Wer wirklich dachte, dass die letzten Kapitel bereits mit Schrecken, grausamen Taten und den schlimmsten Anblicken der menschlichen Rasse gezeichnet war, der liegt leider falsch. In den letzten Tagen zeichneten sich die schlimmsten Sünden ab. Unsere schlimmsten Sünden, die wir gemeinsam durchleben mussten. Und erneut haben wir uns alle einem Verbrechen schuldig gemacht, für das wir unser Leben weiter als ewige Sühne Deyn Cador widmen müssen. Und dürfen.
Nach unserer mehrtägigen Rast sahen Franz und Raphael schon deutlich besser aus, die Farbe kehrte in ihre Gesichter zurück. Die Narben an unseren Leibern werden bleiben, doch kam zumindest die Kraft zurück - Deyn sei wahrlich gedankt. Wir rüsteten uns also und folgten dem Söldner Godefrey zur Felsenkirche, aus der er in den letzten Tagen zahlreiche Schätze aus Gold und Edelstein getragen hatte.
Die Höhle war ein großes Felsenlabyrinth, teilweise bestehend aus natürlichen Höhlen, welche eindeutig weiter ausgebaut und tiefer in den Stein geschlagen wurden. Der fast kreisrunde Raum voller Malereien, eine Messehalle, die einem Kirchenschiff glich und einige alte, leere Räume waren völlig verlassen und heruntergekommen. Zweifelsfrei war niemand seit langer Zeit hier gewesen, sodass sich die Spinnen wohl fühlten.
Auf dem Steinaltar stand eine hölzerne Statue der Martha, Frau des Jakobus, mit einem riesigen blutroten Dolch im Rücken. Es schien zunächst so, als würde sie hier angebetet werden, doch gehe ich fest davon aus, dass eher der Mord Marthas an Jakobus verurteilt und verächtet werden soll.
Zuletzt kamen wir dann an einen Gang des Grauens. Schädel der Toten waren als Wände in Lehm eingebaut, menschliche Knochen lagen uns zu Füßen und stapelten sich höher, als manche Wand in der Heimat. Ein gegrabener Gang führte durch die Überreste von hunderten oder tausenden Menschen. Deyn möge ihren Seelen allen gnädig und gerecht sein.
Geplagt von diesem unmenschlichen Anblick machten wir uns also auf durch diesen Gang des Todes, ich durfte vorangehen und mich durch Knochen und Gebeine quetschen, bis ein enger Felseingang sich vor uns auftat. Franz passte auf den mehreren Hundert Metern gerade so hindurch, drohte gar stecken zu bleiben. Doch wir schafften es am Ende alle gemeinsam durch die Öffnung zu krabbeln. Und da standen wir wieder in einer riesigen Höhle. Vor uns stand ein massives Schwert aus reinem Fels, das in einer Wassergrube stand. Aus dem Loch kam ein manisches Lachen, eindeutig von Godefrey, welcher dort seine Schätze zusammensammelte.
Nach einiger Diskussion und einigen Blicken in der tiefschwarzen Höhle, fiel dem Prioren auf, dass die Wände aus einem Gemisch aus menschlichen Fäkalien und Blut beschmiert sind. Entsetzt sahen wir uns ein wenig weiter um und fanden die Überreste einer einzelnen Leiche und dann begann das laute Scheppern bereits. Was erst klang, wie aufeinander schlagende Steine, verstummte bald glücklicherweise wieder. Doch gingen kurz daraufhin die ersten Fackeln aus, wir hatten nur noch wenige Lichtquellen bei uns.
Es machte einen erneuten Knall, Steine prasselten hinab und … der einzige Rückweg war vollends verschüttet.
Die Dunkelheit setzte schon bald ein. Die Situation war erneut aussichtslos - der Weg versperrt, die Nahrung fast aufgebraucht und es war stockfinster. Wir wussten nicht so recht weiter, vielleicht hatten wir auch schon aufgegeben. Ich hörte ein Wimmern aus manchen Ecken, gar bereits ein Weinen. Auch ich verfiel in Panik, merkte, wie mein Herzschlag stärker und fester wurde. War es die Angst bald zu sterben? Oder die Gewissheit versagt zu haben und Schuld am Tod all meiner Brüder und Schwestern zu sein? Ich weiß es nach wie vor nicht. Ich habe meine Augen geschlossen. Völlig verloren in Gedanken, am Boden dieser finsteren Höhle sitzend, verlor ich das Gefühl für Zeit und Raum. Selbst an meine Gebete, die ich seit meiner Kindheit spreche, konnte ich mich nicht mehr recht erinnern.
Und dann .. als ich meine Augen für einen Moment wieder öffnete, spürte ich die warme Luft um mich herum. Ich saß in einem Zelt, am hellichten Tag. Es war Patrien, meine Heimat, ganz eindeutig.
