Backsteinmauer abgeprallt. Nein, ich musste eine bessere Taktik als das direkte Gespräch fahren.

Ich fühlte mich erleichtert, als ich endlich wieder aus seinen Klauen entlassen wurde. Draußen wendete ich mich noch einmal um, als der Kerl es doch tatsächlich wagte, mir etwas mitzugeben. Ein seltsames Holzplättchen mit einer bezeichnenden Inschrift: „Deprocreationibus, Vers 20:16“. Noch wusste ich nicht, was es mir sagen sollte – aber ich würde dem später auf den Grund gehen. Mich würde es wundern, falls es mich nicht nur auf eine falsche Fährte bringen soll.

Als Nächstes hatte ich noch eine Rechnung mit dem jüngsten Medikus der Welt zu begleichen. Lichtblatt tanzt wieder einmal heimlich Pirouetten, wenn er sich unbeobachtet fühlt. In der Bibliothek erwischte ich ihn kalt und lud ihn zu einem unfreiwilligen Plausch ein. Den Artikel dem ich ihm zuschob, hatte ich eher zufällig aufgeschnappt, aber er schien seine Wirkung zu erfüllen. Ich hatte den richtigen Riecher gehabt, der junge Hüpfer war vor irgendwas auf der Flucht gewesen. Ein Angebot, dass er nicht ausschlagen konnte, bescherte uns schließlich eine Zusammenarbeit. Er mag ein verfluchter Klugscheißer sein, aber er hatte sich in kurzer Zeit einen großen Hort an Freunden zugelegt … und Feinden. Ein naives Jungblut mit reichlich Kontakten – perfekt für meine Sammlung an Informanten.

Die nächste Zeit schnüffelte ich etwas an allerhand Ecken und Winkeln der Insel herum. An einem regnerischen Tag zog es mich weit raus, bis zu dem Schiffswrack an der westlichen Stranddüne. Hier soll Großkomtur Martinez vor gut 20 Jahren gestrandet sein – bevor er dem Prior den ersten Trittstein für seine steile Karriere auslegte. Ich wusste nicht genau, wonach ich suchen sollte, aber manchmal kehre ich an solche Orte ein, um einen Hauch Friedlichkeit und meinen Absinth aufzunehmen.

Wachtmeister Kynes schien die gleiche Idee gehabt zu haben. "Hier geht mein friedlicher Tag", zischte ich unter leichten Atem. Ich griff nach meiner Pfeife, dann wurde mir klar, dass ich meine Streichhölzer schon wieder im Arbeitszimmer gelassen hatte. Neben seiner Hartnäckigkeit hatte unser Gesetzeshüter immerhin eine gute Eigenschaft zu bieten – er versorgte mich stets mit offener Flamme. Unter dem geschützten Schiffswrack tauschten wir uns wieder einmal bei ein paar Rauchschwaden aus. Meine Recherchen zu Bonnington wollte er zunächst nicht schlucken, aber ich konnte ihn mit ein paar Beweisen weichkochen. Er nahm sich außerdem einer meiner Sorgen an, wofür ich ihm im Nachhinein betrachtet sehr dankbar bin.

Dann tauchte sie auf: Die rothaarige Ordensschwester der Kirche. Sie bemerkte uns nicht, aber trat einen einsamen Weg Richtung Norden an. Ich wusste, dass einen das Schicksal nur selten mit Chancen überraschte, doch ich erkannte diese und packte sie sofort beim Schopf. Mit dem Wachtmeister im Schlepptau nahmen wir die Verfolgung auf ohne bemerkt zu werden. Sie wanderte bis in das hohe Kloster im Norden – was bewegte sie dazu, bei diesem Wetter alleine an diesen Fleck einzukehren? Wir konnten es uns nicht nehmen lassen, dieser schwachen Spur nachzugehen.

Nach einigen Anstrengungen schafften wir es irgendwie bis an ein Dachfenster vorzurücken. Ein Glück, dass dieser vernachlässigte Bau kaum bewacht wurde. Mit unseren Ohren an der Scheibe konnten wir nun vernehmen, was sie dort im Kloster für ein Gebet an ihren Herrn und Schöpfer aussandte. Zumindest schien Kynes mehr verstanden zu haben, denn ich vernahm aufgrund des Sturzregens fast überhaupt nichts.

