Schnee. Seit wann zur Hölle schneit es in diesen Breitengeraden? Und es kam in Eimern herunter. Entweder ich bin tatsächlich mit diesem Ort in der Hölle gelandet oder der übermäßige Absinth zeigt jetzt schon seine Nachwirkungen. Die Bewohner taten so, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, diese eingeschworenen Hornochsen. Mir blieb nichts anderes übrig, als mitzuspielen. Bloß nicht auffallen, irgendwann verschwinde ich von diesem verfluchter Fleckchen Erde – für immer.
Die Lichter, der Rauch, der dreckige Schnee ... die Stadt selbst schien an diesem Tag lebendig zu sein. Wie immer hatte ich wenig Anhaltspunkte, aber mir kam endlich etwas entgegen. Der blutige Farbton des Briefumschlages gab mir einen guten Hinweis auf dessen Ursprung: Meine Auftragsgeber. Ich hätte nicht gedacht, dass überhaupt je eine Antwort kommen würde, aber der Beweis für meinen Irrtum lag in meinen Händen. Ich öffnete den roten Brief mit meinem Buttermesser und überflog die Zeilen in meinem Arbeitszimmer.
Sie konnten bestätigen, dass Bonnington die Unwahrheit sprach. Abt Dysmas ist nie zurück nach Zandig beordert worden, geschweige denn dort angekommen. Meine Klienten waren mit den wenigen Schnipseln, die ich aus dem Sumpf dieser Stadt herausfischen, sehr zufrieden gewesen. Sie drängen mich dazu, nicht mehr an der Oberfläche zu kratzen. Irgendwie hegten sie auch Interesse an dem Verschwinden des Erzdekans, gab es eine Verbindung zu meinem ursprünglichen Auftrag?
In der Untergrundtaverne dachte ich über die Briefe nach: Nicht mehr über den Inhalt, sondern was er mir über meine Auftraggeber verriet - was zwischen den Zeilen lag. Die brisanten Informationen über den Verbleib des Abtes werden nicht einfach auf offener Straße aufzutreiben. Hatte diese Gruppierung Kontakt zu den innersten Kirchenkreisen… oder waren sie sogar selbst ein Teil davon? Das Schriftbild war das Gleiche wie vom ersten Exemplar: Eine ruhige und wohlüberlegte Linienführung, aber die Sätze waren unnötig verschachtelt. Immer der gleiche Verfasser, ist es am Ende doch nur ein Einzelgänger? Doch dann müsste er enormen Einfluss oder Reichtum verzeichnen. Wer hat Interesse an der Auflösung dieser Fälle? … es muss einen persönlichen Grund dafür geben.
Heute machte der Kneipenwirt früher dicht, gab wohl wieder einen dieser Faustkämpfe im Hinterzimmer. Das war nicht unbedingt mein Bier, deswegen schleppte ich mich wieder die unzähligen Stufen rauf in meine Besenkammer. Doch etwas stimmte nicht, meine Tür war nicht abgeschlossen. Im Schein meiner Tabakpfeife erspähte ich flüchtige Bewegungen im dunklen Raum, als ich durch den Türspalt blickte. Bevor ich reagieren konnte, wurde ich umgestoßen!
Die verhüllte Gestalt jagte durch die Straßen, ich konnte kaum Schritt halten. Als wir das nördliche Stadttor passierten, schien jemand von der Verfolgung Notiz genommen zu haben. Unser kleiner Wachtmeister Kynes schien Dienst gehabt zu haben und begriff schnell. Scheiße, gab es auf dieser Insel überhaupt einen anderen Gardisten? Gemeinsam verfolgten wir den Unbekannten noch ein gutes Stück in den Sumpf, doch dann verloren wir die Spur in der Nachtschwärze.
Wir kamen langsam wieder zu Atem und der Gesetzeshüter wurde eingeweiht. Als wir schließlich wie zwei gestrandete Fische durch den Morast stampften, kam Kynes plötzlich ein Gedanke. Mit einer frischen Laterne leuchtete er zu einem Baumstumpf, der hohler als die örtlichen Gottesdienste waren. Sollte der Einbrecher darin das Heil in der Flucht gefunden haben? Nicht gerade überzeugt folgte ich der einzigen Lichtquelle in die Tiefen dieses verzweigten Mysteriums.