Ich trug die Ordenskluft meines Mikaelaner Ordens und ging aus dem Zelt, wo Bohemund de Corastella wartete und zwei Anwärtern in den Wirren des Bürgerkrieges Anweisungen gab. Ich bekam die Verantwortung für Beide, wir sollten Medizin in ein Kriegslager transportieren.
Doch .. wie es in einem Bürgerkrieg kommt, elendige Fallicer Separatisten haben uns überfallen. Die beiden .. ich .. ich bin für ihren Tod verantwortlich. Erstarrt vor Schock. Ich habe mich daran erinnert, ich hatte es immer ausgeblendet. Doch starben sie in meinen Armen. Wegen meiner eigenen Unfähigkeit. Meiner Sünde. Ich und nur ich ließ sie elendig in meinen Armen verbluten. Deyn stehe mir bei.
Danach wurde alles wieder so schnell schwarz und ich fand mich in einem weiteren Szenario wieder. Ich war in Zandig und saß auf einem Holzpfeiler, mein Name war Hanna. Neben mir waren Sebastian und Friedrich Ziethen. Mein elendiges Leben auf der Straße führte erneut zu solchem Hunger, das ich Friedrich um Essen anbettelte. Er lief los und kam auch bald mit Brot und Zimtstangen zurück! Frisches, warmes Brot! Es war so köstlich, dass ich mir fast einen ganzen Laib in den Magen stopfte! Doch danach fühlte ich mich so schlecht, musste mich übergeben. Alles wurde rot vor meinen Augen, es tat so unendlich weh.
Ich hörte nur noch den Bäcker Jürgen lachen und von Gift sprechen… Hatte er uns vergiftet? Hat Friedrich uns das vergiftete Essen mit Absicht gegeben? Es war so schmerzhaft. In der Lache aus Blut und Erbrochenem liegend, schloss ich wieder meine Augen.
Und fand mich wieder in einer nostrischen Uniform, irgendwo in einer Stadt, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Wir waren in einem Kerker, als Gruppe von Wachmännern und sollten eine Gefangene finden. Martha, die Gattin des Jakobus, sie war aus ihrer Haft entwichen. Wir liefen im Labyrinth der Gitter, Zellen und Gefangenen entlang bis wir an die in Dunkelheit gehüllte Oberfläche kamen. Wir sahen sie laufen, etwas verfolgte Martha - etwas außer uns. So schnell unsere Beine uns tragen wollten, liefen wir ihr hinterher, bis wir an einem Kornfeld ankamen. Eine monströse Kreatur, wie wir sie zuvor in Szemää sahen, zeriss Marthas leblosen Körper und nährte sich von ihrem Fleisch. Dunkelheit.
Als nächstes fand ich mich wieder in einem Frauenkörper, auf Neu-Corethon. Raphael stand vor mir und redete wild auf mich ein, wie er den Mordfall gelöst hätte. Nicht Tarvin Ackermann, sondern Korra Kylar hätte einen fürchterlichen Mord begangen. Doch war es für mich so klar, so überzeugend! Ackermann hat gestanden, Korra muss unschuldig sein! Doch auch seine hervorragende Beweisführung macht Sinn, es ist wie ein Puzzle, in dem sich die Teile zusammenfügen. Aber .. es ist besser, wenn Ackermann am Galgen hängt. Und er gesteht. Ich .. ich habe mir die Seiten aus seinem Notizbuch gerissen, auf das wir auf ewig darüber schweigen. Und das der Prior auf ewig die Schuld an dieser falschen Verurteilung und Hinrichtung trägt.
Und er es ganz genau weiß. Ist auch Raphael Bonnington damit ein Mörder? Hat er genug getan, um diese abscheuliche Hinrichtung eines Unschuldigen zu verhindern? Ist sein Seelenheil dadurch befleckt?
Ich hatte gar nicht so viel Zeit zum Denken, denn alsbald stand ich plötzlich in der Priorei. Franz und der Prior wollen ein Unschuldsritual durchführen, um einer Magierin ihre Taten zu beweisen. Franz, er handelt so nachlässig. Legt seine heilige Klinge auf den Tisch, damit diese Frau ihr Blut darauf träufeln kann. Sie griff jedoch die Klinge und rammte sie Raphael in die Brust. Voller Schmerz krümmte er sich, brach zusammen und starb. Franz war untätig, entsetzt und schockiert zugleich. Ich fand mich im Körper Salvyros wieder, lief und sprang und richtete diese Hexe von Magierin.