„Der Orden hat etwas zu verheimlichen!“ Kynes war nicht das schärfste Messer in der Schublade. Es war wohl nicht viel, was er aufgeschnappt hat: Die junge Dame vermisst wohl eine Person in ihrem Leben und bittet um irgendein Zeichen. Sie grämt sich über die tragische Prüfung in ihrem Orden und der Tatsache, dass sie mit kaum jemand darüber sprechen kann.

Ob sie wohl von der Auferstehung des Priors spricht? Hatte die Ordensschwester eine sündige Liebe? Und wessen Todesfall betrauert sie? Wir erhielten zwar keine Antworten auf unsere Fragen, aber dafür stürzte ich fast vom schlüpfrigen Dach. Der Wachtmeister spielte Renbold und bewahrte mich vor dem ewigen Schlag – irgendwie lagen uns die tödlichen Höhen im Urin.

Wir machten uns aus dem Staub und ich torkelte nach Hause, dabei leerte ich den Rest meiner grünen Fee auf dem Rückweg. Der Alkohol regte meinen Verstand an und ich begann, die neuen Informationen zu verarbeiten und einzuordnen. Neben einem netten Kater begrüßte mich am nächsten Morgen auch wieder Kynes, er scheint sich wirklich in mich verschossen zu haben. Wir angelten erfolglos am Hafenbecken, wo mich mein Gönner trotz des Angelverbots nicht in Handschellen legte. Offenbar hat die Garnison endlich diese Morde aufgeklärt – natürlich standen der Totengräber und sein Vetter in keiner Verbindung.

Ich erzählte ihm von meinem Gespräch mit Bonnington und kam auch irgendwie auf meine späte Jugendzeit als Matrose zu sprechen. Unfassbar mit was für jungen Hüpfern ich mich in meiner Freizeit abgab, der Kerl konnte nicht einmal etwas mit der tasperinischen Hungersnot von 1335 anfangen – meine damalige Eintrittskarte in die Silberlegion. Im Nachhinein bin ich stark erleichtert, diese Zeit hinter mich gebracht zu haben.

Aufgrund der nicht vorhandenen Ausbeute vom Angeln setzte ich mich noch in die Taverne und schmökerte in einem übersetzten Taschenbuch der Heiligen Schrift. Eine Schmach, dass ich diesen Schinken noch einmal in die Hände nehmen musste – hat der Prior damit schon gewonnen? Endlich fand ich die Textstelle, die mir aus unerfindlichen Gründen keine Ruhe gab. Nachdem ich meinen Humpen umgestoßen hatte, murmelte ich den Vers 20:16 zerknirscht vor: „Am Ende aber siegt der, der vertraut!“ Dieses verdammte, verdammte Arschloch.

Der Stadtmeister begrüßte mich schmierig, die Post war da. Missmutig blickte ich auf die unterschiedlichsten Schriftstücke, die er mir aushändigte. Ich war verblüfft, hatte ich doch noch eine Antwort bekommen?



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#8
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Kapitel 6

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Der Spion

Schnee. Seit wann zur Hölle schneit es in diesen Breitengeraden? Und es kam in Eimern herunter. Entweder ich bin tatsächlich mit diesem Ort in der Hölle gelandet oder der übermäßige Absinth zeigt jetzt schon seine Nachwirkungen. Die Bewohner taten so, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, diese eingeschworenen Hornochsen. Mir blieb nichts anderes übrig, als mitzuspielen. Bloß nicht auffallen, irgendwann verschwinde ich von diesem verfluchter Fleckchen Erde – für immer.

Die Lichter, der Rauch, der dreckige Schnee ... die Stadt selbst schien an diesem Tag lebendig zu sein. Wie immer hatte ich wenig Anhaltspunkte, aber mir kam endlich etwas entgegen. Der blutige Farbton des Briefumschlages gab mir einen guten Hinweis auf dessen Ursprung: Meine Auftragsgeber. Ich hätte nicht gedacht, dass überhaupt je eine Antwort kommen würde, aber der Beweis für meinen Irrtum lag in meinen Händen. Ich öffnete den roten Brief mit meinem Buttermesser und überflog die Zeilen in meinem Arbeitszimmer.