Leto Kynes wirkte so, als wäre er schon einmal in diesem Gewölbe gewesen. Er bestätigte mir meinen Verdacht auf seine nüchterne Art und Weise: Hier unten sei er vor einigen Wochen nach einem seiner üblichen Fieberträume sehr zerschunden aufgewacht. "Einfach großartig", nuschelte ich ihm zu, nicht gerade positiv aufgelegt. Doch trotz meines Pessimismus sollte der Junge mit seiner Theorie Recht behalten. Hier unten war tatsächlich jemand. Die Einsicht kam zu spät, denn ein metallener Gegenstand zischte an uns herab und erwischte meinen Kollegen an der Stirn.
Die nun blutige Schaufel wurde hektisch zurückgezogen, als Kynes laut aufschrie. In den Augen des Angreifers vernahm ich seine Verwirrung, denn dieser Schlag hätte vermutlich mir gegolten. Doch Fortuna war diesmal auf unserer Seite und wir in der Überzahl. In einem chaotischen Kampf, bei dem unser zäher Wachtmeister das Bewusstsein behielt, konnten wir als Sieger hervortreten.
Der Schurke wurde gefesselt und anschließend an Ort und Stelle vernommen. Was hatte er in meinem Arbeitszimmer gesucht? Handelte er alleine oder wurde er engagiert? Gerade als ich mich endlich am längeren Hebel sah, kam die zerschmetternde Erkenntnis: Unser gefangener Freund war härter zu knacken als die königlichen Schatzkammern von Weidtlandt. Geschicktes Zureden brachte genauso wenig wie die Androhung von Gewalt und schließlich dessen Umsetzung. Wir machten ihm die Folgen seiner Straftaten bewusst, doch es rührte sich nichts in seinem Gesicht. Er schien den Tod nicht zu fürchten, so etwas war mir noch nie untergekommen.
Doch kein Mensch kann nicht … nicht kommunizieren. Ein paar Fehler sind auch diesem Experten unterlaufen. Die wenigen Worte, die er an uns richte, klangen nach einem gebildeten Mann. Kein streunender Tunichtgut, sondern ein Spitzel, der wusste was er tut. Das kleine Lager, dass er sich hier unten eingerichtet hatte, sprach Bände. Den Vorräten nach war er bereits einige Wochen, wenn nicht gar Monate unter uns gewesen. Alles wirkte sehr enthaltsam, er ernährte sich nur von trocken Brot und Wasser. Er kannte unseren Rang, als er auf unsere illegalen Methoden aufmerksam machte.
Doch das Auffälligste war seine Demut, seine Verbundenheit mit einer höheren Macht. Unser Einbrecher war ein streng gläubiger Mann. Ich schluckte schwer, hatte ihn gar der Teufel Bonnington beauftragt? Mehr war nicht mehr aus ihm herauszubekommen, das ist uns bewusst geworden. Doch sein Gefangenenstatus konnte uns noch ein Ass zuspielen. Wir ließen ihn noch einige Tage in den Gewölben schmoren, bis Kynes und ich schließlich darüber berieten.
Es dauerte lange, bis ich unseren gesetzestreuen Wachtmeister von dem Ernst der Lage bewusst machen konnte. Der unbekannte Halunke könnte hinter jeder Gruppierung stecken, aber offensichtlich war, dass er irgendwie mit meinen Ermittlungen zusammenhing. Irgendjemand versuchte, diese zu behindern … und damit die Wahrheit zu verschleiern. Die Antwort auf die vielen Fragen, die sich auch Leto Kynes in vielen schlaflosen Nächten stellte: Was geschah wirklich an dem vergessenen Tag? Das letzte Puzzleteil war ein angeschmolzener Gegenstand im Besitz dieses Mannes, welches sich unwiderlegbar in unsere Sammlung einfügte. Wir setzten unseren Plan am nächsten Morgen um.
Die Falle schnappte zu. Wir hatten vermutet, dass seine Auftraggeber oder Hintermänner irgendwann mit ihm Kontakt aufnehmen müssten, wenn sie von seiner Lage erfuhren. In den kältesten Temperaturen ließen wir ihn zugerichtet in ein volksnahes Verlies des Nordtores stecken. Ich hatte mich über seinem Gefängnis auf die Lauer gelegt, bereit für jede Form von Kontaktaufnahme von außen. Nicht einmal 24 Stunden später hatte ich Gewissheit. Ich atmete die Luft scharf ein, als ich ihre Stimme vernahm.