Aber Franz! Er hat Raphael einfach sterben lassen. Seine Schuld unvergessen und unvergolten. Aber deswegen hat er die größte Offenbarung und Erbarmung erfahren dürfen, die der Menschheit jemals zugute kam. Deyn hat sich Franziskus Maximilian Gerber angenommen. Sein Leben ist die Vergeltung für seine törichte Tat. Und dafür hat er unser aller Beistand und tiefsten Respekt verdient.
Aber nicht genug der schlimmen Einblicke. Wir waren wieder in Nostrien, wieder als Soldaten im Tempel des Königs. Vor uns war der Boden in Blut und Leichen getränkt. Ein wahres Massaker. Die Stadt stand unter unseren Füßen in Flammen, diejenigen, die noch nicht durch Klingen gefallen waren, wurden durch die lodernden Feuer bei lebendigem Leibe verbrannt. Vor uns - manisch lachend - der König mit einem roten Dolch.
König Thantalos, der seinen eigenen Sohn ermordet hat, führte das Ritual des kochenden Blutes durch. Er ermordete sein eigenes Volk, um seinen Sohn wiederzubekommen. Vor ihm erhob sich ein Dämon oder ein noch mächtigeres Wesen namens Taggoob. Eine abscheuliche Kreatur, die nur aus den schlimmsten Albträumen der Menschen entspringen kann. Dieses Monstrum befahl ihm, dass er mit dem Dolch in seinen Händen so viele Sünder töten möge, bis dieser sich weiß färbe.
Und dies tat König Thantalos. Auch über sein Leben hinaus wurden Völker, Menschengruppen und religiöse Anhänger mit fanatischem Eifer gejagt und auf der Stelle abgeschlachtet. Nur um dem Dolch zu dienen.
Alles vor mir färbte sich erneut schwarz. Ich konnte dieses Mal die gesamte Szene nur von außen begutachten und sah zunächst ein zu vertrautes Gesicht - Lady McBonnington aus Weidtland. Sie befand sich im Gemacht des Königs, wollte ihn gar mit ihren Tollkirschen vergiften. Doch stattdessen griff sie gierig zu einem Kissen, drückte dieses dem alten Mann so lange auf das Gesicht, bis er starb und legte ihm die Kirschen anschließend in den Mund. Eiligst versuchte sie zu fliehen und auf das Dach zu klettern, doch rissen Lord McBonnington und sein ewiger Widersacher McGerbsholm die Tür auf. Entsetzt sahen sie die Mörderin, die dies alles nur für ihre Familie getan hatte.
Die Gesichter verschwammen jedoch, aus der Mörderin wurde Jule, aus McBonnington Raphael und aus McGerbsholm Franz. Friedrich lag tot im Bett. Beide Edelmänner zogen wutentbrannt unsere Klingen und brachten sich gegenseitig so brutal um, bis nur noch Jule alleine im Raum stand. Sie nahm ihr eigenes Kind, welches sich auch plötzlich im Raum befand und .. und .. begann es zu verzehren. Lüstern biss sie das Fleisch des schreienden Kindes Stück für Stück aus seinem Leib, bis seine Seele für immer erloschen sein sollte.
Und dann wurde wieder alles dunkel. Für eine lange Zeit. In dieser Zeit muss ich entweder zu viel oder gar nichts gedacht haben. Ich bekam nicht mit, was passiert ist. Nur, dass ich wieder in einem Zelt aufwachte. In einem Zelt vor Aironia, mit der kleinen Anna vor uns allen. Ich sehe meine Kameraden und sie alle haben diese schrecklichen gelben Augen.
Bischof Berengar betrat das Zelt. Auch seine Augen funkelten im teuflischen Gelb. Er gab zu, dass er und viele weitere seiner Männer befallen sind. Sie würden sich mit kleinen Stücken gebratener Leichenteile von ihrer unsäglichen und verbotenen Gier abhalten und nach einem Ausweg suchen. Angeblich soll es den roten Dolch, das Objekt durch das all diese Qual entstanden ist, in Aironia geben. Und die einzigen, die die dunkle Kammer der Sünden überlebt haben, könnten es holen.
Ich fühle mich so .. so machtlos und gleichzeitig so mächtig. Mein Körper ist rein, mein Blut wieder gesünder, aber noch immer grün. Ich fühle mich stärker. Wir alle tun das, selbst Raphael hat viele Muskeln dazubekommen. Wir müssen mit dieser Sünde leben, um gegen sie anzukommen. Wir alle haben eine große Sünde begangen, denn wir alle wussten um die Schuld, wo sich der arme Ritter Godefrey nun befand. Und um dieses Unheil für immer zu besiegen und zu bannen, damit niemand sonst mehr davon Schaden erleidet, müssen wir nun mit aller Kraft kämpfen.
Die Schlacht beginnt.
Möge Deyn uns beistehen. Möge Solerben unser Schild sein. Und Mikael meine Klinge leiten.
Amélie da Broussard