Sie konnten bestätigen, dass Bonnington die Unwahrheit sprach. Abt Dysmas ist nie zurück nach Zandig beordert worden, geschweige denn dort angekommen. Meine Klienten waren mit den wenigen Schnipseln, die ich aus dem Sumpf dieser Stadt herausfischen, sehr zufrieden gewesen. Sie drängen mich dazu, nicht mehr an der Oberfläche zu kratzen. Irgendwie hegten sie auch Interesse an dem Verschwinden des Erzdekans, gab es eine Verbindung zu meinem ursprünglichen Auftrag?

In der Untergrundtaverne dachte ich über die Briefe nach: Nicht mehr über den Inhalt, sondern was er mir über meine Auftraggeber verriet - was zwischen den Zeilen lag. Die brisanten Informationen über den Verbleib des Abtes werden nicht einfach auf offener Straße aufzutreiben. Hatte diese Gruppierung Kontakt zu den innersten Kirchenkreisen… oder waren sie sogar selbst ein Teil davon? Das Schriftbild war das Gleiche wie vom ersten Exemplar: Eine ruhige und wohlüberlegte Linienführung, aber die Sätze waren unnötig verschachtelt. Immer der gleiche Verfasser, ist es am Ende doch nur ein Einzelgänger? Doch dann müsste er enormen Einfluss oder Reichtum verzeichnen. Wer hat Interesse an der Auflösung dieser Fälle? … es muss einen persönlichen Grund dafür geben.

Heute machte der Kneipenwirt früher dicht, gab wohl wieder einen dieser Faustkämpfe im Hinterzimmer. Das war nicht unbedingt mein Bier, deswegen schleppte ich mich wieder die unzähligen Stufen rauf in meine Besenkammer. Doch etwas stimmte nicht, meine Tür war nicht abgeschlossen. Im Schein meiner Tabakpfeife erspähte ich flüchtige Bewegungen im dunklen Raum, als ich durch den Türspalt blickte. Bevor ich reagieren konnte, wurde ich umgestoßen!

Die verhüllte Gestalt jagte durch die Straßen, ich konnte kaum Schritt halten. Als wir das nördliche Stadttor passierten, schien jemand von der Verfolgung Notiz genommen zu haben. Unser kleiner Wachtmeister Kynes schien Dienst gehabt zu haben und begriff schnell. Scheiße, gab es auf dieser Insel überhaupt einen anderen Gardisten? Gemeinsam verfolgten wir den Unbekannten noch ein gutes Stück in den Sumpf, doch dann verloren wir die Spur in der Nachtschwärze.

Wir kamen langsam wieder zu Atem und der Gesetzeshüter wurde eingeweiht. Als wir schließlich wie zwei gestrandete Fische durch den Morast stampften, kam Kynes plötzlich ein Gedanke. Mit einer frischen Laterne leuchtete er zu einem Baumstumpf, der hohler als die örtlichen Gottesdienste waren. Sollte der Einbrecher darin das Heil in der Flucht gefunden haben? Nicht gerade überzeugt folgte ich der einzigen Lichtquelle in die Tiefen dieses verzweigten Mysteriums.

Leto Kynes wirkte so, als wäre er schon einmal in diesem Gewölbe gewesen. Er bestätigte mir meinen Verdacht auf seine nüchterne Art und Weise: Hier unten sei er vor einigen Wochen nach einem seiner üblichen Fieberträume sehr zerschunden aufgewacht. "Einfach großartig", nuschelte ich ihm zu, nicht gerade positiv aufgelegt. Doch trotz meines Pessimismus sollte der Junge mit seiner Theorie Recht behalten. Hier unten war tatsächlich jemand. Die Einsicht kam zu spät, denn ein metallener Gegenstand zischte an uns herab und erwischte meinen Kollegen an der Stirn.

Die nun blutige Schaufel wurde hektisch zurückgezogen, als Kynes laut aufschrie. In den Augen des Angreifers vernahm ich seine Verwirrung, denn dieser Schlag hätte vermutlich mir gegolten. Doch Fortuna war diesmal auf unserer Seite und wir in der Überzahl. In einem chaotischen Kampf, bei dem unser zäher Wachtmeister das Bewusstsein behielt, konnten wir als Sieger hervortreten.