„Seid … seid ihr es?“ hauchte Amélie de Broussard zu der abgebrochenen Gestalt. Sie war es, die waschechte Protektorin des Solaner-Ordens zu Neu Corethon. Sie schien den Mann tatsächlich zu kennen, in ihrer Stimme lag vor allem Sorge, aber auch etwas Verwirrung. Kurz ärgerte ich mich, denn der aufmerksame Torposten schien die Unterhaltung zu stören - dieser verdammte Vollpfosten. Doch die herrische Protektorin konnte ihn in ihrer bestimmenden Art abwimmeln, Deyn segne ihre Einschüchterungskraft.
Ich erfuhr durch den Stein zwar nicht alle Details, aber eines der wichtigsten Informationen konnte ich aufschnappen. „… nachdem wir zwei Tauben an das Festland entsandt haben, um nach euch zu fragen - Nowfu Deyn.“ Das war sein verdammter Name? Sie hatten jemand beordert, der sich selbst nach dem Herrn benannte? Ich fühlte mich wie in einem absurden Theaterstück, die da draußen als Narren auftretend - nein wie der ganze Zirkus. Ich unterdrückte meinen Raucheratem mit beiden Händen, für eine flüchtige Sekunde hatte ich Schiss, als hätten sie mich gehört. Aber nach dem kleinen Gespräch machten sie sich wieder vom Acker. Glück gehabt.
Doch meine größten Sorgen hatte sich bewahrheitet: Der Orden sabotierte aktiv meine Ermittlungen mit allen Mitteln. Was würden sie mir sonst noch auf den Hals hetzen? Erst brechen sie in mein Arbeitszimmer ein, danach tun sie das Gleiche mit meinen Knochen – und am Ende vergelten sie mir mein Leben. Ironischerweise suchte ich wieder die Person auf, die mich von Tag Eins auf dem Kieker hatte: Leto Kynes. Er tat wie von mir aufgetragen, ich packte meine sieben Sachen zusammen. Jetzt war nur eine Sache zu erledigen gewesen.
Unser guter Nowfu Deyn wurde wieder auf freien Fuß gesetzt, die Kirche hätte wohl ohnehin Druck ausgeübt. Kynes schien gut mit seinem Vorgesetzten gestellt und konnte die Angelegenheit durchwinken. Der Kerl wollte natürlich die Biege machen, nachdem er wohl in der Priorei letzte Befehle erhalten hatte. Das Schiff der Silberlegion setzte öfter mal die Segel, so waren sie es auch, die unseren Spion von dieser Insel brachten. Ich kannte diese Verbrecherbande gut genug, um ihnen mit ein paar Münzen diese Informationen und einen unauffälligen Reiseplatz abzukaufen.
Noch wusste ich nicht, wohin mich meine kleine Verfolgungsjagd bringen sollte. Als wieder Land in Sicht war, war nicht allzu viel Zeit vergangen, wir sind also nicht sehr weit gekommen. Ich erkannte den Knotenpunkt der Westwind-Inseln wieder, die Hauptstadt unter tasperinischer Flagge: Vladsburg. Unser Deyn-Verschnitt stieg mit verstohlenem Blick aus, doch er hatte sofort ein Ziel vor Augen. Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit trat er seinen Weg in das zentrale Postamt an.
Den großen Abstand, den ich zu meinem Einbrecher wählte, wurde mir fast zum Verhängnis. Ich erkannte noch, wie er in den Laden spazierte, als gehörte er ihm. Doch er kam auch nach längerer Wartezeit nicht wieder zur Vordertür heraus. Als es auch mir endlich bewusst wurde, begann ich den Block in großer Eile zu umrunden. Gerade noch rechtzeitig bemerkte ich Nowfu Deyn, einen Hinterausgang nehmend. Die Gasse in der er stand, war leicht erhellt. Der Grund dafür lag in seinen Händen – er verbrannte einen blutroten Umschlag vor meinen Augen. Für einen Moment blieb die Zeit stehen.
Er war es also gewesen, der meine Post abfing. Wie lange ging das wohl nun schon so? Einer der Briefe musste ihm durch die Lappen gegangen sein, daher versuchte er wohl seinen Fehler in meinem Arbeitszimmer geradezubiegen. Weitere Fragen schossen mir schneller durch den Kopf, als ich sie je hätte beantworten können. Für einen kurzen Augenblick hatte ich einen abstrusen Gedanken: Ein doppeltes Spiel. Erhält er möglicherweise Aufträge von der gleichen Gesellschaft? Aber wieso sollten sie uns gegeneinander ausspielen?