Der Schurke wurde gefesselt und anschließend an Ort und Stelle vernommen. Was hatte er in meinem Arbeitszimmer gesucht? Handelte er alleine oder wurde er engagiert? Gerade als ich mich endlich am längeren Hebel sah, kam die zerschmetternde Erkenntnis: Unser gefangener Freund war härter zu knacken als die königlichen Schatzkammern von Weidtlandt. Geschicktes Zureden brachte genauso wenig wie die Androhung von Gewalt und schließlich dessen Umsetzung. Wir machten ihm die Folgen seiner Straftaten bewusst, doch es rührte sich nichts in seinem Gesicht. Er schien den Tod nicht zu fürchten, so etwas war mir noch nie untergekommen.

Doch kein Mensch kann nicht … nicht kommunizieren. Ein paar Fehler sind auch diesem Experten unterlaufen. Die wenigen Worte, die er an uns richte, klangen nach einem gebildeten Mann. Kein streunender Tunichtgut, sondern ein Spitzel, der wusste was er tut. Das kleine Lager, dass er sich hier unten eingerichtet hatte, sprach Bände. Den Vorräten nach war er bereits einige Wochen, wenn nicht gar Monate unter uns gewesen. Alles wirkte sehr enthaltsam, er ernährte sich nur von trocken Brot und Wasser. Er kannte unseren Rang, als er auf unsere illegalen Methoden aufmerksam machte.

Doch das Auffälligste war seine Demut, seine Verbundenheit mit einer höheren Macht. Unser Einbrecher war ein streng gläubiger Mann. Ich schluckte schwer, hatte ihn gar der Teufel Bonnington beauftragt? Mehr war nicht mehr aus ihm herauszubekommen, das ist uns bewusst geworden. Doch sein Gefangenenstatus konnte uns noch ein Ass zuspielen. Wir ließen ihn noch einige Tage in den Gewölben schmoren, bis Kynes und ich schließlich darüber berieten.

Es dauerte lange, bis ich unseren gesetzestreuen Wachtmeister von dem Ernst der Lage bewusst machen konnte. Der unbekannte Halunke könnte hinter jeder Gruppierung stecken, aber offensichtlich war, dass er irgendwie mit meinen Ermittlungen zusammenhing. Irgendjemand versuchte, diese zu behindern … und damit die Wahrheit zu verschleiern. Die Antwort auf die vielen Fragen, die sich auch Leto Kynes in vielen schlaflosen Nächten stellte: Was geschah wirklich an dem vergessenen Tag? Das letzte Puzzleteil war ein angeschmolzener Gegenstand im Besitz dieses Mannes, welches sich unwiderlegbar in unsere Sammlung einfügte. Wir setzten unseren Plan am nächsten Morgen um.

Die Falle schnappte zu. Wir hatten vermutet, dass seine Auftraggeber oder Hintermänner irgendwann mit ihm Kontakt aufnehmen müssten, wenn sie von seiner Lage erfuhren. In den kältesten Temperaturen ließen wir ihn zugerichtet in ein volksnahes Verlies des Nordtores stecken. Ich hatte mich über seinem Gefängnis auf die Lauer gelegt, bereit für jede Form von Kontaktaufnahme von außen. Nicht einmal 24 Stunden später hatte ich Gewissheit. Ich atmete die Luft scharf ein, als ich ihre Stimme vernahm.

„Seid … seid ihr es?“ hauchte Amélie de Broussard zu der abgebrochenen Gestalt. Sie war es, die waschechte Protektorin des Solaner-Ordens zu Neu Corethon. Sie schien den Mann tatsächlich zu kennen, in ihrer Stimme lag vor allem Sorge, aber auch etwas Verwirrung. Kurz ärgerte ich mich, denn der aufmerksame Torposten schien die Unterhaltung zu stören - dieser verdammte Vollpfosten. Doch die herrische Protektorin konnte ihn in ihrer bestimmenden Art abwimmeln, Deyn segne ihre Einschüchterungskraft.

Ich erfuhr durch den Stein zwar nicht alle Details, aber eines der wichtigsten Informationen konnte ich aufschnappen. „… nachdem wir zwei Tauben an das Festland entsandt haben, um nach euch zu fragen - Nowfu Deyn.“ Das war sein verdammter Name? Sie hatten jemand beordert, der sich selbst nach dem Herrn benannte? Ich fühlte mich wie in einem absurden Theaterstück, die da draußen als Narren auftretend - nein wie der ganze Zirkus. Ich unterdrückte meinen Raucheratem mit beiden Händen, für eine flüchtige Sekunde hatte ich Schiss, als hätten sie mich gehört. Aber nach dem kleinen Gespräch machten sie sich wieder vom Acker. Glück gehabt.

Doch meine größten Sorgen hatte sich bewahrheitet: Der Orden sabotierte aktiv meine Ermittlungen mit allen Mitteln. Was würden sie mir sonst noch auf den Hals hetzen? Erst brechen sie in mein Arbeitszimmer ein, danach tun sie das Gleiche mit meinen Knochen – und am Ende vergelten sie mir mein Leben. Ironischerweise suchte ich wieder die Person auf, die mich von Tag Eins auf dem Kieker hatte: Leto Kynes. Er tat wie von mir aufgetragen, ich packte meine sieben Sachen zusammen. Jetzt war nur eine Sache zu erledigen gewesen.

Unser guter Nowfu Deyn wurde wieder auf freien Fuß gesetzt, die Kirche hätte wohl ohnehin Druck ausgeübt. Kynes schien gut mit seinem Vorgesetzten gestellt und konnte die Angelegenheit durchwinken. Der Kerl wollte natürlich die Biege machen, nachdem er wohl in der Priorei letzte Befehle erhalten hatte. Das Schiff der Silberlegion setzte öfter mal die Segel, so waren sie es auch, die unseren Spion von dieser Insel brachten. Ich kannte diese Verbrecherbande gut genug, um ihnen mit ein paar Münzen diese Informationen und einen unauffälligen Reiseplatz abzukaufen.

Noch wusste ich nicht, wohin mich meine kleine Verfolgungsjagd bringen sollte. Als wieder Land in Sicht war, war nicht allzu viel Zeit vergangen, wir sind also nicht sehr weit gekommen. Ich erkannte den Knotenpunkt der Westwind-Inseln wieder, die Hauptstadt unter tasperinischer Flagge: Vladsburg. Unser Deyn-Verschnitt stieg mit verstohlenem Blick aus, doch er hatte sofort ein Ziel vor Augen. Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit trat er seinen Weg in das zentrale Postamt an.

Den großen Abstand, den ich zu meinem Einbrecher wählte, wurde mir fast zum Verhängnis. Ich erkannte noch, wie er in den Laden spazierte, als gehörte er ihm. Doch er kam auch nach längerer Wartezeit nicht wieder zur Vordertür heraus. Als es auch mir endlich bewusst wurde, begann ich den Block in großer Eile zu umrunden. Gerade noch rechtzeitig bemerkte ich Nowfu Deyn, einen Hinterausgang nehmend. Die Gasse in der er stand, war leicht erhellt. Der Grund dafür lag in seinen Händen – er verbrannte einen blutroten Umschlag vor meinen Augen. Für einen Moment blieb die Zeit stehen.

Er war es also gewesen, der meine Post abfing. Wie lange ging das wohl nun schon so? Einer der Briefe musste ihm durch die Lappen gegangen sein, daher versuchte er wohl seinen Fehler in meinem Arbeitszimmer geradezubiegen. Weitere Fragen schossen mir schneller durch den Kopf, als ich sie je hätte beantworten können. Für einen kurzen Augenblick hatte ich einen abstrusen Gedanken: Ein doppeltes Spiel. Erhält er möglicherweise Aufträge von der gleichen Gesellschaft? Aber wieso sollten sie uns gegeneinander ausspielen?

Es gab nur eine Möglichkeit, den echten Empfänger dieses Briefes zu ermitteln. Eine heikle Möglichkeit, doch die Zeit war knapp, denn das Feuer arbeitete gegen mich. „Lass die Scheiße fallen, Nowfu!“ stieß ich noch aus, ehe ich mich mit meinem Gewicht gegen den Mann warf. Diesmal hatte ich keine Verstärkung, aber das Überraschungsmoment auf meiner Seite. Die Gasse wurde von lauten Flüchen, den tanzenden Flammen des Briefes und schließlich auch … Blut erfüllt.