Es gab nur eine Möglichkeit, den echten Empfänger dieses Briefes zu ermitteln. Eine heikle Möglichkeit, doch die Zeit war knapp, denn das Feuer arbeitete gegen mich. „Lass die Scheiße fallen, Nowfu!“ stieß ich noch aus, ehe ich mich mit meinem Gewicht gegen den Mann warf. Diesmal hatte ich keine Verstärkung, aber das Überraschungsmoment auf meiner Seite. Die Gasse wurde von lauten Flüchen, den tanzenden Flammen des Briefes und schließlich auch … Blut erfüllt.
Als ich irgendwo in den schmutzigen Ecken der Hafenanlage erwachte, fühlte ich mich erschlagen. Mein Gesicht, meine Kleidung und auch meine Hände waren von dem roten Saft getränkt gewesen. Ich wusste nicht mehr, wie die letzte Nacht zu Ende gegangen war. Meine Dämonen aus Szemäa ließen nicht von mir ab, in meiner Not blätterte ich wieder einmal die Seiten meines Notizbuches durch – die einzige Konstante in meinem Leben. Doch es ließ mich hängen, kein Wort über letzte Nacht. Die Leute sprechen von einem vergessenen Tag in diesem verfluchten Winter 1347. Nur der Herr alleine weiß, wie viele vergessene Tage es wirklich in meinem Leben sind.
Egal was die Konsequenzen dieser unüberlegten Handlung waren, ich musste von diesem Ort erst einmal verschwinden. Der zweite Brief, den ich in Neu Corethon gelesen hatte und wohl nie dort ankommen sollte, gaben mir ein Ziel vor Augen. Meine Auftraggeber sahen eine Verbindung zwischen den Dingen und der unheilvollen Expedition von Erzdekan Michael Bonnington. Ich musste dessen Wurzeln ergründen, der Brief sprach von sogenannten … Zeugen.
Der nächste Kahn brachte mich auf den alten Kontinent zurück. Ich hätte erleichtert sein sollen, die Unbekannten Landen erst einmal hinter mich lassen zu können. Doch nach wie vor blieb das ungute Gefühl im Magen, auch als ich nach vielen Wochen an meinem Ziel ankam. Asmaeth, die Hauptstadt des Vereinigten Königreich Großalbions. Ich konnte die eingebildeten Inselaffen nie leiden, doch ich wusste, hier an neue Antworten kommen zu können.
Ich nahm wieder die Arbeit auf, die ich am besten konnte: Mich exzessiv umhören. Meine Recherchen dauerten mehrere Wochen, doch ich hatte genug Adressen für meine Zwecke zusammenbekommen. An der Corethon-Expedition nahmen an die zwanzig Seelen teil, zurück kamen nur sieben gebrochene Gestalten. Zwei dieser Überlebenden sollen sich immer noch hier in Asmaeth aufhalten, die Ereignisse haben sie wohl nur schwer verdauen können. Als da wären …
… der ehemalige Schiffskapitän, von dem man sich einst Frohsinn und Abenteuerlust nachsagte, jetzt ertrinkt er hoffnungslos im Rum der schäbigsten Hafenkneipen.
… die verarmte Archäologin, eine ehemals stolze Kalifatin, die nun in einem stadtbekannten Bordell die Beine breit machen muss, weil ihr schwerreicher Gönner das Leben lassen musste.
… zusätzlich existiert der in Ruhestand getretene Ermittlungsleiter vom Untersuchungsausschuss, welcher damals dem vermissten Erzdekan nachspüren sollte. Er nahm wohl nicht an der Gesandtschaft teil, die zur Aufklärung des Mysteriums ebenfalls in den Unbekannten Landen verloren ging.
Ich wusste, dass mir nur noch Zeit für eine Adresse blieb, ehe ich das letzte Schiff zurück in die Kolonien nehmen musste. Meine Arbeit in der Gilde der Kartographen war immerhin lange genug aufgeschoben worden. Während ich also darüber nachdachte, wen ich heute noch mit meiner Visage beglückte dürfte, kramte ich den angebrannten Fetzen aus meiner Jackentasche.
Schwer zu sagen, ob es nur noch das Rot des Umschlages oder von eingetrocknetem Blut war. Auch schwer zu sagen, was einst die ganze Nachricht dieses Briefes gewesen sein mochte. Aber zum Teufel, ich werde herausfinden, was der letzte noch lesbare Abschnitt bedeutet: Ich werde euch auf die Schliche kommen, ich werde der „… schlimmsten, grauenhaftesten Tragödie, welcher der Solaner-Orden je erleben musste …“ an die verdammte Wahrheit bringen.
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