Als ich irgendwo in den schmutzigen Ecken der Hafenanlage erwachte, fühlte ich mich erschlagen. Mein Gesicht, meine Kleidung und auch meine Hände waren von dem roten Saft getränkt gewesen. Ich wusste nicht mehr, wie die letzte Nacht zu Ende gegangen war. Meine Dämonen aus Szemäa ließen nicht von mir ab, in meiner Not blätterte ich wieder einmal die Seiten meines Notizbuches durch – die einzige Konstante in meinem Leben. Doch es ließ mich hängen, kein Wort über letzte Nacht. Die Leute sprechen von einem vergessenen Tag in diesem verfluchten Winter 1347. Nur der Herr alleine weiß, wie viele vergessene Tage es wirklich in meinem Leben sind.

Egal was die Konsequenzen dieser unüberlegten Handlung waren, ich musste von diesem Ort erst einmal verschwinden. Der zweite Brief, den ich in Neu Corethon gelesen hatte und wohl nie dort ankommen sollte, gaben mir ein Ziel vor Augen. Meine Auftraggeber sahen eine Verbindung zwischen den Dingen und der unheilvollen Expedition von Erzdekan Michael Bonnington. Ich musste dessen Wurzeln ergründen, der Brief sprach von sogenannten … Zeugen.

Der nächste Kahn brachte mich auf den alten Kontinent zurück. Ich hätte erleichtert sein sollen, die Unbekannten Landen erst einmal hinter mich lassen zu können. Doch nach wie vor blieb das ungute Gefühl im Magen, auch als ich nach vielen Wochen an meinem Ziel ankam. Asmaeth, die Hauptstadt des Vereinigten Königreich Großalbions. Ich konnte die eingebildeten Inselaffen nie leiden, doch ich wusste, hier an neue Antworten kommen zu können.

Ich nahm wieder die Arbeit auf, die ich am besten konnte: Mich exzessiv umhören. Meine Recherchen dauerten mehrere Wochen, doch ich hatte genug Adressen für meine Zwecke zusammenbekommen. An der Corethon-Expedition nahmen an die zwanzig Seelen teil, zurück kamen nur sieben gebrochene Gestalten. Zwei dieser Überlebenden sollen sich immer noch hier in Asmaeth aufhalten, die Ereignisse haben sie wohl nur schwer verdauen können. Als da wären …

… der ehemalige Schiffskapitän, von dem man sich einst Frohsinn und Abenteuerlust nachsagte, jetzt ertrinkt er hoffnungslos im Rum der schäbigsten Hafenkneipen.

… die verarmte Archäologin, eine ehemals stolze Kalifatin, die nun in einem stadtbekannten Bordell die Beine breit machen muss, weil ihr schwerreicher Gönner das Leben lassen musste.

… zusätzlich existiert der in Ruhestand getretene Ermittlungsleiter vom Untersuchungsausschuss, welcher damals dem vermissten Erzdekan nachspüren sollte. Er nahm wohl nicht an der Gesandtschaft teil, die zur Aufklärung des Mysteriums ebenfalls in den Unbekannten Landen verloren ging.

Ich wusste, dass mir nur noch Zeit für eine Adresse blieb, ehe ich das letzte Schiff zurück in die Kolonien nehmen musste. Meine Arbeit in der Gilde der Kartographen war immerhin lange genug aufgeschoben worden. Während ich also darüber nachdachte, wen ich heute noch mit meiner Visage beglückte dürfte, kramte ich den angebrannten Fetzen aus meiner Jackentasche.

Schwer zu sagen, ob es nur noch das Rot des Umschlages oder von eingetrocknetem Blut war. Auch schwer zu sagen, was einst die ganze Nachricht dieses Briefes gewesen sein mochte. Aber zum Teufel, ich werde herausfinden, was der letzte noch lesbare Abschnitt bedeutet: Ich werde euch auf die Schliche kommen, ich werde der „… schlimmsten, grauenhaftesten Tragödie, welcher der Solaner-Orden je erleben musste …“ an die verdammte Wahrheit bringen.




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